Die weiße Möwe

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Sie fühlte sich, als wäre sie ins Meer gesprungen. Mit einem Schlag war sie bis auf die Haut nass. Einer der überhängenden Äste peitschte sie von hinten zu Boden, sie rappelte sich auf, aber ein anderer kam ihr bereits entgegen wie eine wilde fliegende Schlange. Mino duckte sich und wurde doch wieder zu Boden geschleudert. Sie war jetzt hellwach und begriff, dass nicht nur ihr Bruder in Gefahr war, sondern auch sie selbst. Wenn ein umstürzender Baum sie traf, war das das Ende.

Geduckt rannte sie los. Die Baumstämme waren überall, sie taumelte dagegen, stürzte, stand auf und wurde vom Sturm ein paar Meter weiter getrieben, bevor sie erneut fiel. Es war so finster, dass sie nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Wenn ein Blitz die Dunkelheit für einen kurzen Moment erhellte, sah sie nichts außer den Bäumen, die direkt vor ihr waren; dahinter war nichts als eine undurchdringliche Wand aus Regen und Schwärze.

Mino hätte nicht sagen können, wie viele Stunden sie gegen den Sturm ankämpfte, um ein Zuhause zu erreichen, das etwa eine Viertelstunde weit entfernt lag. Sie war mittlerweile so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie hatte völlig die Orientierung verloren. Jeden Moment musste der nächste Blitz das Dorf enthüllen, das Sicherheit und Geborgenheit verhieß, und tat es doch nicht: nur einen Baum nach dem anderen, schwarze Schatten im blendenden Licht. Irgendwo im Gestrüpp verlor sie ihre Schuhe. Ein herabkrachender Ast streifte ihre Schulter. Und dann waren auf einmal keine Bäume mehr da. Sie kroch über das Gras, blinzelnd, und wartete darauf, den Lichtschein im Fenster zu sehen. Bestimmt hatte Binajatja die Lampe angezündet, damit sie nach Hause fand, bestimmt hatte der Sturm auch die Mutter geweckt und nun wartete sie auf ihre ungehorsame Tochter mit heißem Tee und einer warmen Decke. Gleich würde Mino ihr Gesicht am Fenster erblicken, neben der Lampe, während sie Ausschau hielt...

Heiße Tränen liefen über ihr Gesicht, während sie sich durch den Sturm kämpfte. Lexan... Blitz... Was nützte es, es nach Hause zu schaffen, in die Wärme und die Sicherheit, in den Schrecken, der zu ihr kommen würde, sobald sie sicher und trocken in einem Sessel saß... Er kam immer, der Schrecken, dieses fürchterliche Gefühl. Das Schiff ist fort... Blitz ist weg... Und ich bin hier. Warum habe ich das getan? Warum bin ich hier, warum? Es war mein Schicksal, dem Ruf des Meeres zu folgen, aber ich bin hier. Ich bin immer noch hier... Und ich will nicht hier sein. Ich will nicht dieses Mädchen sein, das aufs Meer hinausblickt und das Schiff nicht mehr sieht... Ich will nicht dieses Mädchen sein, das sich mit seinem Bruder gestritten hat, statt ihn bis ans Ende der Welt zu begleiten. Ich will nicht die Mino sein, die Blitz festgehalten hat, als er gehen wollte. Ich will nicht mehr ich sein, ich will es nicht mehr!

Mino nahm den Sturm, der über sie herfiel, wie eine Strafe hin. Sie hielt den Kopf gesenkt, während sie über das Gras kroch, doch als in rascher Folge mehrere Blitze aufleuchteten, sah sie hoch und öffnete die schmerzenden Augen.

Vor ihr lag das Meer, sturmgepeitscht, Wellen, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Sie war oben am Steilhang und vor ihr lag die wütende See, zerfurcht von der Wut des Orkans. Sie hatte sich nicht nur verirrt, sondern ausgerechnet die Stelle erreicht, an der sie den Elementen völlig schutzlos ausgeliefert war. Dies war der Ort, den Blitz so geliebt hatte, aber jedes Mal, wenn Mino hier gestanden hatte, hier am Abgrund, hatte sie ein Schaudern erfasst, als sie in die Tiefe hinabblickte, wo die Wellen sich am Felsen brachen.

Mino presste ihre Hände an die Ohren, um sie vor dem Lärm zu schützen, den Wind und Wasser gemeinsam veranstalteten. Dies war nicht mehr das Lied, das Lexan in die Ferne gelockt hatte, nicht der Ruf, der auch an ihr gezerrt hatte, sondern die Entfesselung von Gewalten, in denen ihre menschlichen Gefühle untergingen. Alles ging unter – ihre Sehnsüchte und Schuldgefühle, ihre Träume und Hoffnungen, als der Sturm sie erfasste und mit aller Macht vorwärtstrieb. Sie richtete sich auf, um ihm die Stirn zu bieten, doch das war das Schlimmste, was sie hatte tun können. Triumphierend warf sich der Orkan über sie und schleuderte sie über den Rand der Steilklippe ins Meer.

Binajatja raffte die Röcke, während sie über die umgestürzten Bäume stieg. Aber sie hatte keinen Blick für die Zerstörung, die der Sturm in den Gärten angerichtet hatte. Am Waldrand lagen Äste und ganze Baumstämme übereinander; sie ergriff El Jatis Hand, als er sie zu einem riesigen entwurzelten Baum führte, zwischen dessen Zweigen zersplitterte Bretter lagen.

»Hier war ihre Hütte«, sagte er.

»Und du meinst, dass Mino hier geschlafen hat?« Sie hatte gewusst, dass ihre Tochter die Nächte außer Haus verbrachte, aber sie hatte angenommen, dass sie zu Jati und Alika gegangen war. Nun bereute sie, dass sie Mino nie danach gefragt hatte. »Hier, in diesem Bretterverschlag?«

»Mino hat keinen Freund«, sagte El Jati verlegen. »Ich meine, sie hat schon Freunde, aber da ist niemand, der in sie verliebt ist. Die einzigen Jungen, mit denen sie zu tun hat, sind Bajad und Blitz. Ich glaube, Bajad hat Gefühle für sie, aber Mino hat leider nur Augen für Blitz gehabt.«

»Aber Blitz nicht für sie«, murmelte Binajatja, »jedenfalls nicht so, wie sie sich das gewünscht hat. Das weiß ich doch. Aber – aber sie ist nicht hier.«

»Nein«, bestätigte El Jati. »Sie ist rechtzeitig hier herausgekommen, so viel steht fest.«

»Woher weißt du von dieser Hütte?«, fragte sie und schaute ihn an, als könnte sie ihn dadurch zwingen, etwas preiszugeben, was ihr weiterhalf. »Woher willst du wissen, dass sie Mino und Blitz gehörte? Und dass sie nicht doch ein Pärchen gewesen sind?«

»Ich bin Blitz einige Male hierher gefolgt«, gab er zu. »Denk darüber, was du willst, aber ich wollte wissen, wo er sich herumtrieb.«

Binajatja schwieg dazu.

El Jati wischte sich den Schweiß von der Stirn. Schon seit Stunden durchkämmten er und die anderen Arbeiter den Wald; eine nicht ungefährliche Aufgabe, denn immer noch stürzten Bäume um und fielen Äste herunter. Binajatja hatte sie nicht darum gebeten, aber sobald bekannt wurde, dass Mino in dieser Nacht nicht nach Hause gekommen war, hatten sie sich alle auf die Suche gemacht.

Alika kletterte über die Stämme und kam auf Binajatja zu, in der Hand trug sie etwas.

»Ich war bei Liravahs Haus«, sagte sie. »Ich hatte die Hoffnung, dass Mino sich vielleicht dorthin gerettet hat.« Das Haus, in dem Jußaits alte Großmutter lebte, die ehemalige Lehrerin der Kinder, lag mitten im Wald. Mehrere umgestürzte Bäume hatten ihren Gartenzaun beschädigt und ein großer Ast war auf das Dach gefallen und hatte das halbe Haus zum Einstürzen gebracht, aber der alten Dame war nichts passiert.

»Und?«, fragte Binajatja begierig. »War sie dort?«

»Leider nicht.« Alika schüttelte den Kopf. »Aber ich habe das hier gefunden.«

»Das ist ihr Schuh«, rief Binajatja aus. Sie riss Alika den drecküberkrusteten Schuh aus der Hand. »Wo hast du ihn gefunden?«

»Am Waldrand. Binajatja, hör mir zu. Das heißt noch gar nichts. Es muss nicht bedeuten, dass ...«

»Wo?«, unterbrach Minos Mutter sie, diese sonst so schöne, gefasste Frau mit dem strengen blonden Zopf, die heute völlig aufgelöst durch den Schlamm watete. Sie hielt den Schuh, als wäre er ein Schatz. »Wo am Waldrand?«

»Am Steilhang.«

Binajatja starrte Minos Schuh an, als könnte dieser ihr Antwort auf alle Fragen geben. »Das kann nicht sein«, sagte sie schließlich. »Bei diesem Sturm wäre sie niemals dort hingegangen. Sie ist nicht dumm. Sie ist verantwortungsbewusst und gehorsam, sie würde nie ... Du musst dich irren, Alika. Vielleicht hat Mino ihren Schuh dort verloren und ist wieder zurück in den Wald gegangen. Wir werden sie hier im Wald finden. Vielleicht ist sie eingeschlafen ...«

»Ja, vielleicht«, sagte Alika leise.

Sie wechselte einen traurigen Blick mit El Jati.

»Es war sehr dunkel«, sagte er vorsichtig.

»Na und?«, rief Binajatja. »Mino würde sich auf der Insel auch im Dunkeln zurechtfinden. Sie kennt Arima wie unser eigenes Haus, sie kann sich nicht verirren. Das ist einfach unmöglich. Wir müssen weitersuchen. Bestimmt wurde sie von einem schweren Ast eingeklemmt und wartet auf Hilfe. Vielleicht ... vielleicht schläft sie auch nur und weiß nichts davon, dass wir sie suchen. Sie schläft und wird sich wundern, dass wir uns Sorgen gemacht haben. Vielleicht ist sie auch schon zu Hause. Ich muss nachsehen, ob sie inzwischen angekommen ist!«

Sie drehte sich um, immer noch den Schuh in der Hand, kletterte hastig über den Baum, stürzte, rappelte sich auf und rannte mit wehendem Rock zurück zum Dorf.

»Hast du nicht gesagt, Rin würde uns alle bewahren?«, fragte El Jati leise. »Glaubst du das immer noch, Alika?« In seiner Stimme war nichts Bitteres, Anklagendes, nur eine unendliche Traurigkeit.

»Eines Tages müssen wir alle über die Brücke gehen«, sagte sie. Sie bückte sich und zog eine bunte Decke zwischen Blättern und Zweigen hervor.

»Es ist noch zu früh«, wandte er ein, heiser, fast stimmlos, während er zusah, wie Alika die Decke in ihrem Arm hielt, zärtlich, als wäre sie ein Kind.

Sie blinzelte den Schleier vor ihren Augen fort. »Es heißt, junge Menschen gingen leichter über die Brücke als ältere. Vielleicht ist es schlimmer, nach einem langen Leben ins Meer der Tränen zu stürzen, als in diesem Meer hier zu ertrinken und den Weg über die Brücke zu finden.«

»Glaubst du das wirklich?«

Sie faltete die Decke und legte sie sorgfältig über den Stamm, als wäre es der Baum, den sie zudeckte, dieser alte, sturmerprobte Baum, der dieses eine Mal nicht standgehalten hatte.

 

»Komm«, sagte El Jati. Er fragte nicht noch einmal, er sagte nur: »Komm«, und nahm sie bei der Hand und ging mit ihr nach Hause. Bevor sie durch die Tür trat, blieb Alika stehen und schaute auf ihren Garten, in dem gestern noch ein Meer von Blumen geblüht hatte, und in dem heute nur noch abgerissene Stängel in die Höhe ragten und geknickte Blütenköpfe schlaff nach unten hingen, schlammbespritzt.

»Als du mich aus Salien mitgenommen hast, als ich mit dir hierher kam«, sagte sie, »dachte ich, dass von allen Orten dieser Erde die Glücklichen Inseln Rinland am ähnlichsten sind. Ich sah die Gärten und dachte, hier müsste das Glück wohnen. Ich habe mich geirrt.«

3. Das Glück des Kaisers

D A SM Ä D C H E NS T A N Dreglos unter der ausladenden Krone der alten Kastanie. Röte überflutete den Himmel im Westen, ging in zartes Gold über und verblasste dann so langsam, dass man dabei zuschauen konnte, wie nach und nach die Schatten heraufzogen und den Park in Dunkelheit hüllten.

Der Mann auf dem Weg beachtete das Schauspiel nicht. Er hatte nur Augen für das Mädchen, aber als der Abend sich über sie senkte, seufzte er und wandte sich ab.

»Sie sieht aus wie Vinja«, sagte er leise.

»Nein, Herr.« Sein Begleiter schüttelte den Kopf. »Nein, Herr, das tut sie nicht. Die Ähnlichkeit ist so gering, dass sie keinem außer Euch auffällt.« Gemeinsam gingen sie weiter. Jede Handbreit Boden war ihnen so vertraut, dass sie auch im Dunkeln ihren Weg sicher fanden, zwischen den grünen Sträuchern hindurch und durch die Rosen, unter hohen Bäumen aus allen Königreichen Deret-Aifs hierher gepflanzt, in den Mittelpunkt des Kaiserreichs. Das Schloss leuchtete aus vielen Fenstern, aber der Kaiser dachte nicht daran umzukehren.

Rahmon seufzte. Wie lange machte er das hier schon mit? Sechzehn Jahre, siebzehn? Wenn er nichts tat, würde der Kaiser auch noch die nächsten zwanzig Jahre die halbe Nacht durch den Park wandern, ruhelos, unermüdlich, und in jedem Mädchen etwas von Vinja erblicken.

»Mein Kaiser«, fing er an und zögerte doch wieder, denn so vertraut sie sich auch waren, vor Kanunas Traurigkeit fürchtete er sich mehr als vor Kanunas Zorn. Aber er hatte keine Wahl. Die Einwohner von Kirifas, nein, von ganz Aifa, verloren langsam ihr Verständnis für die lange Trauerzeit des Kaisers. Sie wollten ihren Herrscher zurück, tatkräftig, entschlossen, weise und gerecht – nicht alles war er zu jeder Zeit gewesen, aber im Rückblick schien selbst eine falsche Entscheidung besser als gar keine, besser als ein Mann, der stundenlang umherwanderte, ohne mit jemandem zu sprechen außer mit Rahmon, seinem Ratgeber.

»Was ist?«, fragte Kanuna. »Du kannst offen sprechen.«

»Ihr solltet wieder heiraten.«

Jetzt war es heraus. Lange, lange hatte er sich mit diesem Satz getragen und sich vorgestellt, ihn auszusprechen würde wie eine Geburt sein, qualvoll und mühsam. Er hatte es gesagt und fühlte sich unendlich erleichtert. Wenigstens konnte er nun den Fürsten gegenübertreten und wahrheitsgemäß behaupten, dass sie darüber gesprochen hatten.

»Warum?«, fragte Kanuna. »Vinja ist tot und es gibt nie wieder eine wie sie.«

»Das ist wahr, Herr. Aber – nun, Ihr habt gesagt, ich könne offen reden. Zwei Dinge. Zum einen glauben die Fürsten, es würde Euch gut tun. Alle glauben es, vor allem die Leute aus dem Volk. Ihr könnt die Meinung des Volkes nicht einfach abtun. Und auch ich denke so.« Er wünschte sich, er hätte das Gesicht des Kaisers sehen können, während er sprach. Aber er hatte sich diesen Abend ausgesucht, in der Hoffnung, dass es ihnen beiden in der schützenden Dunkelheit der warmen Nacht leichter fallen würde, über dieses heikle Thema zu reden.

»Und das Zweite?«, wollte Kanuna wissen, ohne zu verraten, was er von Rahmons erstem Argument hielt.

»Ihr braucht einen Erben. Die Fürsten hoffen, dass eine zweite Frau Euch einen Erben schenken würde.«

»Ich habe bereits einen Erben«, knurrte er.

»Herr, mit Verlaub, aber Eure beiden Söhne sind ...« Er suchte nach Worten, denn auf einmal schienen die Bezeichnungen für die Zwillinge, die ihm auf der Zunge lagen, zu hart, um sie dem Vater gegenüber zu äußern. Rumtreiber, Tunichtgute? »... nicht gerade zuverlässig und verantwortungsbewusst. Und vor allem, sie sind nicht da. Niemand weiß, wo sie sich überhaupt aufhalten. Es gäbe so viel für sie zu lernen! Ich muss Euch sagen, keiner der Fürsten rechnet noch damit, dass einer der beiden fähig ist, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Einfach zu verschwinden! Und die Erinnerung an die Zeit, als sie noch hier waren, ist für keinen von uns besonders angenehm. Ach, Herr! Ihr könntet noch ein Kind bekommen, das von Anfang an sorgfältig erzogen wird, das alles lernt, was es über Deret-Aif zu wissen gibt. Ein Sohn, der Euer würdevoller Nachfolger sein könnte. Oder eine Tochter, klug und gütig. Meint Ihr nicht?«

»Es geht nicht«, sagte Kanuna langsam. »Es kann keinen anderen Erben geben.«

»Wie, es kann nicht? Ich weiß, das Recht des ältesten Sohnes ist ein sehr altes Recht, aber in einem Fall wie diesem ... Rin sei Dank seid Ihr noch jung und stark und gesund. Ihr könnt das Gesetz ändern, nach dem der älteste Sohn die Krone erbt. Ihr könntet noch zu Lebzeiten festlegen, wer Euch auf den Thron folgen darf. Ihr könnt die Zwillinge enterben, weil sie sich unwürdig betragen haben. Niemand würde Euch das übelnehmen oder sich auch nur darüber wundern. Im Gegenteil, es schafft Verwirrung und Unverständnis, dass Ihr das nicht schon längst getan habt.«

»Es kann keinen anderen Erben geben«, wiederholte Kanuna. »Ich habe ihn bereits gesegnet.«

»Was?«, entfuhr es Rahmon. »Wieso? Oh bei Rin, wieso das? Ihr habt ihm Euren Segen gegeben?«

Kanuna antwortete nicht. Er nickte in die Dunkelheit.

»Wem von ihnen? Doch nicht Zukata, oder? Hat Keta Euch vielleicht überredet, ihn zu bevorzugen? Aber sagt nicht, dass Ihr Zukata gesegnet habt!«

»Doch«, sagte Kanuna. »Er ist mein ältester Sohn und ich habe ihm den Segen gegeben.«

»Richtig? Ich meine, mit allem, was dazugehört?«

»Er brachte mir eine Schale Meerwasser und ich habe sie über sein Haupt gegossen und meine Hände auf sein Haar gelegt und die Worte gesprochen – so wie mein Vater es damals mit mir gemacht hat.«

Rahmon war noch immer fassungslos. »Warum um alles in der Welt habt Ihr das getan? Warum so früh? Ihr seid noch so jung!«

»So jung bin ich auch nicht mehr«, lächelte Kanuna.

»Für einen Menschen vielleicht ... Aber Ihr seid ein Riese, Herr. Ihr werdet nicht nur mich, sondern auch meine Kinder überleben. Ihr hättet warten können! Jetzt verstehe ich endlich, warum Ihr so wenig Kraft habt.«

»Ich habe wenig Kraft?« In Kanunas Stimme lag nicht nur Verwunderung, sondern der erste Anflug von Ärger. Ein Wutausbruch seines Kaisers schien Rahmon ein geringer Preis dafür, die Lebensgeister seines Herrn wieder zu wecken.

»Ich habe mich immer gefragt, warum Ihr es nicht vermögt, Euch selbst zu heilen. Herr, es ist achtzehn Jahre her, dass Eure Gemahlin den Unfall hatte. Auch Menschen trauern, wisst Ihr. Auch ich habe meine Frau bereits verloren. Aber wir kommen wieder auf die Beine, wenn wir genug geweint haben. Es kann ein Jahr dauern, zwei, vielleicht auch fünf. Manchmal geschieht es, dass Menschen sich aufgeben und unheilbar erkranken, nur durch die Macht ihrer Tränen, aber Ihr mit Eurer Fähigkeit zu heilen ...«

»Du solltest langsam wissen, dass es so nicht geht. Meine heilenden Hände haben mir selbst noch nie geholfen. Und sie konnten auch nicht Vinja helfen, als sie sterbend in meinen Armen lag. Ich war machtlos, Rahmon. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich erfahren, dass ich nichts ausrichten konnte, nichts. Es nützte mir nichts, ein Riese zu sein, all meine Macht über die Menschen und meine Gabe zu heilen war wie nutzloses Wasser in meinen Händen ... Als Zukata zu mir kam und mich um den Segen bat, wie konnte ich Vinjas Sohn verweigern, was ich Vinja nicht hatte geben können?«

»Er hat also darum gebeten?« Rahmon war überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, dass er Wert auf so etwas wie den Segen gelegt hat. Trotzdem, Herr, das hättet Ihr nicht tun dürfen. Selbst wenn Ihr geglaubt habt, Ihr würdet ihr nachsterben.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich glaubte, sterben zu müssen.«

»Aber das muss es wohl gewesen sein. Ausgerechnet Zukata! Er ist Euer Sohn und Ihr liebt ihn natürlich, aber das hätte Euch niemals so blind machen dürfen!«

»Rahmon.« Kanunas Stimme klang gereizt. »Es reicht.«

»Ich lasse Euch jetzt allein«, sagte Rahmon. »Mir reicht es ebenfalls. Ich bin nur ein schwacher Mensch und brauche meinen Schlaf. Aber eines sage ich Euch, mein Kaiser, als Euer Ratgeber und Freund: Ihr solltet dennoch heiraten. Euer Herz ist groß genug, um Vinja für immer einen Platz darin zu geben und Euch noch einmal zu verlieben. Und so wertvoll Euer Segen auch sein mag, Zukata ist fort und kommt vielleicht niemals zurück. Vielleicht ist er längst tot, was bei dem Leben, das ich ihm zutraue, nicht einmal so unwahrscheinlich ist. Dann könnt Ihr den Segen mit gutem Gewissen noch einmal vergeben. Ihr braucht eine neue Frau und einen neuen Sohn, bevor Ihr mit Eurer ersten Familie auch das Vertrauen der Fürsten und des Volkes verliert.«

Mit schnellen Schritten marschierte er über den mit grobem Sand bestreuten Weg zurück zum Schloss. Kanuna war nicht gewalttätig, aber es war eines, sich darauf zu verlassen, und etwas völlig anderes, einen Riesen herauszufordern, der zwei Kopf größer war als man selbst und doppelt so breit.

Kanuna blieb lange stehen und hörte das Blut in seinen Adern rauschen, wie eine Erinnerung an das wütende Meer, über das seine Vorfahren gekommen waren. Er tastete nach der Kastanie, nach ihrer glatten Rinde, er spürte die unerschütterliche Kraft des Baumes. Hier hatte das Mädchen gestanden, hier hatte auch Vinja oft Halt gemacht, wenn sie gemeinsam durch den Park spaziert waren. Sie hatte den Baum umarmt und gelacht.

Was tust du da?

Ich küsse die Riesen. Sie lachte. Ich liebe es, alle Riesen in meiner Umgebung zu küssen ... So hatte sie auch die Zwillinge geherzt und umarmt und geküsst und mit ihnen gelacht. Vollkommenes Glück ...

El Schattik – damals nannte ihn noch niemand Kanuna, den Löwen – war erst dreißig Jahre alt gewesen, als sein Vater, Kaiser Rhan, beschlossen hatte, ihn zu verheiraten. »Du wirst jung sein, wenn du an die Macht kommst«, sagte er zu ihm. Keinem Kaiser wurden mehr als fünfzig Jahre Herrschaft zugestanden, denn niemand sollte Reilavin, den ersten Riesenkaiser von Aifa, jemals übertrumpfen, und Rhans fünf Jahrzehnte waren bald voll. »Ich möchte, dass du dann schon eine Frau an deiner Seite hast.« Um die Einheit der Königreiche Aifa und Diret zu bestärken, hatte er Vinja, die älteste Tochter des Königs von Diret, ausgesucht.

El Schattik wollte noch nicht heiraten, aber er gehorchte. Es wäre ihm lieb gewesen, wenn man sie zu ihm gebracht hätte und er nichts hätte tun müssen, aber es war üblich, die Braut in ihrem Elternhaus aufzusuchen, und selbst wenn an der Verbindung nicht mehr zu rütteln war, musste sie persönlich gefragt werden. Rhan schickte ihn nach Diret, und so kam er an den Hof des Königs und sah Vinja. Sie war neunzehn und das schien ihm sehr jung. Damit er ihr die Frage stellen konnte, ließ man sie beide allein, und er fühlte sich unbehaglicher als je zuvor in seinem Leben.

»Ich soll Euch fragen, ob Ihr mich heiraten wollt.«

Im Rückblick kam er sich selbst unglaublich jung vor. Später erst ließ er sich den Bart wachsen und später erst nahm er die eindrucksvolle Haltung an, die einem Kaiser und einem Mann seiner Größe angemessen war. In jenem Jahr war er nur jung und weizenblond, und er versteckte seine großen Hände hinter seinem Rücken. Er war nie schüchtern gewesen, aber selten war ihm etwas peinlicher vorgekommen, als mit diesem fremden Mädchen über das Heiraten zu reden.

»Na los«, sagte Vinja, »dann fragt.« Sie strich sich die braunen Locken aus der Stirn und sah ihn auffordernd an. Herausfordernd. Er sah, dass ihre Augen zweifarbig waren, grün und hellbraun, und auf einmal war sie kein Name mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit einer tiefen, fast rauen Stimme. Man hatte sie in ein mit Spitze und Samt verziertes grünes Kleid gesteckt und mit Perlen und Goldketten behängt, aber sie wippte mit dem Fuß, als hätte sie es eilig, endlich wieder nach draußen zu kommen, wo sie hingehörte. Er horchte auf seine Gefühle und wusste selbst nicht, was er denken und fühlen sollte. Sie kam ihm jetzt schon unverschämter vor als jede andere Prinzessin und jedes Edelfräulein, denen er je begegnet war, und er wunderte sich, dass sein Vater ausgerechnet dieses freche Ding als zukünftige Kaiserin des Reiches ausgesucht hatte.

 

»Wollt Ihr mich heiraten?«

»Ich muss ja«, seufzte sie und verzog den Mund. Er hatte viele wunderhübsche Frauen getroffen oder solche, die ihre mangelnde Schönheit kunstvoll mit Kleidung und Schminke aufzubereiten wussten. Bei Vinja hätte er nicht sagen können, ob sie hübsch war. Er wusste nur, dass unter all dem Schmuck, dem Gold und den Edelsteinen und den gedrehten Locken ein Mädchen steckte, das diese Dinge trug wie eine Verkleidung. Er war Schmeicheleien gewöhnt und hatte erwartet, dass sich die auserwählte Braut ihm voller Dankbarkeit und Ehrerbietung zu Füßen warf, und dass sie das nicht tat, erstaunte ihn. Als Riese war er es gewohnt, dass die Mädchen beeindruckt zu ihm aufblickten, aber Vinja musterte ihn kritisch. Er begann sich zu fragen, was er tun musste, um sie zu beeindrucken.

»Wollt Ihr denn nicht selbst?«, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht«, meinte sie schließlich und ließ ihren Blick über ihn wandern, als wäre er ein Pferd auf dem Markt, das ihr zu teuer war. »Ich kenne Euch doch nicht. Ihr seid sehr groß, aber das war bei einem Riesen ja auch zu erwarten. Ihr werdet Kaiser sein – das ist natürlich ein großer Vorteil. Aber ob ich Wert darauf lege?«

Er konnte nicht umhin, sich über ihre Worte zu ärgern. Bei Rin, wie sollte er es mit diesem frechen Weib aushalten? Er wollte sich nicht zum Narren machen lassen.

»Mich hat man auch nicht gefragt«, gab er zurück. »Ich hätte mir sonst eine schöne, stille, sanfte Braut ausgesucht. Niemanden, der so vorlaut ist wie Ihr. Wahrscheinlich«, fügte er noch hinzu.

Sie war nicht verletzt, sie lachte. »Vielleicht wird es ja weniger schlimm als erwartet«, meinte sie.

Ihre Zeit war um; die Türen wurden aufgestoßen, um das verlobte Paar zu beglückwünschen, und sie schüttelten Hände und sahen sich nicht mehr an. Erst als er hinausbegleitet wurde, warf er noch einen langen Blick zurück, wie sie da stand in ihrem grünen Kleid mit den Schleifen und Bändern, der Spitze und den Perlen. Sie zwinkerte ihm zu, eine Geste, die nur ihnen beiden gehörte, und sein Herz machte einen Sprung.

Er reiste ab, um alles für die Hochzeit vorzubereiten, und einige Wochen später kam sie nach und wurde seine Frau.

Zukata war zu ihm gekommen, in den ersten Tagen, als die Trauer noch so frisch war wie eine offene Wunde. Im Zimmer war es dunkel. Er zog die schweren Samtvorhänge zu, um das Licht auszusperren und den Park dort draußen, die Bäume, die Vinja geliebt hatte, und die Rosen, den Himmel und die Wolken. Es sind Schiffe, hatte sie gerne gesagt. Kannst du es sehen? Sie segeln über das blaue Himmelsmeer und der Wind bläst sie nach Rinland. Das ist eine Gewitterfront aus dem Westen, sagte er. Denk doch einmal nach, bevor du sprichst.

Nun gut. Sie war nicht beleidigt. Dann kommen sie eben aus Rinland. Eine ganze Flotte, grau und schwer, und bringen uns seinen Segen.

Er hatte ihr nicht mehr widersprochen. Es war meistens zwecklos, Vinja zu widersprechen.

Zukatas Stimme war nur ein Flüstern im Dunkel. »Vater? Ich bin es, Zukata. Ich will, dass du mich segnest.«

Er antwortete nicht. Schweigen hatte sich über ihn gesenkt wie ein Vorhang aus Samt. Wortlos saß er in seinem Sessel, stundenlang, und wartete darauf, dass der Schmerz verging.

»Ich habe hier eine Schale mit Meerwasser. Ich habe an alles gedacht. Gib mir deinen Segen.«

Ein einziges Wort quälte sich durch die Schichten seines Schweigens. »Warum?«

»Die Gabe wird dann auch in meinen Händen sein, Vater. Ich will die heilenden Hände. Wir hätten Mutter retten können, wenn du mir den Segen früher gegeben hättest. Wir beide zusammen hätten es vermocht.«

»Nein«, sagte er, »sie war zu schwer verletzt. Ihr Fuß war im Steigbügel hängen geblieben ...« Er konnte nicht weiterreden. Zukata legte seine Hände um die Schale.

»Vielleicht doch. Vielleicht doch, Vater. In mir ist so eine Dunkelheit, Vater, als müsste ich immerzu weinen ... Leg mir die Hände auf, bitte.«

Er hatte keine Kraft gehabt, sich zu weigern. Dort im Dunkeln legte er seinem Sohn die Hände auf das vom Meerwasser befeuchtete Haar und segnete ihn im Namen Rins und seiner Tränen, und während er sprach, fielen seine eigenen salzigen Tränen in das blonde Haar seines Kindes und mischten sich mit dem Wasser, und er fühlte sich zugleich schwach und mächtig, heilend und untröstlich, voller Liebe und unfähig, das Leben weiterzuleben, ohne Vinja. Es tat gut, die Worte zu sprechen, die, während sie aus seinem Mund kamen, nicht seine eigenen Worte waren, sondern die seines Vaters und seiner Großvaters und all der anderen Riesenkönige vor ihnen, und sie füllten den finsteren Raum mit Wärme und Zuversicht. Es war, als wäre Rin selbst bei ihnen in diesem Augenblick, seine göttliche Gegenwart, die sie erfüllte und Vater und Sohn umgab und in seinen Händen lebte – in seinen und nun auch in Zukatas Händen.

»Das hatte ich nicht erwartet«, flüsterte der Junge und sprang auf und stürzte hinaus.

Kanuna saß noch eine Weile da und atmete, dann stand er auf und zog die Vorhänge zurück.

»Ich bin einverstanden«, sagte er zu Rahmon. Er erwartete nicht, dass es für ihn noch einmal Glück geben könnte, aber niemals, nicht einmal in seinen schlimmsten Stunden, hatte er je vergessen, dass er die Verantwortung für das Kaiserreich trug. »Wenn sich alle besser fühlen, wenn ich eine Frau habe, dann soll es eben so sein.« Schon einmal war er überrascht worden, als er sich den Wünschen anderer fügte, und auch wenn es keine zweite Vinja gab, würden wenigstens die vorwurfsvollen Blicke seiner Ratgeber und Edelleute aufhören. Und die mitleidigen. Er konnte es nicht ertragen, wenn Rahmon so mitleidig und verständnisvoll war und sich mehr Gedanken um sein Glück machte als er selbst.

Und sie hatten recht – er brauchte einen Erben. Rahmon hatte ihm nicht unter die Nase gerieben, was für ein Gerücht die Runde machte – dass Zukata wieder in Deret-Aif war, als Anführer einer Räuberbande. Es war nicht das erste Mal, dass er dergleichen zu hören bekam. Auch damals, vor sechzehn Jahren, als er verschwunden war, hatten den Kaiser ähnliche Geschichten erreicht, von einem riesenhaften blonden Mann, der die Küstenländer unsicher machte. Jahrelang war es ruhig um ihn gewesen, doch falls er tatsächlich zurück kam, hatten es die Fürsten umso eiliger, einen anderen Erben im Schloss zu wissen, einen Prinzen, dem sie vertrauensvoll dienen konnten. Auch wenn Zukata den Segen hatte, konnte ein Kaiser keinen Piraten und Räuber zu seinem Erben ausrufen. Von Keta erreichten ihn ebenfalls hin und wieder seltsame Gerüchte – er sei beim Ziehenden Volk, den Zintas, gesehen worden, in den Wäldern und auf Jahrmärkten ... Keta war leider kein Ersatz für Zukata, auch wenn er selbst das lange gehofft hatte, denn Keta war seinem Herzen näher als sein Ältester; seine Auflehnung war nie so laut und gewalttätig gewesen, sondern als der Stillere der beiden hatte er ohne viel Aufhebens das getan, was er wollte. Es war merkwürdig, dachte er manchmal, dass die Zwillinge gerade das von Vinja geerbt hatten: die Unfähigkeit, sich ihrem Rang entsprechend zu benehmen, diesen Freiheitsdrang, der alle Konventionen sprengte – und von ihm die Stärke, nicht nur von dieser Freiheit zu träumen, sondern sie tatsächlich gegen alle Widerstände zu erkämpfen und auszuleben.

Rahmon nickte. Falls er überrascht war, zeigte er es nicht. »Ja, Herr. Das ist sehr gut. Falls ich Euch beraten darf, wen ich empfehlen würde ...«