Die weiße Möwe

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»Wenn ich nur das tun würde, was El Jati mir erlaubt ...« Er stockte, kniff die Augen zusammen und musterte Minos Gesicht. »Was ist?«

Mino sagte nichts, Ärger und Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu.

»Komm, trink auch ein Glas. Auf meinen Abschied. Darauf, dass wir Rinland finden, die wahre Glückliche Insel. Auf unsere Freundschaft!«

Er reichte Mino das Glas. Goldgelber Wein schimmerte darin. Mino schnupperte daran; der Duft der Obstplantagen stieg ihr entgegen – Pfirsiche, reif und köstlich, die Süße und Kraft der Sonne.

»Du darfst doch keinen Wein trinken«, sagte sie.

»Bald wird El Jati mir nichts mehr verbieten. Komm, lass uns trinken.«

Mino wollte sagen: Und auch Lexan erlaubt nicht, dass jemand auf sein Schiff kommt, der getrunken hat. Aber sie sagte es nicht. Sie nippte an ihrem Glas, sie dachte: Das ist der Geschmack der Glücklichen Inseln, das ist unsere Heimat. Wir werden sie nicht eintauschen gegen den kalten, nassen Tod auf dem Meer, gegen Sturm und Einsamkeit.

»Wir wollten zusammen in die Wälder, weißt du noch? Ins Kaiserreich. All die Abenteuer, die wir uns ausgemalt haben ...«

Je länger sie Blitz davon abhalten konnte, durch diese Tür zu gehen, umso besser. Sie hoffte nur, dass Alika El Jati auch wirklich herholte.

»Das alles ist nichts im Vergleich zu diesem Abenteuer«, sagte Blitz knapp. »Es gibt nun mal kein Ziel, das mit Rinland vergleichbar wäre.«

Er hatte es jetzt auf einmal eilig. Er klopfte Mino auf die Schulter, bückte sich dann zu seinen beiden prall gefüllten Rucksäcken und sagte: »Mach die Tür auf. Lexan hat gesagt, er wird nicht warten.«

Mino rührte sich nicht von der Stelle. »El Jati und Alika brauchen dich hier«, sagte sie.

»Geh zur Seite.« Blitz klang erstaunt, aber jetzt schien es ihm langsam zu dämmern, was Mino vorhatte. »Ich sagte, geh zur Seite.«

»Nein.«

Sie maßen sich mit Blicken. Mino wusste, dass sie nicht wirklich eine Chance gegen ihn hatte. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Chance. Blitz konnte kämpfen wie ein Wilder. Niemand auf der Insel legte sich gerne mit Blitz an, nicht einmal die Brüder seiner wechselnden Freundinnen, denn wenn er kämpfte, tat er es wie ein Besessener. Alika hatte ihm beigebracht, sich mit einem Messer zu verteidigen, und hatte es später bedauert – wenn er ein Messer in der Hand hatte, war es für alle besser, sich von ihm fernzuhalten, selbst wenn sie doppelt so groß gewesen wären wie er. Blitz war recht klein für seine siebzehn Jahre, aber kräftig, und obwohl der Sommer auf dem Schiff auch ihre Muskeln gestählt hatte, kam Mino bei weitem nicht an ihn heran. Alika hatte ihr ein paar Kniffe im Ringen beigebracht, damit sie sich verteidigen konnte, wenn sie jemals angegriffen werden sollte, aber körperliche Auseinandersetzungen lagen ihr nicht. Mino verabscheute es, hart angefasst zu werden; schon als Kind war sie jedes Mal in Tränen ausgebrochen, wenn andere Kinder mit ihr raufen wollten. Aber sie musste Blitz ja auch nicht besiegen. Sie musste ihn nur so lange aufhalten, bis El Jati kam.

»Mino, jetzt lass mich vorbei.«

Sie wappnete sich innerlich gegen den Angriff. Es wird sein, als müsste ich einen wildgewordenen Hund abwehren, dachte sie. Es ist zu seinem eigenen Besten. Nur deshalb tue ich es, nur aus diesem Grund.

»Wir wollten nach Deret-Aif«, sagte sie leise. »In die Wälder. Wir wollten nach Kirifas und den Kaiser sehen. Wir wollten ... willst du das alles denn nicht mehr?«

Blitz hatte beschlossen, keine Zeit mehr zu verlieren. Er stellte sein Gepäck ab, aber er dachte gar nicht daran, sie anzugreifen. Fassungslos blickte er in das Gesicht seiner Freundin.

»Was soll das, Mino? Es ist meine Entscheidung, nicht deine.«

Als sie nicht antwortete, trat Blitz näher vor sie hin, aber Mino stieß ihn heftig mit beiden Händen zurück. Sie wollte den Kampf, jetzt sofort, sie wollte nichts mehr als das. Als er aufstehen wollte, warf sie sich über ihn, um ihn daran zu hindern.

»Du dumme Kuh!«, schrie Blitz, während sie am Boden rangen. »Du wirst die Abfahrt verpassen! Du wirst nicht dabei sein, wenn Lexan fährt!«

»Und du auch nicht«, ächzte Mino.

Bis zu diesem Augenblick hatte sie geglaubt, dass es ihr nichts ausmachte, das Schiff nicht abfahren zu sehen. Sie und Lexan waren im Streit auseinandergegangen und sie hatte keinen Bedarf, sich noch einmal zu verabschieden. Aber während sie Blitz auf den Fußboden zwang und seine Hände abwehrte, wollte sie gleichzeitig dort sein, dort im Hafen, und die Weiße Möwe festhalten. Sie wollte sich den Anker um den Leib binden und ihren Bruder dazu zwingen, bei ihr zu bleiben. »Du bleibst hier«, schrie sie, während sie zuschlug, »du bleibst hier, hast du verstanden, du bleibst!«

Dann spürte sie Blitz’ Faust in ihrem Gesicht und der Schmerz benebelte sie. Sie fiel zurück und schlug mit dem Hinterkopf gegen ein Tischbein. Benommen sah sie zu, wie Blitz sich aufrappelte und zu seinen Taschen wankte. Er stieß die Tür mit dem Fuß auf.

»Du darfst nicht gehen!«

Hatte sie das gesagt? Mino hatte nicht gemerkt, wie die Worte über ihre Lippen gekommen waren.

Es war El Jati. Er stand in der Tür, hinter sich seine Frau Alika, die mit großen erschrockenen Augen ins Zimmer starrte.

»Lasst mich endlich vorbei!«, schrie Blitz.

Nun war es nicht mehr Minos Kampf. El Jati hatte sich noch nie davor gescheut, seinen kleinen Bruder mit Gewalt zu erziehen; gegen ihn hatte Blitz keine Chance. Er wusste es und versuchte es dennoch, während Alika sich heraushielt und nur zuschaute. Sie kam nicht einmal zu Mino, um ihr zu helfen. Sie schaute nur zu, wie die Brüder kämpften – nein, wie El Jati Blitz verprügelte und wie dieser sich verzweifelt wehrte. Das war kein Kampf mehr, das war die Maßregelung eines ungezogenen Kindes. Erst als es schließlich vorbei war und El Jati seinen Bruder in den Keller gesperrt hatte, wo sie ihn toben und schreien hörten, kam Alika zu ihr.

»Du blutest«, sagte sie. »Brauchst du etwas?« Ihre Stimme klang kühl, und in dem Bewusstsein, dass sie Alikas Verachtung verdiente, stand Mino auf, hielt sich den Ärmel an die blutende Lippe und ging hinaus.

Das Schiff hatte schon abgelegt. Sie hatte erwartet, dass es nicht mehr zu sehen sein würde, aber anscheinend hatte Lexan doch so lange gewartet, wie er konnte. Aber Blitz war nicht gekommen. Und sie, Lexans einzige Schwester, Jußaits und Bajads Freundin, war nicht da gewesen, um zu winken, um ihnen alles Gute zu wünschen. Vielleicht hätte Bajad ihr einen Abschiedskuss gegeben und nur wegen Blitz war es nicht dazu gekommen. Alles wegen Blitz...

Ein kleiner weißer Fleck, dort hinten am Horizont. Eine weiße Möwe auf ihrem Flug nach Rinland.

Mino drehte sich um und sah ihre Mutter Binajatja den Pfad zwischen den Dünen hinabkommen. Sie war groß und blond, manchmal hoheitsvoll wie eine Königin, Herrin der Gärten und der Bäume auf dieser Insel, doch manchmal, aber diese Seite ließ sie ihre Kinder selten sehen, traurig und verzagt und zu schwach, um auch nur einen Tag durchzustehen. Sie hatte Re nie verziehen, dass er losgezogen war, um seinen eigenen Tod zu finden.

»Nun sind nur noch wir beide da«, sagte sie und legte ihren Arm um Minos Schulter. »Nur noch wir beide.«

Das Schiff war jetzt schon so klein, dass Mino nicht wusste, ob es nicht nur eine Sinnestäuschung war. Ein weißer Punkt, wo Meer und Himmel sich trafen...

»Es ist fort«, sagte Binajatja. »Lass uns nach Hause gehen.«

Der helle Fleck war noch dort. Nichts als eine Spiegelung, ein Funkeln der Sonne auf den Wellen.

Blitz hatte aufgehört zu weinen. Er hatte aufgehört, alles zu zerschlagen, was ihm in die Hände geriet. Zwischen den Scherben der Gläser hockte er und atmete den Duft der eingelegten Pfirsiche ein, die Alika den ganzen Sommer über gesammelt und eingezuckert hatte. Die guten Früchte gingen in den Verkauf ins Kaiserreich Deret-Aif, aber angeschlagenes oder von Wespen, Vögeln und Siebenschläfern angefressenes Obst durften die Pflückerinnen behalten. Da Alika sich um die Blumen am Haus der Herrin kümmerte, nahm sie das Recht für sich in Anspruch, auch schöne, duftende, unversehrte Früchte in einem kleinen Korb mit nach Hause zu tragen, obwohl ihr Binajatja nie ausdrücklich die Erlaubnis dazu gegeben hatte. So hatte sie Tag für Tag etwas mitgebracht, und was sie nicht aßen, legte sie ein: Aprikosen in Weißwein, Pfirsiche in Zucker oder in Essig, Apfelmus, Marmelade jeder Art. Sie hatte es ihm erzählt, als Blitz von der Bootsfahrt mit der Weißen Möwe zurückgekehrt war; nicht, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, dass alle arbeiteten und sie, die doch längst keine Kinder mehr waren, sich ein schönes Leben machten. Weil er süßes Obst so liebte, hatte sie ihm erzählt, wie viele Gläser sie zusammenbekommen hatte. Sie verwöhnte ihn gerne; noch hatten sie und El Jati keine Kinder, und obwohl Blitz gar nicht so viel jünger war als sie, behandelte sie ihn manchmal, als wäre er ihr Sohn. Mein kleiner Bruder, sagte sie zu ihm. Es hatte ihn nicht gestört, denn zugleich hatte sie respektiert, dass er erwachsen geworden war, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er längst seine eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Es war El Jati, der ihn so kurz hielt, El Jati, der glaubte, er dürfte über sein Leben bestimmen, als wäre er sieben und nicht siebzehn.

Er saß in der Ernte eines herrlichen Sommers, und wenn er sich bewegte, hörte er die Scherben knirschen. Er konnte nicht sehen, ob die klebrige Flüssigkeit an seinen Händen Blut war oder der Saft der Pfirsiche. Vorsichtig wischte er sich über sein Gesicht.

Es hatte eine Zeit gegeben, da war er häufig durch die Luke hinuntergestiegen und hatte sich hier unten verkrochen. Immer wenn ein heftiges Gewitter über die Insel tobte, hatte er sich in diesem Loch hier versteckt, wo er die grellen Blitze nicht sah. Die erderschütternde Wucht des Donners konnte er nicht so leicht aussperren, und so hatte er hier gehockt und gewimmert, bis Alika kam und ein Glas Pfirsiche für ihn öffnete oder eine Flasche süßen Apfelmost. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und ihm erklärt, warum er sich nicht fürchten musste, er, dieser Junge, der sich sonst vor nichts scheute. Und er hatte ihr zugehört und sich gewünscht, seine Mutter wäre noch am Leben.

 

»Blitz?« Er hatte darauf gehofft, dass es Alika sein würde, die die Falltür öffnete. Von allen Menschen dieser Welt war El Jati im Moment derjenige, den er am meisten hasste. Abgesehen vielleicht von Mino.

Er blinzelte in die Helligkeit hinauf und wusste, dass sie sich von oben die Bescherung ansah, die er angerichtet hatte. Aber sie sagte nichts dazu, sie seufzte nicht einmal.

»Du kannst raufkommen.«

»Ist er weg?«, fragte Blitz vorsichtshalber.

»Ja. Ja, er ist zurück in die Plantage gegangen. Er wird mit Sicherheit bis zur Dunkelheit fortbleiben.«

Vorsichtig stieg Blitz die schmale Holzstiege hoch. Ihm tat alles weh, aber er konnte jetzt sehen, dass er nicht, wie befürchtet, von oben bis unten voller Blut war. Alika musterte ihn kritisch, als er aus der Öffnung kletterte.

»Du brauchst ein Bad.«

»Nein«, sagte er leise, »das ist ganz bestimmt nicht das, was ich am dringendsten brauche.«

Sie sah ihn an und nickte.

Er ging über den glatten Holzfußboden zur Tür und hinterließ dabei klebrige Spuren. Dass er ihr Arbeit machte, tat ihm leid, aber es ließ sich nicht ändern. Er wollte kein Bad. Er wollte sich nicht in einer Schüssel waschen und sich umziehen und dann tun, als wäre nie etwas gewesen.

»Wohin gehst du?«, fragte Alika, als er seine Hand auf die Türklinke legte.

»Ans Meer«, antwortete Blitz kurz.

»Das Schiff hat schon abgelegt.«

Als wenn er das nicht gewusst hätte; lange genug hatten sie ihn dort unten sitzen lassen. Und doch gab es ihm einen Stich, es aus ihrem Mund zu hören, als hätte die Hoffnung ihn bis zuletzt nicht verlassen. Bis jetzt hatte er insgeheim geglaubt, es könnte vielleicht doch noch im Hafen ankern und auf ihn warten.

Er nickte, aber er öffnete trotzdem die Tür.

»Blitz...«

»Ich weiß, wie ich aussehe«, sagte er schroffer als nötig. »Aber ich gehe durch die Dünen, niemand wird mich sehen. Ich will nur ein wenig schwimmen. Oder ist das jetzt vielleicht auch schon verboten?«

Alika kam ihm nach. »Dein Bruder hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet, Blitz.«

»Wahrscheinlich? Genau das ist es doch, Alika! Du kannst nicht wissen, ob wir es nicht doch geschafft hätten, Rinland zu finden. Was ist mit Lexan? Bis vor kurzem habt ihr noch alle gesagt, was für ein begabter junger Mann er doch sei... Und Bajad, er hat schon auf vielen Schiffen Erfahrungen gesammelt, er kennt sich doch aus mit dem Meer. Sogar Jußait durfte fahren und sie ist jünger als ich!«

»Ihre Großmutter hat sie gehen lassen, aber glücklich ist sie darüber auch nicht gewesen. Jußait hat gedroht, dass sie sonst mit dem erstbesten Mann durchbrennt, und da war Liravah doch lieber, dass sie bei Lexan bleibt, der ist wenigstens grundanständig. Und was Bajad angeht, was glaubst du, warum er auf so vielen verschiedenen Schiffen gedient hat? Weil er immer wieder entlassen wurde, deshalb. Und Lexan – natürlich ist er begabt und wir alle hätten gerne gesehen, dass er Binajatjas Plantagen eines Tages übernimmt. Aber er hat nie verwunden, dass Re ihn als Heranwachsenden verlassen hat. Blitz, sehr viele auf den Inseln haben keinen Vater mehr. Das ist so, wenn die Familien vom Fischfang leben. Aus diesem Grund sind wir doch hierher nach Arima gekommen, damit wir uns hier vom Obstanbau ernähren können. Damit El Jati nicht dasselbe Schicksal ereilt. Oder dich.«

»Dieses Schiff war mein Schicksal«, flüsterte Blitz.

»Auch wenn Lexan sich hier wie ein Prinz aufgeführt hat, hatte er nicht das Recht, dich mitzunehmen. Nicht ohne El Jatis Erlaubnis.« Sie zögerte. »Manchmal«, sagte sie leise, »frage ich mich, wen von uns beiden Jati Ahinehl nennen würde, dich oder mich. Ach Blitz, er liebt dich so sehr...«

Das Wort »Ahinehl« stammte aus der Priestersprache Saliens. Es bedeutete: von allen am meisten Geliebter. Jedes Mal, wenn Alika es aussprach, lagen Sehnsucht und Staunen in ihrer Stimme.

»Unsinn!«, stieß er hervor. Er wollte nichts mehr hören. Er wollte nicht, dass Alika ihren Mann rechtfertigte und auch noch schlecht über seine Freunde sprach, er wollte nicht, dass sie ihn mit ihrer Vernunft und ihrem Mitgefühl überschüttete. Er wollte nichts davon hören, wie sehr El Jati ihn liebte. War Alika nicht eine Kriegerin? Sie hätte für ihn kämpfen können, aber sie hatte es nicht getan. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und schlug den Pfad zu den Dünen ein.

Das Meer war so vertraut und doch kam es ihm an diesem Abend fremd vor, kühl und abweisend. Wochenlang war es das Meer gewesen, das ihn mitnehmen würde nach Rinland, das Meer, das zugleich Herausforderung und Abenteuer war und die Chance auf ein neues Leben, auf einen Aufbruch ohne Rückkehr. Heute war es nichts als Wasser, eine riesige, unfassbare Menge Wasser, salzig wie die Tränen, die er im Keller geweint hatte.

Er streifte seine Schuhe ab und spülte sie in den Wellen aus, dann watete er hinein. Es war kühl hier am Ufer; nur wenige Meter weiter zog der warme Strom vorbei, dem die Glücklichen Inseln ihr warmes Klima verdankten und ihr im ganzen Kaiserreich berühmtes Obst. Auf Neiara wurde auch Wein angebaut, aber hier auf Arima waren es die Früchte, auf denen sein Bruder und seine Schwägerin und viele andere ihr Leben aufgebaut hatten. Wie eine Königin herrschte Binajatja, Minos und Lexans Mutter, über die Insel, waren es doch ihre Vorfahren, die sich zuerst von der Fischerei abgewandt und Gärten angelegt hatten. Die Plantagen ernährten einen großen Teil der Inselbewohner, die übrigen lebten weiterhin vom Fischfang. Einer dieser Fischer war Re gewesen, ihr gewählter Anführer, und Blitz hatte sich erzählen lassen, dass es nie ein größeres Fest auf Arima gegeben hatte als die Hochzeit des Fischerkönigs mit der Apfelkönigin.

Als er spürte, wie ihm das warme Wasser um die Beine spülte, schloss Blitz die Augen. Er wusste genau, bis zu welcher Stelle er sich treiben lassen durfte, bevor er in die gefährliche Strömung geriet, die ihn mit unwiderstehlicher Gewalt an die Klippen schmettern würde. So ruhig war es hier, niemand, der sich hier nicht auskannte, würde die Gefahr von sich aus erkennen. Das Wasser war so warm und beruhigend... Noch ein wenig, noch ein wenig treiben lassen... Blitz öffnete die Augen und sah, dass er schon längst hätte umkehren müssen. Es erschreckte ihn nicht, denn im Grunde hatte er es so gewollt. Er wollte die Gefahr spüren, er wollte den Elementen sein Leben abringen, immer und immer wieder, und dabei lebendig sein, am Rand des Todes. Seit jener Nacht am Steilhang, der er seinen Rufnamen verdankte, hatte er die Herausforderung gesucht – mit dem Wasser, dem Wetter, dem Leben selbst. Damals hatte ihn das Gewitter draußen überrascht. So sehr hatte er immer darauf geachtet, in der Nähe des Hauses zu sein, wenn ein Sturm aufzog, um so schnell wie möglich in seinem Schutzkeller zu verschwinden, aber dieses Mal hatte er nicht auf den Himmel geschaut. Er war mit einem Auftrag in eins der südlich gelegenen Dörfer geschickt worden, hatte auf dem Rückweg die Zeit vergessen und einen Abstecher zu den Steilklippen gemacht, dorthin, wo sich die Insel am höchsten erhob und als steiler Fels über den Strand ragte. Wenn man von hier nach unten sah – wenn man denn schwindelfrei genug war, um so nah an die gefährliche Kante zu treten – konnte man dort unten bei Ebbe ein kleines Stück Strand sehen, übersät von Steinen, Muscheln und verschiedenartigem Strandgut. Wenn die Flut hereinkam, brach sich das Wasser ohrenbetäubend laut an den Felsen. Vielleicht hatte er aus diesem Grund den Donner nicht gleich gehört, als er dort lag, bäuchlings, und fasziniert nach unten starrte. Als das Gewitter dann mit Macht lostobte, war es zu spät, um nach Hause zu laufen. Er wagte nicht einmal, sich aufzurichten, hier oben, am höchsten Punkt der Insel, wo nichts wuchs außer Gras und niedrigem Gebüsch. Während die Blitze über ihm zuckten und den Himmel mit glühenden Fingern zerrissen, hatte er das Gesicht ins nasse Gras gepresst und um sein Leben gezittert. Doch es hörte nicht auf, lange nicht, und schließlich hatte er sich auf den Rücken gedreht und dort oben auf dem Steilhang liegend dem Sturm ins Gesicht geblickt. Er hatte die Blitze gesehen und sich von ihrer Macht blenden lassen, er hatte das Krachen des Donners mit seinem ganzen Leib gespürt, und während der Regen auf ihn herunterprasselte, waren seine Tränen versiegt. Als ein anderer war er früh am nächsten Morgen nach Hause zurückgekehrt, wo El Jati und Alika schon sorgenvoll auf ihn warteten. Seine Begeisterung über das, was er erlebt und gefühlt hatte – tagelang konnte er von nichts anderem reden –, brachte ihm den Namen »Jahalik«, Schwarzer Blitz, ein und bald rief ihn niemand mehr »Ja-laieng«, Schwarzer Held, den Namen, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Wenig später schon besuchte er den Steilhang wieder, diesmal mit einem Seil, und suchte nach einem Weg, um hinunterzukommen. Allein oder mit seinen Freunden erprobte er die halsbrecherischsten Möglichkeiten, den abgeschiedenen Strand zu erreichen und die vermuteten Schätze zu bergen, die die Ebbe ihnen enthüllte, bis El Jati davon erfuhr und es ihm streng verbot – ohne zu ahnen, dass es Blitz schon mehrere Male gelungen war, hinabzusteigen. Außer einigen besonders schönen, großen Muscheln hatte er nichts mitgebracht, doch diese verwahrte er voller Stolz in seinem Zimmer.

Es kostete Blitz all seine Kraft, gegen die Strömung anzukämpfen. Er vergaß seine Müdigkeit, seine Schmerzen. Es war nicht mehr das Meer, dem er sein Leben abrang, sondern El Jati, es war das Schiff, dem er nachschwamm, es war Rinland, das er suchte. Nur wenige Meter vom Ufer entfernt rang er mit Kräften, die größer waren als seine eigenen, und obwohl er gewusst hatte, worauf er sich einließ, überraschte ihn wie jedes Mal die Aussicht auf den Tod von neuem. Dieser Moment der Klarheit, in dem ihm aufging, dass er vielleicht doch zu weit gegangen war; der Augenblick, in dem aus dem Spiel tödlicher Ernst wurde, war ihm nicht unbekannt und doch war es jedes Mal anders, war es eine Überraschung, zugleich erschreckend und wunderbar. Er fühlte die Kraft in seinen Armen und Beinen, die salzige Luft in seinen Lungen, während er um sein Leben kämpfte, lebendiger als je zuvor. Wie um alles in der Welt kann El Jati nur glauben, er könnte mich beschützen?, dachte er wütend. Er hat mir das Leben gerettet? Es war lächerlich.

Er schlug hart mit dem Knie gegen einen Stein und klammerte sich fest, um seine Kräfte zu sammeln, bevor er sich erneut der Strömung auslieferte. Diesmal musste er es schaffen, dem Sog zu entkommen. Er war schon zu weit abgedriftet; noch ein paar Meter weiter und er würde nicht die geringste Chance haben, ans Ufer zu gelangen.

Während er sich ausruhte, während er atmete, tief und gierig, spürte er seine Wut verebben. Er klammerte sich an den Felsen und lachte leise.

»Dies ist mein Leben!«, rief er laut. »Mein Leben und mein Tod. Jati, das ist meins! Meins!« Der Gedanke an das unerreichbare Schiff schmerzte noch immer. Etwas war in ihm, das wusste, dass es nie aufhören würde wehzutun. Selbst wenn irgendein Sturm die Überreste der Weißen Möwe und die Leichen seiner Freunde anspülte, würde er es noch bedauern, nicht mit an Bord gewesen zu sein, auf dieser Reise mit dem großartigsten Ziel, das es geben konnte. Es wäre wie ein neues Leben gewesen, mit dabei zu sein, die Fortsetzung ihres wunderbaren Sommers. Aber wenn El Jati glaubte, dass er jetzt wieder der gehorsame kleine Bruder sein würde, täuschte er sich. Gewaltig.

Der Entschluss, auf jeden Fall etwas Neues zu beginnen, selbst wenn er noch gar nicht hätte sagen können, was er plante, gab ihm neuen Auftrieb. Er ließ den Felsen los und spürte, wie die Strömung an ihm zerrte. Dann begann er zu schwimmen und legte alles, was er hatte, in seine schnellen, kraftvollen Bewegungen.

Es reichte nicht. Einen Moment lang war ihm wieder der Tod nah, das Bewusstsein, dass er tatsächlich hier und jetzt sterben konnte. Dann fühlte er kälteres Wasser vor sich. Das letzte Mal sammelte er seine ganze Kraft und warf sich aus dem Strom. Er war entkommen.

 

Keuchend schleppte er sich ans Ufer und ließ sich aufs Gras fallen. Die Dämmerung senkte sich bereits herab und er wusste, dass er sofort nach Hause gehen musste, wenn er nicht noch mehr Ärger bekommen wollte. Einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, jetzt noch Liri zu besuchen, seine süße kleine Freundin, die ihm mit Sicherheit erlauben würde, in ihrem Bett zu schlafen. Doch dann fiel ihm ein, dass er sich bereits von ihr verabschiedet hatte, in dem Glauben, dass er heute mit der Weißen Möwe abreisen würde, und wie sie geweint und ihn beschimpft hatte. An noch mehr Streit hatte er an diesem kräftezehrenden Tag keinen Bedarf. Blieb nur zu hoffen, dass El Jati ihm aus dem Weg ging.

Der Wind zerrte an seinen nassen Kleidern und ließ ihn frösteln. Er erhob sich, suchte nach seinen Schuhen und ging barfuß über den sandigen Weg zurück.

Binajatja beugte sich über die Bücher. Der gelbliche Schein der Lampe fiel auf lange Reihen von Zahlen, denen sie eine nach der anderen hinzufügte. Sie kaute am Ende des Stiftes und runzelte die Stirn, aber als Mino klopfte und eintrat, lächelte sie.

»Vielleicht sollte ich dich das tun lassen«, sagte sie. »Du bist alt genug.«

»Du weißt doch, dass ich diese kleine Schrift nicht lesen kann«, meinte das Mädchen leise, aber sie kämpfte darum, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten.

»Wir werden uns daran gewöhnen, dass er weg ist«, behauptete ihre Mutter. Ihre Stimme klang so überzeugend, dass sie ihr fast geglaubt hätte, aber dann fügte Binajatja hinzu: »Wir müssen es«, mit einer Bitterkeit, die ihren Schmerz verriet. Tränen hätte Mino noch besser verstehen können, aber die Apfelkönigin gehörte nicht zu den Frauen, die über ihrem Leid weinten. Sie biss die Zähne zusammen und machte weiter.

Ach Lexan, dachte Mino und fühlte wieder Groll in sich aufsteigen, aber sie war nicht hergekommen, um über ihren Bruder zu reden.

»Mutter«, begann sie, zögernd, denn ihr war bewusst, dass sie ihr Anliegen zu keiner günstigen Stunde vorbrachte, »was ich dich fragen wollte...«

»Ja?«

»Könnten wir Blitz nicht eine andere Arbeit geben? Das Pflücken langweilt ihn, das weiß ich.«

»Und woran hast du gedacht?« Sie blickte ihre Tochter aufmerksam an und weder ihr Gesicht noch ihre Stimme verrieten, was sie dachte. Aber Mino kannte sie gut genug, um ihre Missbilligung zu spüren.

»Ich weiß nicht, ich dachte... Könnten wir nicht die Fracht nach Deret-Aif begleiten? Du hast unlängst noch gesagt, dass dir Männer zum Entladen auf den Märkten fehlen.«

»Wir?«

Mino begann zu schwitzen, wie immer, wenn ihre Mutter sie so ansah. »Nun, ich dachte, wir beide, Blitz und ich...«

»Nein«, sagte Binajatja und schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, ich brauche Männer dafür. Starke Männer, keine Jungen. Und vor allem keine Mädchen. Dich brauche ich hier, Mino. Jetzt, wo Lexan nicht mehr da ist, musst du dich mit der Buchführung vertraut machen.«

Mino nickte. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie das zu hören bekommen würde. Es war ein schöner Traum gewesen, dass sie und Blitz sich auf eine gemeinsame Reise ins Innere des Landes machten und dort ihr Band der Freundschaft erneuerten, bis sie wieder das waren, was sie sein mussten: Freunde. Sie seufzte innerlich. Leider nur Freunde.

»Und Blitz?«, fragte sie vorsichtig. »Könnte er nicht wenigstens...?«

Vielleicht würde er ihr dann verzeihen, wenn er die Gelegenheit bekam, etwas von der Welt zu sehen. Mino wusste, wie rastlos Blitz war und wie sehr es ihn in die Ferne zog.

»Blitz? Das ist doch nicht dein Ernst.« Binajatja schüttelte den Kopf; diesmal zeigte sie ihren Ärger überdeutlich. »Zuverlässigkeit: nicht vorhanden. Verantwortungsbewusstsein: nicht vorhanden. Die Fähigkeit, sich den Anweisungen von Vorgesetzten unterzuordnen: nicht vorhanden. Was soll ich mit einem wie ihm machen? Ich werde ihn entlassen und ganz bestimmt nicht befördern. Sei so gut und richte ihm das aus.«

»Ich soll was?«, fragte Mino entsetzt.

»Sag es ihm. Du kennst ihn, du weißt, wie du es ihm beibringen kannst. Wir beide leiten diese Gärten, Mino, du und ich. Wir können keine Arbeiter gebrauchen, die ihre Aufgabe nicht ernst nehmen. Also geh und sag es ihm.«

Mino ließ den Kopf hängen und ging mit schleppenden Schritten hinaus; die Aufgabe schien an ihren Füßen zu hängen, schwer wie ein Bleigewicht.

Ich hätte ihn gehen lassen müssen, dachte sie auf einmal, aber nun ist es zu spät.

Sie trat aus der Haustür und blickte in den Sternenhimmel über sich. Die Luft war warm und erfüllt von vertrauten Gerüchen nach Meer und Blumen. Der feine Kies des Pfades knirschte unter ihren Schuhsohlen, während sie den Weg an den Gärten vorbei zum Wald einschlug. Selbst bis hierhin konnte sie das Rauschen der Brandung hören, dieses Lied, das sie nie verließ, das so sehr mit ihr verbunden war, dass sie sich nicht vorstellen konnte, es könnte je aufhören. Deret-Aif, dachte sie. Wie wäre es, mit den Wagen durchs Kaiserreich zu ziehen, auf ihren gepflasterten Straßen, und die Märkte aufzusuchen, vielleicht sogar bis nach Aifa, dem Land des Kaisers, bis in die große Stadt Kirifas, ins Herz des Reichs, wo Kaiser Kanuna El Schattik Hof hielt. Wie würde es sein, durch die riesigen Wälder zu reiten, hinter sich die duftende Fracht. Das war ihr gemeinsamer Traum gewesen, ihrer und Blitz’ Traum. Nicht das Schiff und nicht das Meer. Bevor Lexan Blitz dafür begeistert hatte, mit der Weißen Möwe nach Rinland zu fahren, hatten sie beide immer davon gesprochen, dass sie eines Tages das Festland erkunden würden. Sie würden eintauchen in die Wälder und Berglandschaften, sie würden die Städte sehen und die großen Flüsse, die ins Meer mündeten, sie würden auf den Märkten exotische Früchte kosten und fremde Gewürze riechen, süß und scharf, sie würden in helle und dunkle Gesichter blicken und die Schönheit der Mädchen vergleichen. Und vielleicht würden sie sogar den Riesenkaiser selbst sehen und endlich wissen, ob er wirklich so groß war wie zwei Männer...

Mino lächelte, während sie unter den Bäumen ging und sich unter die tiefen Äste bückte, und beim Lächeln spürte sie wieder den Riss in ihrer Lippe. Sie wusste, warum ihre Mutter Blitz entlassen wollte, obwohl sie nicht gefragt hatte, mit wem sie sich geprügelt hatte. Ein Junge, der ein Mädchen schlägt... Es gab wenige Dinge, die auf der Insel Arima lange verborgen blieben.

Die kleine Hütte unter den weit herabhängenden Ästen des alten Baumes gehörte jedoch dazu. Die Obstbäume waren klein und knorrig, sorgsam beschnitten, aber der einzige Wald auf der Insel wucherte und wuchs kreuz und quer, ein Baum so unbändig wie der andere, ein Geflecht aus den unterschiedlichsten Stämmen und Ästen, von Strauchwerk und Brombeergestrüpp unterlegt. Es war ein Stück Wildnis, und dieser Baum am Waldrand war – jedenfalls, als sie noch Kinder gewesen waren – der König der Bäume.

Mino schob die Zweige beiseite und trat in den Raum darunter, der sich wie eine Kuppel über ihr wölbte. Die Hütte hatten sie in die Astgabel gebaut, die so breit und flach war wie eine ausgestreckte Riesenhand. Sie war klein, aber groß genug, um zu zweit darin zu schlafen; allerdings hatte Blitz schwören müssen, niemals eins seiner Mädchen mit hierher zu nehmen.

Die Hütte war leer. Tief in ihrem Inneren hatte Mino gehofft, Blitz wäre gekommen, um hier vor El Jati Ruhe zu haben und sich mit ihr zu treffen und zu versöhnen. Sie hatten sich oft gestritten und oft versöhnt. Meistens war es Blitz gewesen, der den Streit begonnen, und Mino, die ihn beendet hatte, aber ihre Freundschaft hatte alle Auseinandersetzungen überlebt.