Der Thron des Riesenkaisers

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»Wie du das alles sagst, klingt das nach einer Beleidigung.« Mit Tränen in den Augen wandte Manina sich ab.

Das Schweigen, das zwischen ihnen begann, tat weh. Aber das war nicht das Schlimmste. Die Unstimmigkeit zwischen ihr und ihrer besten Freundin konnte sie beide ernsthaft in Gefahr bringen, wenn es darauf ankam. Denn Tamait war da. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit, ganz in ihrer Nähe, sie konnte es fühlen …

Maja ließ sich nichts anmerken. Sie beobachtete, wie das Feuer in Gang gesetzt wurde, wie die Soldaten Wasser aus einem nahe gelegenen Bach holten, wie einer von ihnen sich daran machte, Mehl in einem Topf zu verrühren und einen Brei zu kochen, der zweifellos nicht schmecken würde … Und da, unverhofft wie ein Blitz, der über den Himmel zuckt, sah sie, wie Erion zu Manina herüberschaute. Er kniete neben dem Feuer, um die Glut anzufachen, und warf der blonden Schönheit nur einen kurzen Blick zu, von dem er wohl dachte, er würde unbemerkt bleiben. Aber sein Gesicht verriet alles. Einen flüchtigen Moment lang war er der junge Mann, den Manina auf einer Lichtung entdeckt hatte, der attraktive Prinz, in dessen Augen Sehnsucht und Träume blühten.

Alles, was sie in so verletzend spöttischem Ton zu ihrer Freundin gesagt hatte, stimmte. Der Pfeil der Liebe hatte auch das kalte Herz von Zukatas Diener durchbohrt. Maja wartete, bis er sich wie immer abseits von seinen Soldaten hingesetzt hatte, dann stand sie auf und ging um das Feuer herum zu ihm. Unaufgefordert nahm sie neben ihm Platz.

»Prinzessin?«, fragte Erion verwundert.

»Lasst sie gehen.«

»Wie bitte?« Erstaunt hob er die Brauen. Sein Lächeln war wieder das überhebliche Lippenkräuseln, das er immer zur Schau stellte.

»Ich habe Euch ertappt«, flüsterte Maja. »Ich sah, wie Ihr sie angeblickt habt.«

»Ihr täuscht Euch«, widersprach der Herr von Neiara ruhig.

Aber sie war sich ganz sicher, alles passte zusammen. »Die Leiter«, fuhr sie fort. »Als wir oben auf dem Dachboden festsaßen … Sie war nicht beschädigt, nicht wahr? Ihr wolltet nur eine Gelegenheit, um die Prinzessin zu umarmen.«

»Die Leiter war sehr wohl beschädigt.«

»Wirklich? Dann habt Ihr es selbst getan, nehme ich an.«

»Was wollt Ihr, Prinzessin Maja?«, fragte er. »Ich werde keinen von Euch gehen lassen.«

»Sie soll sterben, nicht wahr?« Maja versuchte, hinter seine undurchdringliche Maske zu blicken. Dabei war sie wohl die Letzte, die mit der Gabe auftrumpfen konnte, andere zu durchschauen. Mit Bitterkeit dachte sie daran zurück, dass sie auch Sorayns wahre Absichten nicht erkannt hatte. »Tut es nicht. Ihr könnt Euer Herz nicht abtöten – nicht so. Wenn das, was Zukata Euch befiehlt, so offenkundig falsch ist, dürft Ihr ihm nicht gehorchen.«

»Ich werde tun, was immer Zukata befiehlt«, sagte Erion leise, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er völlig aufrichtig war, und sie erschauerte. Der Kaisergänger sah sie voll an. »Ich werde tun, was er verlangt«, wiederholte er, und war da nicht in seinen Augen das, was sie gehofft hatte zu sehen und was sie jetzt doch mehr erschreckte als alles andere – Bedauern? »Es gibt keinen anderen Weg.«

Maja fühlte die Kälte in Schauern durch ihren Körper rinnen. »Bei Rin«, wisperte sie, »dann ist Manina verloren.«

Wie eine Schlafwandlerin stand sie auf und ging zurück zu ihrer Freundin, wie eine Träumende, und war doch so wach wie nie.

»Was ist?«, fragte die Kaisertochter argwöhnisch. »Was hast du mit ihm geredet? Was ist los, Maja? Sieh mich bitte nicht so an!«

»Du wirst auf dieser Reise den Tod finden«, sagte Maja.

»Das hat er gesagt? Das glaube ich nicht!«

»Er hat es angedeutet … Manina, wir müssen fliehen. Heute Nacht noch. Wir müssen hier weg, bevor er uns noch stärker bewachen lässt. Sieh nicht zu ihm hin. Bleib ganz ruhig. Versuch ein bisschen zu schlafen, wenn du kannst.«

»Aber …«

»Fünf Soldaten hat er um das Lager verteilt … Die drei am Feuer achten nicht ununterbrochen auf uns. Dort sind die Pferde, sie sind angebunden, aber man kann den Pflock aus der Erde reißen, das müsste kein Problem sein. Du kannst ohne Sattel reiten, oder?«

»Ja, aber …«

»Ich sagte, lass dir nichts anmerken, schau nicht zu den Pferden, wenn wir von ihnen reden. Ich weiß nicht, ob ich mich ohne Sattel halten kann, wahrscheinlich eher nicht. Wenn wir ein Pferd zusammen nehmen? Wird das wohl gehen? Wenn ich hinter dir sitze, und du reitest?«

»Im Dunkeln?«, fragte Manina. »Ohne zu wissen, wohin?«

»Das ist unsere einzige Chance. Vielleicht die letzte. Was wissen wir, wie lange er dich am Leben lässt?« Sie drückte die Hand der Prinzessin.

»Gib mir Zeit«, bat diese leise. »Vielleicht kann ich sein Herz gewinnen.«

Du hast es schon, wollte Maja sagen. Du hast es schon, doch das wird dich nicht retten! Aber sie sagte es nicht, denn jeder Funke Hoffnung würde Manina nur noch widerspenstiger machen, noch blinder für die Gefahr, in der sie schwebte.

»Lass uns erst etwas essen, wir brauchen eine Stärkung. Auf mein Zeichen laufen wir los. Du darfst nicht zögern, hörst du?«

Manina seufzte, aber dann nickte sie schließlich.

»Deinetwegen«, sagte sie. »Nur deinetwegen werde ich fliehen. Du hast mit Zukata nichts zu tun, und wer weiß, wie diese Sache für dich ausgeht … Na gut. Versuchen wir es.«

Der Brei war warm; dass er nach nichts schmeckte, fiel Maja in ihrer Aufregung kaum auf. Sie lag neben ihrer Freundin und horchte in die Nacht hinaus, auf die Geräusche dort draußen unter dem dunklen Himmel. Der Mond war eine schmale Sichel unter rasch vorbeiziehenden Wolken. Irgendwo heulten Wölfe, der Laut ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Auch die Pferde bewegten sich unruhig.

Als das Feuer fast heruntergebrannt war und nur noch schwach glomm, war der richtige Moment gekommen. Maja fühlte es, so wie sie wusste, dass Tamait auf sie wartete.

»Ich bin schon wach«, flüsterte Manina, als sie ihre Schulter berührte. Nur wenige Meter entfernt verwandelte das kalte Licht der Sterne ihre schlafenden Begleiter in dunkle Schemen.

»Jetzt.«

Sie sprangen auf und rannten zu den Pferden; Maja riss den Holzpflock des nächstbesten Tieres aus der Erde. Die Prinzessin stolperte ihr nach, dicht hinter sich einen der Soldaten. »Maja!«, schrie sie, als er die Hand nach ihr ausstreckte. Die Zinta zögerte nicht, sie lief zurück und schmetterte die Faust in sein Gesicht, mit einer solchen Kraft, dass der Schlag ihn zu Boden schleuderte. Dann zog sie die Kaisertochter mit sich.

»Zu mir!«, hörte sie Erion brüllen. Von ferne, dort, wo die Wachen ihre Runde gingen, ertönte ein weiterer Schrei, und dann durchbrach der wunderbare Klang von Stahl auf Stahl die Nacht.

»Das ist Tamait!«, rief Maja. »Er lenkt sie ab. Komm!«

Da war schon das Pferd. Sie griff in seine Mähne, zog sich hoch und wandte sich um. »Manina!«, schrie sie. »Schnell! Komm!«

»Reite, Maja!«, rief Manina die gerade das zweite Reittier losmachte, als Erion sie erreichte. »Flieh! Flieh doch!« Gleich würde er sie packen – doch der Kaisergänger stieß sie nur zur Seite und hielt auf Maja zu. Diese wollte das Pferd dazu bringen, ihm auszuweichen, aber es scheute, und im nächsten Augenblick sprang Erion hoch, schlang seine Arme um ihre Taille und riss sie herunter. Sie stürzten beide zu Boden, und dann sah Maja nur noch, wie Manina nach dem lose herunterhängenden Führstrick des erschrocken sich bäumenden Pferdes griff. »Komm! Maja, komm!«

Wie eine Wildkatze wehrte die Arimerin sich gegen Erion, aber es nützte nichts. »Reite!«, schrie sie. »Nun reite schon! Los, reite!« Sie lachte laut auf, als Manina sich auf den Rücken des Pferdes schwang und in der dunklen Nacht verschwand.

»Reite!«, rief sie und jubelte, wild und froh. »Ja, ja! Reite zu!«

»Ihr nach!«, rief der Kaisergänger zwei Soldaten zu, die von irgendwoher aus der Dunkelheit auftauchten, aber sie konnte ihn nicht dazu bringen, sie loszulassen, so sehr sie sich auch sträubte. Sie hatte nicht gedacht, dass dieser Kerl so stark war. Mit allen Kniffen, die sie von ihrer Pflegemutter Alika gelernt hatte, versuchte sie ihn auszutricksen, aber gegen seine pure Kraft kam sie nicht an. Ihre Hoffnung, Manina doch noch irgendwie folgen zu können, wurde zunichte, während sie in Erions kräftiger, unerbittlicher Umarmung lag. Und trotzdem lachte sie in sich hinein.

»Eure Soldaten werden Manina niemals einholen«, sagte sie. »Sie kann reiten wie keine Zweite.«

»Wir werden sie kriegen«, sagte er, und seine Stimme verriet, wie sehr ihn der Kampf mit ihr angestrengt hatte. Auch wenn sie nicht gewonnen hatte, so bereitete es ihr doch eine gewisse Befriedigung, dass sie ihm wenigstens Schwierigkeiten bereiten konnte. Er gab sich die größte Mühe, sie nicht loszulassen, während er sie zurück zum Lager schleppte.

»Ihr habt Euch auf die Falsche gestürzt«, frohlockte sie. »Oder sollte das Absicht gewesen sein? Hat Euer Herz Euch am Ende doch verraten, so dass Ihr die, die Ihr liebt, entkommen ließet?«

»Ich habe genau die Richtige erwischt, Prinzessin Maja«, widersprach er.

Natürlich konnte jemand wie Erion sich eine Niederlage nicht eingestehen.

Die ersten Männer trudelten ein. »Der Kerl ist uns entwischt, verdammt.«

Wenig später kamen auch die Reiter, die Manina verfolgt hatten, wieder zurück. Sie schüttelten mit düsteren Mienen die Köpfe.

Der Kaisergänger fluchte. »Na schön. Aber sie werden zurückkommen, ihretwegen.« Er hielt Maja fest, während er ihre Hände von einem der Männer fesseln ließ.

»Ich soll Eure Geisel sein?«, fragte sie und versuchte zu lachen. »Das wird nicht klappen. Mein Bruder wird die Prinzessin in Sicherheit bringen. Er weiß, was wichtig ist. Dass ich immer noch hier bin, wird Euch rein gar nichts nützen.«

 

Erion runzelte die Stirn und überlegte. »Wie weit ist es von hier zum Fluss? Dann tun wir Folgendes.« Er besprach mit seinen Männern einen Plan, der sich für Maja äußerst verrückt anhörte – wozu dieser Aufwand?

»Ihr werdet sie nicht kriegen!«, rief sie. »Darauf fallen sie nie herein! Lasst mich einfach gehen!«

Aber natürlich hörte er nicht auf sie. Er stieg auf sein Pferd; einer der Soldaten half ihm, die übriggebliebene Gefangene vor sich in den Sattel zu heben. Dann ritt er mit ihr davon, in die Nacht hinein.

5. Ein alter Bekannter

Z E R Z A U S TU N DB E S C H Ä D I G Tlag die Adlerschwinge auf dem Sand. Sie hatten es geschafft, die Klippen zu umschiffen, waren aber vom Sturm zu nah an die Küste von Wenz getrieben worden und auf Grund gelaufen. Auf wackeligen Beinen staksten die Piraten ans Ufer, durchnässt, erschöpft und zugleich erleichtert.

Lauthals schimpfend zählte Kapitän Suresch seine Männer. »Wie viele fehlen? Zwei? Verdammt!«

Die Wolken waren aufgerissen und entblößten einen hellgrauen Himmel, unter dem der Wind jetzt nur noch verspielt tanzte.

»Nach Sandart kommt ihr wohl nicht mehr«, meinte Blitz. »Und auf der Insel der Amazonen werden sie vergeblich auf mich warten.«

»Du kannst jetzt damit aufhören, Beny«, knurrte der Kapitän. »Wir beide wissen, dass es um Wenz geht. Um Wenz und immer um Wenz und um nichts sonst. Und hier sind wir nun.«

Blitz hatte das Gefühl, etwas ganz Entscheidendes nicht mitbekommen zu haben, aber er ließ sich seine Unwissenheit nicht anmerken.

»Das Königreich Wenz«, murmelte er, um den Kapitän dazu zu verleiten, weitere Informationen preiszugeben.

»Ja«, knurrte Suresch, »widerspenstig wie eine Frau, die man gegen ihren Willen verheiratet. Aber sie muss sich fügen, verflucht noch mal! Wenn es uns nicht gelingt, die Küste zu überwachen, wird Zukata uns in Grund und Boden stampfen.«

Eine Frau, die nicht heiraten wollte? Das Bild war aussagekräftig genug, um ihm zu verraten, dass Wenz sich nicht ohne Widerstand in ein Kaiserreich unter Kaiser Zukata einfügen ließ. Natürlich! Bestimmt waren sie deswegen hier. Um den König daran zu hindern, Unterstützung über den Seeweg zu rufen. Oder vielleicht war die Hilfe sogar schon unterwegs, eine Flotte Kriegsschiffe von wer weiß wo.

Aber Zukata würde niemals allein auf ein abgewracktes Schiff wie die Adlerschwinge bauen.

»Wie viele von uns sind noch hier?«, fragte er. »Sind die anderen schon da?«

Suresch hob die Schultern. »Wer weiß das schon. Dieser Sturm hat alle gehörig durcheinandergewirbelt, wetten?« Er blickte zu seinen Piraten hinüber, die nass und erschöpft auf den Steinen hockten und trübsinnig vor sich hinstarrten. »Wir müssen hier weg. Wenn die Soldaten kommen, will ich ihnen bestimmt nicht in diesem Zustand begegnen.«

Soldaten? Das hieß, dass der König die Küste überwachen ließ. Entweder erwartete er einen Angriff seiner Feinde – oder vielleicht seine Verbündeten? So oder so hatte Blitz nicht die Absicht, Uniformierten in die Hände zu fallen. Seine Erfahrungen mit Männern im Dienste eines Fürsten oder eines Königs waren alles andere als angenehm. Solche Leute glaubten grundsätzlich nie, dass man auf ihrer Seite war.

»Dann sollten wir so schnell wie möglich von hier verschwinden«, schlug Blitz vor. »Und sehen, dass wir irgendwie mit den anderen zusammentreffen.«

Suresch krauste die Stirn. »Manchmal ist es, als wenn ein böses Schicksal einem alle Pläne durchkreuzt. Na los, gehen wir.«

Sie waren kaum über die Steine geklettert und hatten einen Kiesweg, von struppigem Gras überwachsen, gefunden, als sie schon einen Trupp auf sich zumarschieren sahen. Es gab hier keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Nur das Meer hinter ihnen, die steinige, windumtoste Küste, den blassen Himmel über sich. Der Wind fuhr in ihre nassen Kleider und ließ sie frösteln, und doch fühlte Blitz, wie das Blut ihm heiß durch alle Adern rann. Er tastete nach seinem Messer.

»Zum Donnerwetter!«, schrie der Kapitän auf. »Ihr seid es!«

Nun, da sie näherkamen, sah man, dass es mit Sicherheit keine Soldaten waren. Vielmehr handelte es sich um Seeleute wie sie selber, nicht ganz so nass und abgerissen, sondern gut gekleidet und noch besser bewaffnet. Trotzdem waren sie unzweifelhaft vom gleichen Schlag wie die Gestrandeten.

»Das sind die Männer der Greifenklaue«, verriet einer der Piraten Blitz. »Wusste ich’s doch, dass sie vor uns hier sind.«

Die beiden Anführer boxten sich kameradschaftlich in den Bauch und auf die Schultern.

»Suresch, alter Hund! Ich dachte, du bist ertrunken!«

»Wilu, du verdammtes Narbengesicht! Wo hast du deinen Fischkutter gelassen?«

»Fischkutter! Nennt der Kerl die Greifenklaue Fischkutter!«

»Sei froh, dass ich euch nicht Fischfutter nenne!«

Nach der lautstarken Begrüßung nahm die Mannschaft der Greifenklaue die Besatzung der Adlerschwinge mit zu ihrem Lager. Sie wohnten in einem kleinen Dorf in einer stillen Bucht, wo sie ihr Schiff rechtzeitig vor dem Sturm geankert hatten, und obwohl das Unwetter auch hier gewütet und ganze Teile der Küste überflutet hatte, war der Piratensegler unbeschadet davongekommen. Suresch und seine Leute füllten sich die Bäuche und wärmten sich am Herdfeuer. Bedient wurden sie von ängstlich dreinblickenden Dörflern. Die Freibeuter hatten kurzerhand ein ganzes Dorf eingenommen und es zu verhindern gewusst, dass sie jemanden um Hilfe ausschickten.

»König Oka wartet auf die Schiffe aus Velas«, sagte Kapitän Wilu und grinste, während er einen frisch gebratenen Fisch kunstvoll entgrätete. »Da kann er lange warten.«

»Warum sollte Velas Schiffe schicken?«, fragte Blitz verwundert und biss sich sogleich auf die Lippe.

Wilu hob die Brauen und starrte ihn an.

»Was für einen vorlauten Kerl hast du dir denn da aufgegabelt?«, fragte er seinen Kollegen.

Suresch öffnete den Mund, aber da der Kaisergänger ganz sacht den Kopf schüttelte, schloss er ihn wieder, schnitt ein paar Grimassen und seufzte. »Buchstäblich aus dem Meer gefischt. Aber mich würde es auch interessieren. Warum, verdammt noch mal, schicken die Velaner Oka Kriegsschiffe? Velas ist am Ende der Welt und hat mit uns nichts zu schaffen.«

»Außer, dass sie Nachbarn von Sandart sind und seit Jahren darauf warten, dass Zukata sie schluckt?« Wilu lachte dröhnend. »Der arme Oka hat keine Ahnung, dass wir seinen Boten abgefangen haben.« Er beugte sich vor. »Und das Beste kommt noch. Oka wird hierher kommen, um seine Verbündeten zu empfangen. Und nun ratet mal, wer ihm hier einen Empfang bereiten wird.«

Suresch lachte so laut, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Blitz versuchte mitzulachen, aber er konnte nicht, obwohl er sich dessen bewusst war, dass man ihn beobachtete. Natürlich fiel es auf, wenn er als Einziger mit versteinerter Miene dabeisaß.

Wilus Lachen brach ab, er stieß den anderen Kapitän in die Seite und beugte sich vor. »Was ist das für ein Kerl?«, flüsterte er. »Junge, ich habe ja schon viel erlebt, aber der da jagt mir einen Schauer über den Rücken. Er hat nicht einmal gelächelt. Er sieht mich an, als wollte er mir gleich das Messer in die Brust stechen. Du solltest mir besser sagen, wer das ist.«

»Das ist Zukatas Bote«, flüsterte Suresch zurück. »Er hat mir nichts über seinen Auftrag verraten, aber ich glaube, Zukata hat ihn uns geschickt, um diesen Einsatz zu überwachen.«

»Bist du sicher, dass das alles ist?«

Der Kapitän der Adlerschwinge winkte dem Herrn der Greifenklaue, mit nach draußen zu kommen. Sie gingen ein paar Schritte von den Häusern fort. Dort wischte Suresch sich über die Stirn. »Wie wirkt dieser Beny auf dich?«, fragte er. »Höflich und freundlich, aber nicht zu sehr? Wie einer, der Fragen stellt, obwohl er genau weiß, was Sache ist?«

»Worauf willst du hinaus?«, wollte Wilu wissen.

»Er versucht, sich wie ein normaler Matrose zu benehmen, aber das ist er nicht. Die Narben überall auf seinem Körper sprechen eine andere Sprache. Und ich habe gesehen, wie er das Messer hält.«

»Ein Mörder?«, wisperte der Pirat erschrocken.

»Zukata traut uns nicht. Deswegen schickt er uns seinen Kaisergänger.«

»Um Oka zu töten?«

»Und vielleicht nicht nur Oka. Wir dürfen keinen Fehler machen.«

Wilu atmete tief durch. Winzige Schweißtröpfchen standen auf seiner Stirn und sammelten sich über seinen Brauen. »Und wenn wir schneller wären als er?«

»Schneller als ein Meuchelmörder? Vergiss nicht, Zukata selbst hat ihn ausgesucht. Glaubst du, er würde uns einen Stümper schicken?«

»Vielleicht täuschen wir uns. Vielleicht hat er einen ganz anderen Auftrag.«

»Du hast seine Augen gesehen. Der verbirgt etwas. Dieser Mann steckt vom Scheitel bis zur Sohle voller Geheimnisse. Wenn du den für einen einfachen Piraten hältst, bist du gleich verloren.« Ein Schauer durchfuhr ihn. »Seine Augen sind so schwarz wie die Sturmnacht, die wir hinter uns haben. Ich sage dir, das ist ein eiskalter Mörder. Ich hab noch nie so jemanden wie ihn an Bord gehabt. Er sagt, Zukata hat ihm ein Schloss gegeben. Ich dagegen glaube, er bekommt erst noch eins.«

»Okas Schloss? Wenn er ihn getötet hat?«

»Könnte doch sein.«

Wilu knirschte mit den Zähnen. »Wir sollten dieses Königreich kriegen.«

»Wir haben nicht mal das Zeichen! Zukata wird uns nie eine Krone geben, wenn er uns nicht vorher das Zeichen verliehen hat! Aber wenn wir uns aus dieser Sache zurückziehen oder es vermasseln, kann er seinem Bluthund alles anvertrauen. Vielleicht hat Beny die Anweisung, uns beim kleinsten Fehler zu beseitigen? Weißt du’s? So oder so, wir haben keine Wahl. Wir müssen weitermachen. Lass dir bloß nicht anmerken, dass wir wissen, was er ist. Gehen wir zurück.«

Als sie sich zurück zur Hütte wandten, sahen sie den schwarzhaarigen Mann, über den sie gesprochen hatten, an der Tür stehen und ihnen entgegensehen.

»Er weiß es«, flüsterte Wilu bang. »Er weiß, dass wir über ihn reden.«

»Na, Beny?«, fragte Suresch betont munter. »Auch ein wenig frische Luft schnappen?«

»Ganz schön stickig da drinnen«, gab Beny zurück und ließ seinen Blick forschend über sie gleiten, einen Blick, hart und schneidend wie ein Messer.

Sie wussten es. Irgendwie ahnten sie, dass er nicht der war, der er vorgab zu sein. Blitz wunderte sich nur, dass sie ihn weiterhin in Ruhe ließen und ihn nicht einfach packten und umbrachten. Vielleicht waren sie sich doch nicht ganz sicher, anders war ihre Zurückhaltung nicht zu erklären. Das Klügste war es, sich einfach aus dem Staub zu machen, bevor irgendwann einer aus Zukatas alter Bande hier auftauchte und ihnen mitteilte, dass der angebliche Beny in Wirklichkeit Blitz hieß und sie den Todfeind des Kaisers mit gebratenem Fisch, schlechtem Wein und wertvollen Informationen versorgten.

Blitz wartete in der Hütte, in der er untergebracht war, bis die Piraten nach und nach einschliefen. Endlich wurde die vom Alkohol beflügelte Prahlerei von lautem Schnarchen abgelöst. Er selbst hatte nur wenig getrunken. Damit man ihn nicht für ein Weichei hielt, hatte er allerdings vortäuschen müssen, dass er mithalten konnte. Unauffällig leerte er seinen Becher unter den Tisch, wo der Wein von den Binsen aufgesogen wurde; der säuerliche Gestank fiel in dem übelriechenden Raum mit Sicherheit nicht auf. Zum Glück hatte er nicht dort schlafen müssen, sondern hatte sich ein paar Piraten angeschlossen, die ein weiter draußen stehendes Fischerhaus wählten.

Nun schliefen sie. Vielleicht träumten sie vom Sturm, denn einer wimmerte wie ein kleines Kind, das unter Albträumen litt. Blitz war schon halb zur Tür hinaus, als ihn ein heiserer Schrei zusammenzucken ließ. Auf leisen Sohlen huschte er zu der Bank, auf der einer der Schläfer sich unruhig hin und herwälzte, und fasste ihn an der Schulter.

»He!«, flüsterte er. »Du träumst! Weck hier nicht alle!«

»Ich ertrinke«, stöhnte der Mann. »Überall Wasser, Wasser! Ich ertrinke!«

»Nein, tust du nicht. Du liegst hier im Haus. Du bist nicht auf dem Schiff.«

Gefangen in seinem Traum, umklammerte der Pirat Blitz’ Hand. »Rette mich! Zieh mich raus! Ich ertrinke!« Er ertastete einen Ärmel, krallte sich darin fest und ließ sich nicht abschütteln. »Ich ertrinke!«

 

»Nein, du träumst!« Aber der Arimer kannte dieses Gefühl. Wenn einem bewusst wurde, dass man nicht nur mit den Füßen keinen Grund mehr erreichen konnte, sondern dass das schwarze Wasser so tief war, dass jegliche Vorstellungskraft versagte. So hoch der Himmel reichte, so weit ging es hinunter ins Dunkle. Und dieses Wasser kam von allen Seiten, um einen mit sich zu ziehen, unerbittlich, hinunter in diese Nacht, die man nicht kennenlernen wollte, und man wusste, dies ist die Stunde. Jetzt. Jetzt passiert es, jetzt bist du dran. Noch nicht. Dein Schrei, immer wieder: Noch nicht. Bitte noch nicht. Und es passiert doch.

Blitz umfasste die hilfesuchende Hand des träumenden Piraten mit beiden Händen. »Ja«, sagte er. »Jetzt geschieht es. Hör auf zu schreien. Wehr dich nicht. Lass das Brett los. Lass alles los.«

»Wasser, überall …«

Der Albtraum des Seemannes. Jedes Matrosen. Kein Freibeuter hatte Angst davor, im Kampf zu sterben, beim Entern eines anderen Schiffes, von einem Gegner geschlagen, der stärker war als erwartet. Dies war das Einzige, was sie fürchteten: den dunklen Abgrund, der sich unter den blauen, spielerisch zuschnappenden Wellen verbarg.

»Lass los«, befahl er. »Und halt nicht die Luft an. Lass dich sinken. Noch tiefer, in einen anderen Traum. Und da ist die Hand, unter dir, eine große Hand, die dich auffängt. Kannst du es spüren? Eine Hand, größer als ein Schiff?«

»Da ist keine Hand«, murmelte der Pirat.

»Doch, sie ist da. Fühlst du sie nicht? Lass dich sinken. Da ist sie. Sie hält dich fest. Das Wasser ist nicht schwarz, sondern blau. Siehst du die Hand jetzt, genau unter dir?«

»Da ist … nichts … nichts.« Der Träumende entließ Blitz aus seinem Griff. Seine Hände fielen herab, sein Kopf neigte sich zur Seite, der Atem wurde schwerer, tiefer.

Der Arimer richtete sich auf und schlich zur Tür. Jetzt schliefen sie alle.

Draußen warf der Mond sein Licht auf die Bucht und verwandelte die See in glitzerndes Silber. Er lächelte, als eine kühle Brise ihm das Haar aus der Stirn strich. Die Greifenklaue schien auf ihn zu warten, ihn zu einer geheimnisvollen Reise einzuladen. Mein Schiff nach Rinland … Mit eisigen Fingern fasste eine Windböe unter sein Hemd. Blitz fröstelte. Nein, die Greifenklaue war bestimmt nicht das Schiff, das ihn der verlorenen Weißen Möwe hinterher bringen würde. Wie mit weißen Schwingen waren seine Freunde Lexan, Jußait und Bajad nach Rinland gesegelt. Die Adlerschwinge. Ja, das würde schon besser passen!

Ruhig, als würde er nicht seine Flucht planen, die ihn vor skrupellosen Verbrechern in Sicherheit brachte, betrachtete er den felsigen Strand und hörte auf das unermüdliche Rauschen und Raunen des Meeres. Nur keine Eile zeigen. Tu, als wäre es dein Recht, hier zu stehen. Sie hatten garantiert Wachen aufgestellt, und auf nichts reagierten diese empfindlicher als auf verdächtiges Herumschleichen.

Da kam der Posten schon! Blitz wollte ihm gerade einen Gruß zurufen, als er sah, dass derjenige auf die Hütte zuhielt. Geduckt wie ein Mörder im Dunkeln. Er war so auf sein Ziel fixiert, dass er den anderen Mann, der wenige Schritte von ihm entfernt stand, nicht bemerkte.

Was schlich der Kerl hier herum? Der ehemalige Amazonenschüler erkannte sofort, was vor ihm im Mondlicht aufblitzte. Ein langer Dolch. Also wussten sie doch, dass er sie belogen hatte, und nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihn töten wollten. Heimlich und hinterrücks. So waren diese Halunken, aber sein Stil war das nicht. Auch wenn er den Attentäter wahrscheinlich mit einem Überraschungsangriff hätte erledigen können, kam das für ihn nicht in Frage. Dann lieber einen richtigen Kampf, Mann gegen Mann, trotz des ungewissen Ausgangs. Nach seiner langen Gefangenschaft war Blitz aus der Übung, was das Kämpfen anbelangte – das letzte Mal hatte er gegen die Männer gestritten, die seinen Sohn Sorayn umbringen wollten.

»Was für eine schöne Nacht, Kapitän Wilu.«

Der Angesprochene fuhr herum und japste erschrocken. Er sog so heftig die Luft ein, dass es sich anhörte, als würde er gleich ersticken.

»Nein, das ist … es sieht nur so aus, es ist nicht …«

»Wie sieht es denn aus, wenn jemand mitten in der Nacht zu der Hütte schleicht, in der ich schlafe?«

Merkwürdigerweise blieb Blitz ganz ruhig. Sein Herz schlug ein klein wenig schneller, aber er hatte keine Angst. »Warum willst du mich töten, Kapitän Wilu?«

»Oh nein, nein«, beteuerte der Pirat, mit einer Stimme, die in ein leises Winseln überging. »Ich wollte über dir wachen, bevor Suresch … Nein, ich …« Und dann sank er erstaunlicherweise auf die Knie. »Dein treuer Diener. Nur lass mich am Leben, bitte!«

»Warum sollte ich dich am Leben lassen?«

»Bitte, ich kann dir noch nützlich sein! Ich kann dafür sorgen, dass Oka in deine Hände fällt und dir niemand in die Quere kommt. Wenn du es wünschst, ist die Krone dein. Ich kann dafür sorgen, dass Suresch … über Suresch musst du dir keine Gedanken machen!«

»Warum sollte ich mir über Suresch Gedanken machen?«, fragte Blitz, der einfach die Stichworte aufgriff, die ihm geliefert wurden. Er war weit davon entfernt, diese seltsame Situation zu durchschauen.

»Ich glaube, er hat genau das geplant«, wisperte der Seeräuberkapitän. »Dass ich dich angreife und dafür mit dem Leben bezahle. Hat er dich gewarnt, Herr? Nein, ich weiß, niemand muss dich warnen. Du bist wie der Wind, der durch unsere Köpfe fährt. Aber erlaube mir … Wenn Suresch wollte, dass ich sterbe, dann hofft er darauf, dass du ihm den Thron überlässt. Dass du ihm Wenz gibst. Aber wenn es für dich ist … Ich bin auf deiner Seite, Herr. Ich kämpfe für dich. Ich bin nicht so töricht wie Suresch, glaub mir, solche Spielchen spiele ich nicht mit.«

Blitz hielt es nicht für nötig, den Mann daran zu erinnern, dass er hier mit einem Dolch stand, um ihn zu ermorden. Sie dachten also, dass Zukata ihn geschickt hatte, um Okas Rebellion zu ersticken, den König zu töten und den Richtigen für den Thron auszuwählen. Natürlich hielt jeder der beiden Piratenkapitäne sich selbst für den Richtigen. Offenbar hatte Suresch gehofft, in dieser Nacht einen seiner Gegenspieler loszuwerden – entweder den angeblichen Kaisergänger Beny oder seinen guten Kumpel Wilu. Spekulierte er wirklich darauf, dass eines Tages ein trinkfester König namens Suresch den widerspenstigen Oka ersetzte?

Der Gedanke an den König von Wenz war für Blitz mit einer Reihe unguter Erinnerungen verbunden. Oka. Damals ein junger, bärtiger Mann, dem er die Tochter aus den Armen gerissen hatte, ein kleines, verschrecktes Mädchen. In jener Stunde war ein König geboren, der niemals vor Zukata den Kopf beugen würde, der immer gegen ihn kämpfen würde, bis zum letzten Atemzug.

Möglicherweise war doch nicht der richtige Zeitpunkt, um zu fliehen. Er konnte die Chance nutzen, eine alte Schuld abzutragen. Kein dreckiger Pirat sollte diesen aufrechten Herrscher in die Hände bekommen.

»Wann wird der König hier eintreffen?«, fragte er.

»Seine Späher werden unsere Schiffe einlaufen sehen«, gab Wilu zur Antwort. »Wir warten noch auf die anderen, damit wir ihm eine eindrucksvolle Flotte präsentieren können.«

»Die Löwenbiss

Der Freibeuter nickte. »Die wird in Kürze hier eintreffen, sie kommt aus Sandart. Wir werden die Flagge von Velas über dem Mast wehen lassen. Oka wird uns genau in die Arme laufen.« Er zögerte. »Was befiehlst du, Herr? Willst du ihn befragen?«

»Ja, unbedingt.« Der Arimer nutzte die Macht, die ihm hier zufiel, sofort aus. »Dem Rebell soll kein Haar gekrümmt werden, bevor ich nicht mit ihm …«, er machte eine unheilvolle Pause, »… gesprochen habe.«

»Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.« Der Pirat wagte ein vorsichtiges Grinsen.

»Ich fürchte, er wird sich über unsere Unterredung nicht halb so sehr freuen, wie ich es mir wünsche«, umschrieb Blitz seine Befürchtung und lächelte voller Bedauern.