Der Thron des Riesenkaisers

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4. Kein Entrinnen





E I NG U TG E Z I E L T E RSchneeball traf Kroa voll ins Gesicht. Er schüttelte sich und prustete und spuckte. Die Soldaten lachten laut auf. Der nächste bückte sich und formte eine Kugel. Er drückte den Schnee zusammen, bis er hart war wie ein Stein.



»Er ist ein alter Mann«, flüsterte Mino. »Ich kann das nicht länger mit ansehen.«



»Warte noch einen Moment.« Jamai legte seine Hand auf ihre.



Sie hockten in einem Gebüsch, dicht am Haus der Soldaten. Als Jamai in dieser Nacht erwacht war und feststellen musste, dass Kroa verschwunden war, hatte er nicht lange herumgerätselt, sondern sofort Mino geweckt. Inzwischen schneite es nicht mehr und Kroas Fußabdrücke konnten die Feinde jederzeit zu ihrem Versteck führen. Mit einem Tannenast hatten sie alle Spuren verwischt, so gut es ging, und waren in einem weiten Bogen zum Wachhaus zurückgekehrt. Als sie Kroa im Baum entdeckten, durchfuhr es Mino kalt. Doch dann erblickten sie die Soldaten, die sich damit vergnügten, ihr Opfer zu quälen. Sie hatten den kleinen Mann an den Füßen in die Äste gehängt und bewarfen ihn vorerst mit nichts Schlimmerem als Schnee, doch allein daran, dass Kroa verbissen schwieg, erkannte sie, dass es ihm nicht gut ging. Ein anderer Kroa, jünger und stärker, hätte die Feinde als das verhöhnt, was sie waren, als Feiglinge. Der Kroa von früher hätte sich hochgeschwungen und die Fesseln gelöst. Doch dieser Gefangene, den sie dort verspotteten, tat gar nichts. Vielleicht wollte er vermeiden, Mino und Jamai herzurufen. Dabei hätte er wissen müssen, dass sie ihn niemals im Stich lassen würden.



Diesmal war es ein Stein. Sie hatte es genau gesehen. Mino ächzte leise, so sehr fühlte sie den Schmerz mit.



»Warte«, flüsterte Jamai dicht an ihrem Ohr.



Worauf denn?, hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Das können wir doch nicht zulassen!



Sie waren nur zu zweit, und hier trieben sich mindestens zwanzig Soldaten herum. Um es mit einer solchen Übermacht aufzunehmen, hätte man ein Riese sein müssen. Und sie hatten nicht einmal mehr ihre Waffen. Um einen genialen Plan zu entwerfen, blieb keine Zeit. Noch spielten die Feinde wie eine Katze mit der Maus, aber Mino machte sich keine Illusionen darüber, was sie vorhatten. Sie ging davon aus, dass Kroa bereits verletzt war, sonst hätten die Männer ihn gar nicht gefangennehmen können.



Sie zwang sich, den Blick von dem grausamen Schauspiel zu lösen. Was konnten sie anderes tun, als sich in einen aussichtslosen Kampf zu stürzen, in dem sie alle sterben würden? Keinen Moment zweifelte sie daran, dass es so kommen musste, wenn ihnen nichts anderes einfiel.



»Wir müssen schnell sein«, flüsterte Jamai. »So schnell wie nie. Das ist unsere einzige Chance.«



»Was soll ich tun?«, fragte Mino leise.



»Du lenkst sie ab«, sagte er, und sie konnte sich gut vorstellen, wie schwer es ihm fiel, das vorzuschlagen. »Bring sie dazu, dich zu verfolgen. So viele wie möglich. So weit weg wie möglich. Ich muss da hochklettern, um Kroa loszuschneiden. Ich brauche Zeit.«



»Die verschaffe ich dir«, versprach sie, ohne irgendeine Ahnung davon zu haben, was sie tun würde.



Das Bündel, das im Baum hing, wimmerte. Nur ein Laut, doch er fuhr ihr durchs Herz. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat aus der Deckung.



Die Steine, die Mino immer bei sich trug, fanden wie von selbst den Weg in ihre Hände. Sie sprangen hoch in die Luft und kamen anhänglich zurück zu ihr.



»He, was will die denn hier?« Der erste Soldat hatte sie bemerkt.



Sie sagte nichts. Still und geheimnisvoll trat die weißhaarige Frau zwischen die Männer, nichts bei sich als die tanzenden Steine. Drei waren es, nein vier, dann sogar fünf, sie verwirbelten vor den Augen der Zuschauer. Einen Moment lag ein Zauber über ihnen allen, in einer Schneewelt des Schweigens, dann streckte der Erste die Hand nach ihr aus.



Sie warf. Hart. Schneller, als man zusehen konnte, zielgenau, mit einer Sicherheit, die von innen heraus kam, die nichts zu tun hatte mit der Angst um den Zwerg im Baum und ihrer Wut auf die grausamen Männer. Fünf Steine. Und fünf Soldaten fielen, niedergestreckt. Dann drehte sie sich um und rannte.



Tausende schienen nach ihr zu greifen, unzählige Arme streckten sich nach ihr aus. Mino tauchte unter ihnen hindurch, stieß einen Soldaten beiseite, huschte gewandt zwischen den zupackenden Händen des nächsten hindurch und verschwand im Wald. Sie drehte sich nicht um, sie zählte nicht, wie viele sie auf ihre Spur gelockt hatte, wie viele sie von Kroa wegführte. Es interessierte sie nicht, wie groß ihre Chance war, ihnen zu entkommen, ohne Vorsprung, ohne sich hier auszukennen, nichts als ein Wild, gehetzt von der Meute. Das Leben, das sie führte, hatte sie gestählt, stark und ausdauernd gemacht und gewiss kam sie nicht so bald außer Atem, aber ihre Verfolger waren kräftige, im Kampf geübte Männer und voller Wut.



Ihr einziges Heil lag in der Flucht. Sie sprang durch Büsche, unter Ästen hindurch, sprang wie ein Reh, schlug Haken wie ein Kaninchen, und hörte die Feinde doch immer noch hinter sich. Es blieb ihr nichts übrig, als zu rennen, in die Nacht, durch den Schnee. Nicht einmal die Hoffnung war ihr vergönnt, die Soldaten im Schutz der Dunkelheit abschütteln zu können, denn schon zog im Osten der Morgen herauf. Ihre Spuren waren im Schnee deutlich zu erkennen. Die Schnellsten waren so dicht hinter ihr, dass ihr sowieso keine Zeit blieb, sich zu verstecken. Dafür verbarg die dicke weiße Schicht alle Wurzeln, Löcher und Äste, über die man stolpern konnte. Mino strauchelte, rappelte sich nach Atem ringend auf, sah plötzlich auch von der anderen Seite einen Mann auf sich zukommen. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken an einen Baumstamm stieß.



»Nun haben wir dich«, sagte einer, und das Ganze kam ihr vor wie ein Traum, in dem man laufen will, laufen, nur laufen, aber die Füße versinken im Schnee und es gibt kein Entrinnen.



Sie blickte ihnen entgegen, dann wandte sie sich um und sprang hoch, bis sie den nächsten Ast greifen konnte. Von dort aus zog sie sich weiter nach oben, und schließlich blickte sie keuchend auf die Soldaten hinunter, die sich unter dem Baum versammelt hatten.



»Die hole ich da runter«, versprach einer, aber ein anderer lachte: »Lass sie. Von da aus kann sie uns nicht entwischen. Ein falscher Schritt und sie rutscht aus und bricht sich das Genick. Bewacht den Baum. Wir kehren zu den anderen zurück.«



Zu den anderen. Nun wusste sie, dass sich nicht alle an die Verfolgung gemacht hatten, dass noch etliche Soldaten bei Kroa geblieben waren. Sie horchte auf den Lärm eines Kampfes, aber der Wald lag ruhig da, ins graue Licht der Dämmerung gehüllt, und nichts verriet ihr, ob ihre Freunde bereits tot waren oder ob es Jamai gelungen war, mit Kroa zu fliehen. Ihre Gelassenheit, was ihr eigenes Schicksal betraf, wunderte sie selbst. Aber nachdem ihr Herzschlag sich beruhigt hatte, kam es ihr nicht mehr ganz so schlimm vor, dass sie nicht weiterfliehen konnte. Sie hatte ihr Bestes gegeben, nun würde geschehen, was auch immer geschehen musste.



Der Waldboden unter ihr war unendlich weit entfernt, sie hatte keine Ahnung, wie sie überhaupt den glatten Stamm und die eisglatten Äste hochgekommen war. Ihre steifgefrorenen Finger wurden rot und taub, und sie bezweifelte, dass sie es aus eigener Kraft schaffen würde, vom Baum herunterzusteigen. Trotzdem konnte sie den herrlichen Sonnenaufgang genießen, wie sie noch nie irgendeinen Morgen genossen hatte. Vielleicht war es der letzte. Das Licht, das durch die kahlen, schneebedeckten Wipfel kroch, schien den Wald zu entflammen. Rötliche Glut verzauberte die überfrosteten Zweige. Funken spielten in ihrem weißen Haar und küssten es mit demselben rosigen Glanz wie den Schnee.



»Mino?« Dort unten am Fuß des Baums stand Jamai. Sie sah sein Gesicht wie aus weiter Ferne. »Geht es dir gut?«



Keine Soldaten mehr. Wo waren sie hin?



»Du kannst jetzt herunterkommen.«



Ihre Finger ließen sich nicht biegen.



»Ich kann nicht.«



»Was?«, schrie er von unten herauf.



»Ich kann nicht!«, rief sie zurück und lehnte ihre Wange an die kalte Rinde. Sie wusste nicht, wie lange sie sich noch festhalten konnte. Hier oben, wo es nicht vor und nicht zurück ging …



»Mino.« Er war auf dem Ast unter ihr. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie er den Baum hochgestiegen war. »Mino, gib mir deine Hand.«



»Was ist mit Kroa?«



»Er ist in Sicherheit. Komm. Höher kann ich nicht hinauf.«



Sie wagte es, kurz zu ihm hinunterzuschauen. Er streckte den Arm nach ihr aus und konnte doch nicht einmal ihre Füße erreichen. »Mino, komm.«



Ihre Kraft reichte kaum noch aus, um den Ast zu umklammern. Sie hatte sich völlig verausgabt und nun brachte sie es nicht einmal fertig, ein winziges Stück hinunterzuklettern. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie zugab: »Wenn ich loslasse, falle ich.«



»Ich habe hier einen ganz guten Stand«, sagte Jamai. »Ich fange dich auf. Komm, lass los. Kroa geht es gut. Ich hatte ihn gerade geholt, da kamen die Männer des Königs. Ezirs Soldaten haben nicht gekämpft, sie sind einfach vor der Übermacht geflohen. Komm, meine Liebe.«



»Des Königs?«, fragte sie, ohne zu begreifen. »Was für ein König?«



»König Oka«, erklärte Jamai. »Oka wirft alle Fürsten hinaus, die Zukata ihm zugeteilt hat. Er entfernt sie wie Flöhe aus seinem Pelz … Komm, Mino. Jetzt, bevor ich auch noch hier einfriere. Sie haben ein Feuer angezündet, siehst du es dort durch die Bäume? Kroa ist verletzt, er braucht dich so schnell wie möglich.«



Dieser Satz drang endlich durch ihre Erstarrung. Mino löste vorsichtig eine ihrer Hände vom Ast. Sofort rutschten ihre Füße über die eisüberzogene Rinde. Sie schrie auf, als sie fiel – und dann waren Jamais Arme da. Er lachte leise vor Erleichterung, während er sein Gewicht ausbalancierte. »Komm. Wir müssen da hinunter. Ich kann dich nicht tragen, dann fallen wir beide. Hier, setz deinen Fuß genau dorthin …«

 



Es dauerte lange, sehr lange, aber sie verbot sich zu zweifeln. Gehorsam folgte sie seinen Anweisungen. Er hielt ihre Hände fest, als er sie auf einen tiefer liegenden Ast hinunterließ. Während er ihr dabei in die Augen sah, sprach er mit seiner angenehmen tiefen Stimme beruhigend auf sie ein. Ihre Knie zitterten, als sie endlich festen Boden unter den Füßen spürten. Sie lehnte sich gegen Jamai und schloss die Augen.



»Mein Wintermädchen«, flüsterte er. »Schneemädchen. Meine Schneeeule.«



»Eule?« Sie öffnete die Augen wieder und sah sein Grinsen.



»Bist ihnen einfach davongeflogen.«



»Möwe, wenn ich bitten darf.«



Er lachte wieder, dann nahm er ihre Hände in seine und rieb sie sanft. »Komm. Bist du in der Lage, nach Kroa zu sehen? Und ein paar von den Männern des Königs sind reichlich angeschlagen.«



Auf dem Weg zurück hielten sie den Schritt Abstand zwischen sich nicht ein, den sie sich auf ihren Märschen angewöhnt hatten. Kroa, der blass und nach Luft ringend im Wachhaus lag, hob vielsagend die Brauen, als er die beiden Hand in Hand hereinkommen sah.



»Nun?«, fragte Mino betont munter. »Wo tut es weh?«



»Mir tut alles weh«, beschwerte Manina sich, als sie am Abend von den Pferden stiegen. Wieder waren sie einen ganzen Tag fast ununterbrochen unterwegs gewesen. Die Prinzessin schwankte und stützte sich gegen ihre Freundin.



»Es tut mir leid, Euch Unannehmlichkeiten zu bereiten«, sagte Erion steif.



»Ach ja?«, fragte Maja. »Und warum müssen wir dann so rasch voran? Ihr könntet auch eine Kutsche bestellen und die Schwester des Kaisers angemessen reisen lassen. Eure nichtssagende Höflichkeit macht mich krank!«



Immer wieder brach der Zorn aus ihr heraus. Am Anfang hatte Manina versucht, sie zu beruhigen, indem sie ihr die Hand auf den Arm legte und sie um Mäßigung bat. Aber falls Erion sich über die aufbrausende Art der Arimerin ärgerte, ließ er es seine Gefangenen nicht spüren. Er war stets zuvorkommend und unerbittlich.



»Der Winter steht vor der Tür«, erklärte er. »Falls Ihr diesen Ritt schon als unangenehm empfindet, dann wartet, bis es erst richtig kalt wird.«



»Zukata hätte die Prinzessin ja auch im Frühling zu sich bitten können.«



»Kaiser Zukata bittet nicht«, entgegnete Erion.



»Lass gut sein«, murmelte Manina, die es nicht leiden konnte, wenn Maja mit ihm stritt. Als Erion den Besitzern des Hauses, vor dem sie hielten, mitteilte, dass sie es für diese Nacht dem Kaisergänger und seinen Leuten zur Verfügung stellen mussten, wandte sie sich an ihre Mitgefangene. »Er führt nur Befehle aus. Du solltest ihm nicht so zusetzen.«



»Ach, er ist nur ein armer, bedauernswerter Diener, wie? Ha!« Maja wollte sich nicht länger anhören, wie Manina immer wieder versuchte, Erion zu verteidigen. »Für jemanden wie ihn solltest du dir wirklich keine Entschuldigung ausdenken. Nur weil Erion nicht grob zu uns ist, heißt das noch lange nicht, dass er ein freundlicher Mensch ist. Er müsste das nicht tun. Das weißt du so gut wie ich. Er könnte uns auch laufenlassen, wenn er wollte.«



»Du verstehst das nicht«, sagte die ehemalige Kaiserin. »Du bist immer frei gewesen. Aber ich weiß, wie es zugeht bei den Mächtigen. Wenn man Befehle erteilt, die nicht jedem schmecken, und trotzdem erwartet, dass sie ausgeführt werden. Wir sind nicht seine Gefangenen, sondern Zukatas. Also hör endlich auf, ihm böse zu sein. Was tut er denn schon? Er bringt mich zu meinem Bruder, damit ich bei ihm im Palast lebe. Das ist zwar nicht das, was ich mir ausgesucht hätte, aber wenn er das verlangt, habe ich doch keine Wahl.«



Maja schüttelte den Kopf. »Wie kann es sein, dass ich mehr über Zukata weiß als du? Haben sie dir nie erzählt, wie er ist?«



»Was meinst du damit?«, fragte Manina scharf. »Ich war es schließlich, die von ihm entführt wurde. Und ich habe ihn auch als Erwachsene getroffen.« Sie würde niemals den Todestag ihres Vaters vergessen. Den Augenblick, als aus der brüderlichen Umarmung des Riesen, den sie für Keta hielt, der brutale Griff eines Feindes wurde.



Maja schüttelte nur den Kopf.



»Meine Damen.« Erion öffnete ihnen die Tür des Hauses, als gehörte es ihm. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Die Soldaten hinter ihnen, wie immer mit unbeweglichen Gesichtern, als ginge sie das Ganze nichts an, ließen ihnen keine andere Möglichkeit. Drinnen waren eine ältere Frau und zwei Mädchen damit beschäftigt, Speisen aufzutragen. Manina bemerkte den Schweiß auf ihrer Stirn, die zitternden Hände, während die drei sich um das leibliche Wohl der unverhofften Gäste kümmerten.



»Schön habt ihr es hier«, sagte sie und ließ sich auch nicht davon irritieren, dass Maja die Augen verdrehte. »Wir bedanken uns für eure Freundlichkeit.«



Die Frau nickte nur kurz, sie vermied es, irgendjemanden von ihnen anzusehen. Nur ihre Töchter warfen verstohlen ängstliche Blicke auf die Fremden.



Erion störte das nicht im Geringsten. Er verteilte Wachposten im Haus; vor allen Türen und Fenstern platzierte er jemanden. Auch am Stall, das sah Manina durchs Fenster, nahmen einige Männer Aufstellung.



»Ich habe nur neun gesehen«, überlegte sie. »Sind wir nicht mit zwölf losgeritten? Es waren ein Dutzend Soldaten, als sie uns aus dem Silbernen Krug geholt haben. Außer Erion.« Es gelang ihr fast, seinen Namen so auszusprechen, als würde er ihr nichts bedeuten. »Am ersten Tag waren es nur noch elf. Das weiß ich genau, ich habe sie mehrmals gezählt. Warum sind es jetzt nur noch neun? Schickt er sie aus, um Kunde von unserer Ankunft zu geben?«



»Dann hast du es also auch gemerkt«, sagte Maja leise und nahm dankend einen Becher Wasser entgegen. »Wir haben einen unsichtbaren Begleiter.«



»Ich habe daran gedacht, aber es kann doch nicht sein …« Manina wollte es immer noch nicht glauben. »Das würde er nicht tun. Nicht Tamait.« Sie hatte Majas Bruder als guten Freund kennengelernt, als jemanden, auf den immer Verlass war, auch wenn er sich hin und wieder mit ihr zankte. »Er ist doch kein Mörder. Er würde nie aus dem Hinterhalt auf Menschen schießen. Es muss eine andere Erklärung dafür geben.«



»Es ist Tamait«, widersprach die Arimerin.



»Wie kannst du das wissen? Hast du ihn gesehen?«



Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es.«



»Du traust deinem Bruder wirklich zu, dass er diese Soldaten hinterrücks ermordet?«



»Ermordet?« Die junge Frau lachte grimmig. »Wie sonst soll ein Einzelner kämpfen? Ich hatte gehofft, er würde Keta holen, aber dazu ist nicht genug Zeit. Manina, mein Bruder versucht, dich zu retten, sonst nichts.«



»Zukata will, dass ich im Palast lebe. Das ist zwar ärgerlich, aber ich kann es nachvollziehen. Er kann nicht riskieren, dass ich mich mit seinen Gegnern verbünde. Maja, dafür sollte niemand sterben. Wir müssen Tamait irgendwie mitteilen, dass er aufhören soll!«



Ihre Freundin blickte sie nachdenklich an, mit ihren großen dunklen Augen, die oft zu viel von ihren Gefühlen verrieten. Das, was sie jetzt sagen würde, wollte sie eigentlich für sich behalten.



»Glaubst du wirklich, Zukata kann riskieren, dich in Kirifas wohnen zu lassen? Dich, die ehemalige Kaiserin?«



Manina schluckte. »Er würde mich nicht umbringen. Nein, das glaube ich nicht. Selbst wenn er es wollte. Es würde seinem Ansehen zu sehr schaden.«



»Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich auf dieser Reise dabei sein muss«, sagte Maja. »Mittlerweile glaube ich, dass Erion eine Zeugin braucht. Eine Zeugin der Gegenseite. Jemanden, der beschwören kann, dass Zukata seine Schwester nicht töten ließ, dass er unschuldig ist. Dass es nur ein Unglücksfall war, während er sie in Ehren nach Hause bringen ließ.«



»Nein«, flüsterte Manina. »Nein, Maja, nein, bestimmt nicht!«



»Wenn Tamait dasselbe annimmt – meinst du nicht, dass er diesen Kampf um deine Rettung genauso führen würde, wie er es gerade tut? Genauso heimlich und genauso gnadenlos?«



Ihr Entführer beriet sich am anderen Ende des Raumes mit einem seiner Soldaten. Wenn die junge Prinzessin ihn ansah, machte ihr Herz einen Sprung, wurde ihr heiß und kalt, war sie glücklich und traurig zugleich.



»Dafür würde Fürst Erion sich nicht hergeben«, beteuerte sie.



Vielleicht spürte er, dass die Mädchen über ihn redeten, denn er sah kurz zu ihnen herüber durch die erleuchtete Stube. Ohne zu lächeln. Ein Blick, kühl und abschätzend; er hätte Manina Tränen in die Augen getrieben, wenn sie daran geglaubt hätte, dass Erion nicht mehr fühlte als das, weniger als nichts. Aber das tat sie nicht. Sie so anzuschauen, war nichts als seine Methode, diese Reise irgendwie zu überstehen, ohne überwältigt zu werden von dem, was zwischen ihnen war, was dort auf jener Lichtung begonnen hatte. Damals war ihm nicht klar gewesen, wer sie war. Und jetzt – wie hätte er, der König einer verlorenen Insel, sich Hoffnungen machen dürfen auf die Schwester des Kaisers? Er verbarg seine Gefühle, aber sie waren ganz bestimmt da. Durch den Raum hindurch konnte sie wahrnehmen, wie sein Herz schneller schlug.



Sie starrte auf den Tisch, in ihren Becher, und unterdrückte ein Lächeln. Oh, er wusste, dass sie es wusste. Dass sie alles wusste. Es war wie ein Spiel, nur zwischen ihnen beiden.



»Du bist verloren«, sagte die Arimerin traurig. »Ich werde mein Bestes tun, um dich zu retten. Hoffen wir, dass es reicht.«



Wenn verloren sein hieß, in Erions Nähe bleiben zu dürfen, dann wollte Manina nicht gerettet werden.



In der Nacht, die beide Mädchen auf dem kleinen Dachboden verbrachten, wurden sie von lautem Geschrei geweckt. Maja stürzte an das winzige Eulenloch und spähte hinaus. Im Mondlicht rannten mehrere Gestalten hin und her, doch von hier aus war nicht zu erkennen, was da vor sich ging. Am liebsten hätte die junge Zinta ein Loch ins Dach geschlagen und wäre nach unten geklettert, um zu laufen, immer weiter zu laufen, in den Wald, zu Tamait. Aber aus dieser Schlafkammer gab es kein Entkommen, unten wachten zu viele Soldaten, und sie hatte keine Waffe. Selbst das beste Schwert hätte ihr nicht viel genützt, musste sie sich eingestehen, denn sie war nicht die herausragende Kämpferin, die es mit mehreren Gegnern gleichzeitig aufnehmen konnte. Erst als es irgendwann wieder ruhig wurde, legte sie sich wieder hin. Der Schlaf wollte nicht kommen, so viele Fluchtpläne, einer waghalsiger als der andere, tanzten durch ihren Geist und zogen bunte Fäden hinter sich her, bis sie sich in dem immer komplizierter werdenden Muster unauflösbar verstrickte.



»Was war heute Nacht los?«, fragte Manina, als die ersten Sonnenstrahlen die unzähligen Staubkörnchen in der Luft des Dachbodens zum Funkeln brachten.



»Dann hast du doch etwas gehört? Ich dachte, du schläfst wie ein Stein und träumst etwas Schönes.«



»Sind die Damen wach?«, erklang von unten Erions Stimme. »Dann möchte ich Euch bitten, herunterzukommen.«



Maja beugte sich über den Rand der Luke. »Warum stellt Ihr dann nicht die Leiter wieder hin?«



»Es gibt keine Leiter«, sagte Erion.



»Gestern gab es doch noch eine.«



»Sie wurde heute Nacht beschädigt.«



»Ach.« Hatte Tamait es wirklich geschafft, bis ins Haus einzudringen? »Und wie sollen wir dann nach unten gelangen?«



»Wir werden Euch dabei behilflich sein.« Zwei Soldaten schoben den schweren Holztisch unter die Öffnung. Erion stieg hinauf und streckte ihr die Hände entgegen. »Kommt.«



»Das fehlte noch, dass ich mich von Euch anfassen lasse.« Das Zinta-Mädchen schwang die Beine über den Rand, drehte sich auf den Bauch und sprang leichtfüßig auf den Tisch. Manina dagegen starrte mit schreckgeweiteten Augen nach unten. »Das kann ich nicht.«



»Ihr könnt«, befand Erion.



»Aber …« Die Prinzessin sah in seine ernsten grauen Augen. Sie entdeckte kein Lächeln darin, kein ermutigendes Zuzwinkern, nur die Last, die er trug. Als wäre es das ganze Kaiserreich – und war es nicht nur die winzigste seiner Inseln?



Erion wartete ohne ein Zeichen von Ungeduld, obwohl seine Anweisungen sonst immer ohne Zögern ausgeführt wurden. Manchmal staunte sie darüber, dass er nur mit einem befehlenden Blick seine Männer dazu bringen konnte, alles zu tun, was er verlangte.

 



Sie setzte sich auf den Rand der Luke und sprang in seine Arme.



Er hielt sie nicht länger als nötig. Er schwankte nur leicht und ließ sie dann sofort wieder los.



»Wie gut, dass ich keine Riesin bin, nicht wahr?« Sofort schämte sie sich, dass ihr diese Bemerkung so herausgerutscht war. Natürlich hätte eine Riesin keine Schwierigkeit damit gehabt, von diesem Dachboden herunterzuspringen. Und sie hätte Erion, wenn er denn trotzdem so vermessen gewesen wäre, sich ihr in den Weg zu stellen, unter sich begraben. Mit dem Blut der Sterngeborenen in den Adern wäre sie immer noch Kaiserin und würde nicht unter Geleitschutz nach Kirifas gebracht werden. Alles wäre anders gekommen. Nein, Erion lachte nicht über den misslungenen Scherz. Aber seine Mundwinkel hoben sich doch, ein klein wenig – wenn es keine Täuschung war – und da war wieder dieses Gefühl, dass sie einander verstanden, dass da etwas zwischen ihnen war, bereit, zu beginnen, wie ein Keim, den der Gärtner bereits in die Erde gelegt hatte, eine Blumenzwiebel, die den Frost und den Winter nicht fürchten musste, sondern dazu bereit war, bei den ersten wärmeren Sonnenstrahlen bunt und blühend hervorzukommen.



Manina hielt erschrocken die Luft an.



Auf der Küchenbank lag ein Toter. Einer der Soldaten. Aus seiner Brust ragte ein gefiederter Pfeil. Maja beugte sich gerade über ihn.



»Ja, schaut ruhig genau hin«, meinte Erion grimmig.



»Ein toter Soldat«, sagte Maja. »Nun, Ihr habt Prinzessin Manina entführt. Überrascht es Euch, dass diejenigen, die ein solches Verbrechen begehen, mit dem Leben bezahlen müssen? Ich wundere mich nur, dass Ihr die Leiche hier im Haus aufbahrt. Wolltet Ihr uns damit Angst einjagen? Oder dachtet Ihr, kleine Mädchen wie wir würden in Ohnmacht fallen?«



»Oh, von Euch habe ich sicherlich nicht erwartet, dass Ihr zusammenbrecht«, sagte Erion. »Zunächst einmal wollte ich sehen, ob Ihr überrascht seid. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ihr wisst genau, dass Euer Bruder dafür verantwortlich ist, Prinzessin. Und Ihr werdet dafür sorgen, dass er damit aufhört.«



»Zunächst einmal: Nennt mich nicht so!«, fauchte Maja. »Ich bin keine Prinzessin. Meine Mutter wurde zwar zur Königin von Arima gekrönt, aber sie hat diese Krone abgelehnt und dort zurückgelassen. Sie ist keine Königin und ich keine Prinzessin. Ärgert mich nicht mit diesem völlig unnötigen ›Ihr‹ und ›Euch‹ und dem ganzen Kram. Und zum Zweiten: Glaubt Ihr wirklich, ich würde Euch helfen, Eure üblen Pläne auszuführen? Warum sollte ich? Womit wollt Ihr mir drohen, was Ihr nicht sowieso tun werdet?«



Sie warf Manina einen schnellen Blick zu, wie um ihr mitzuteilen: Sieh genau hin. Hör genau zu. Du wirst sehen, wer er wirklich ist. Verpass es ja nicht.



Erion schüttelte den Kopf wie über ein ungezogenes Kind, das nicht begreift, was die Erwachsenen reden.



»Prinzessin Maja«, sagte er und bewies ihr somit, wie wenig er auf ihre Worte und ihre Wünsche gab, »was ich tue und was nicht, liegt ganz allein in meinem Ermessen. Aber auf manche Dinge habt Ihr durchaus Einfluss. Wir werden gleich weiterreiten, und ich rate Euch, meine Anweisungen ganz genau zu befolgen.«



»Ihr wisst nicht, mit wem Ihr Euch angelegt habt«, flüsterte sie. Mit den Kindern der Amazone. Mit den beiden, die Mino für geeignet hielt, Manina zu beschützen. Und das würden sie tun, sie und Tamait, koste es, was es wolle.



»Oh doch«, widersprach er. »Das weiß ich.«



»Wenn Ihr nicht den Rest dieser Reise auf diese Weise zurücklegen wollt, überlegt Euch, wie Ihr unseren unerwünschten Begleiter zurückpfeifen könnt.«



Maja hätte ihrem Widersacher am liebsten ins Gesicht gespuckt, aber er sah aus sicherer Entfernung zu, während einer der Soldaten ihr die Hände hinter dem Rücken zusammenband. Sie durfte nicht mehr mit Manina auf einem Pferd sitzen. Die Prinzessin hatte eins der nun herrenlosen Tiere bekommen und war ebenfalls gefesselt. Es bereitete Maja eine wilde Genugtuung, dass Erion Tamait so fürchtete, dass er sich um seine Gefangenen ernsthafte Sorgen machte.



Die Anzahl seiner Männer war auf acht geschrumpft. Immer noch genug, um die Mädchen Tag und Nacht sorgfältig zu bewachen. Aber diese acht waren unruhig und blickten ständig um sich. Von überall her konnte ein tödlicher Pfeil angeflogen kommen. Erion wich an diesem Tag erstmals vom Weg ab, der sie noch lange durch den Wald geführt hätte, und