Der Thron des Riesenkaisers

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Sorayn fühlte die ganze Last des Mitleids mit ihnen und ihrer Schwäche und ihrer Verzweiflung. Wie viele würden sterben, wenn er floh? Und trotzdem konnte er nicht bleiben. Er konnte sich nicht selbst zum Gefangenen machen. Wie hätte er sein eigenes Leben dafür opfern können – für Menschen, die weiterhin in Knechtschaft lebten? Leiden, damit sie weiterhin leiden konnten? Er horchte in sich hinein, ob der Segen, der ihm schon einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, ihm befahl, alles aufzugeben und hier zu bleiben, aber er fühlte nur das unwiderstehliche Bedürfnis in sich, aufzustehen und in der Dunkelheit zu verschwinden. All das und alle diese Menschen hinter sich zu lassen.

Er konnte sich nicht für sie opfern.

»Ich nehme jeden von euch mit, der mich darum bittet«, zwang er sich zu sagen, obwohl er davon träumte, allein zu gehen, obwohl er mit raschen Schritten Toris und seiner Sippe nacheilen wollte. Aber wenigstens das konnte er noch für diese Arbeiter tun. Vielleicht hatte ja tatsächlich Rin ihn zu ihnen geführt, um ihnen den Weg in die Freiheit zu bahnen. »Auch wenn ich befürchte, dass die meisten von euch zu feige sind, um die Gelegenheit zu nutzen, wenn sie sich bietet.«

»Nicht alle sind so stark wie du«, flüsterte der Zinta.

»Wie stellst du dir das vor?«, rief einer, und zwei Frauen schrien erschrocken auf, als auf einmal Staub und Spinnweben von der Decke auf sie herabregneten.

»Er darf nicht fliehen! Wachen!« Sie drängten sich doch tatsächlich an den Ausgang und riefen verzweifelt. »Wachen!«

Als Sorayn aufstand und die Arme auseinanderriss, fiel die Kette rasselnd von ihm ab. Im nächsten Moment schon öffneten einige Soldaten die Tür, um zu sehen, was der Lärm sollte.

Merkwürdigerweise spürte er keinen Zorn in sich, als er auf sie zutrat, die Kette schwingend, als er sie auseinandertrieb und durch sie hindurchschritt, nach draußen. Er fühlte sich dabei nicht froh. Kummer hing an ihm wie ein weinendes Kind, das sich an seinen Rücken klammerte.

Das Mädchen! Er wandte sich noch einmal um. »Gib mir deine Enkelin«, sagte er zu der Alten, die mit den anderen an die Rückseite der Scheune gewichen war und mit schreckensgeweiteten Augen seinen Ausbruch beobachtete. »Man soll mir nicht nachsagen, ich ließe Kinder für mich sterben.«

»Geh«, flüsterte die alte Frau.

»Nein!« Ein paar hysterische Arbeiterinnen hielten die Kleine fest. »Nein! Wenn sie geht, muss noch jemand sterben! Dann bringen sie noch einen um!«

Sorayn schüttelte den Kopf. Die Traurigkeit kroch ihm in den Nacken und krümmte ihn, schwerer als jeder Sandsack, den er geschleppt hatte. Mit einigen raschen Schritten war er bei den Gefangenen, die sich an das Mädchen klammerten, die Hände in seine Arme krallten, in sein Haar, als wollten sie es nie wieder loslassen. Musste er jetzt schon gegen Frauen kämpfen, gegen hungrige, geschwächte, versklavte Frauen, um ein Kind zu retten? Seine Wut verlieh ihm sonst eine rauschhafte Sicherheit im Kampf, doch jetzt, während er nichts als diese dumpfe Bedrücktheit fühlte, kam ihm jede seiner Bewegungen ungelenk vor. »Gebt sie mir«, befahl er.

»Nein!« Ihre Augen weit aufgerissen, hasserfüllt, fast wahnsinnig vor Angst und Verzweiflung. Hatte Fria, die Riesin, ihm nicht beigebracht, eine Frau zu schlagen? Und doch fiel es ihm schwer, er zögerte, er wünschte sich, sie würden ihm einfach gehorchen, so wie sie dem Aufseher gehorchten und den Wünschen des Fürsten Folge leisteten.

Er verlor zu viel Zeit. Die Soldaten, die er in die Flucht geschlagen hatte, würden in Kürze mit Verstärkung wiederkommen. Wenn er nicht wollte, dass alle vierzig für ihn starben, musste er jetzt verschwinden.

Die Augen des Kindes. Ohne Hass. Erschrocken, ja, aber ohne jene panische Angst, welche die anderen dazu gebracht hatte, sich auf es zu stürzen.

Er wandte sich um. Hinter ihm rief die Großmutter: »Bitte, bitte, nimm sie mit!«

»Soldaten!«, schrie jemand. »Wo bleiben die Soldaten?«

Sorayn trat vor den Balken, der die Scheune trug, umarmte ihn wie einen langvermissten Freund, wie einen zweiten Riesen. Nein, Maja würde er so nicht umarmen, mit einer Kraft, die ihr die Rippen gebrochen hätte. Staub und Heu rieselten von oben herab, ein Ächzen und Wimmern tönte aus allen Winkeln, das Holz kreischte auf …

Die Frauen ließen das Mädchen endlich los und rannten um ihr Leben. Sämtliche Gefangenen strebten kreischend zum Ausgang. Nur die Alte und ihre Enkelin blieben in der hintersten Ecke, als hätte er ihnen befohlen, dort zu warten.

Die hohen Holzwände wankten und wackelten … Er gab dem Balken einen letzten Stoß, lief zu den beiden, die auf ihn warteten – hatte er dieses Vertrauen verdient, dass sie dazu brachte, nicht mit den anderen zu fliehen? –, und warf sich gegen die Bretter. Er zog seine Schützlinge durch die entstandene Öffnung, bevor die ganze Scheune mit einem tiefen Seufzer zusammenfiel.

»Geh mit ihm, Kind«, sagte die Alte. »Ich würde euch nur aufhalten. Kümmert euch nicht um mich! Flieht!«

»Großmutter! Nein!«

Er wartete nicht länger, hob das Mädchen hoch und verschwand in die Nacht hinein.

Er war es nicht gewohnt, Rücksicht zu nehmen. Sie kamen viel zu langsam vorwärts und die Kleine weinte viel. Sorayn war gezwungen, ständig darauf zu achten, dass er sie nicht irgendwo hinter sich verlor. Sie rief nicht, wenn er aus ihrem Blickfeld verschwand, und einmal musste er sie suchen, nachdem er sich länger nicht nach ihr umgedreht hatte.

»So geht das nicht«, sagte der Riesenprinz. »Du musst etwas sagen, wenn du nicht so schnell kannst. Bei Rin, kannst du nicht sprechen?«

Sie sah ihn nur an und Tränen quollen aus ihren Augen.

»Soll ich dich tragen?«

Aber als er die Hände nach ihr ausstreckte, wich sie vor Schreck wimmernd zurück. Auf keinen Fall wollte sie getragen werden.

Es dauerte mehrere Tage, bis er aus ihr herausbekam, wie sie hieß.

»Ori.«

»Was? O-ri?« Er fragte mehrmals nach, denn dieser Name kam ihm merkwürdig vor, aber er war, wie sie ihm versicherte, durchaus üblich.

»Zwei meiner Freundinnen heißen auch so«, sagte sie und dachte dabei vielleicht an die Zeit, in der sie in einem Dorf gelebt hatte, ohne irgendetwas von Fürst Pidor zu wissen, eine Zeit, bevor sie mit ihrer Großmutter in der Knechtschaft gelandet war, denn sie versank wieder in ihr Schweigen, aus dem er sie lange Zeit nicht befreien konnte.

Eine Weile gingen sie auf der Straße, denn Ori fiel es schwer, über Gestrüpp und Dornenranken zu steigen, doch immer wieder ritten Soldaten vorbei. Sorayn hoffte, einen Kampf vermeiden zu können. Er musste sich darauf konzentrieren, für die Verpflegung zu sorgen. Da ihre Verfolger immer noch in der Nähe waren, durfte er kein Feuer anzünden. Jetzt im Herbst bot der Wald Nahrung im Überfluss, Beeren, Pilze, Nüsse, Wurzeln. Sorayn brachte Ori Hände voll schwarzer, süßer Beeren, überreif und köstlich. Gemeinsam sammelten sie Bucheckern und knackten Nüsse. Obwohl die Nächte jetzt schon empfindlich kalt wurden, konnte er dem Mädchen nichts anderes anbieten als eine Kuhle im Waldboden, zugedeckt mit Blättern und Zweigen, und weiches Moos als Kopfkissen. Manchmal weinte sie stundenlang, bis sie vor Erschöpfung einschlief, und am Morgen waren ihre Augen tränennass. Der Prinz hatte nicht das Gefühl, sie gerettet zu haben. Sie schien von einer Gefangenschaft in die nächste geraten zu sein, ausgeliefert einem dunklen Schicksal, dem sie nicht entrinnen konnte, und mehr als alles andere wünschte er sich, endlich die bunten Wagen des Ziehenden Volks vor sich zu sehen, wo sie sich am Feuer aufwärmen konnten, wo Gesang und Gelächter hoffentlich selbst dieses verschlossene, traurige Kind davon überzeugen konnten, dass es in dieser Welt mehr gab als Hunger, Müdigkeit und Kälte. Mit Maja zusammen, so träumte er manchmal, wäre diese Reise herrlich gewesen. Ori dagegen war wie ein Sack Sand, wie etwas, das er Tag und Nacht schleppen musste, ohne je das Ziel zu erreichen.

Obwohl sie so langsam vorwärtskamen, zweifelte er nicht daran, dass er die Sippe einholen würde. Toris und seine Brüder und Schwestern waren spät dran; in den Süden würden sie es vor dem Winter sowieso nicht mehr schaffen. Bald würden sie für längere Zeit das Lager aufschlagen, und dann war es nicht schwer, sie zu finden.

»Halte durch«, sagte er zu Ori. »Bald sind wir da.«

Die Grenze von Pidors Herrschaftsbereich überquerten er und das Mädchen nicht auf der Straße – wo man sie zweifellos an einem Schlagbaum aufgehalten hätte –, sondern im Dickicht, wo keine Soldaten lauerten. Und erst jetzt atmete er wirklich auf. Das Fürstentum ihres Peinigers lag hinter ihnen, weiter durfte er seine Wachen nicht schicken. Sie hatten es tatsächlich geschafft, ohne aufgehalten und in weitere Kämpfe verwickelt zu werden.

Sorayn wagte es auch wieder, den befestigten Weg zu benutzen. Unverkennbare Anzeichen wiesen darauf hin, dass die Zintas hier durchgekommen waren. Wagenspuren, die Hinterlassenschaften von Pferden und Vieh, die Stellen, an denen sie angehalten hatten – all das hatte ihn auch schon beim ersten Mal, als er nach der Sippe gesucht hatte, geleitet.

»Riechst du es?«, fragte er und führte seine kleine Begleiterin von der Straße weg in einen lichten Wald. »Den Geruch von Feuer und Gebratenem? Kinder spielen dort, und hörst du die Hühner und die Ziegen?«

»Ja«, rief das Mädchen aufgeregt.

Da leuchteten schon die bunt angestrichenen Wagen zwischen den Stämmen hervor, ein paar Frauen rührten in den Töpfen über ihren Feuerstellen, lang vermisste Düfte lockten ihn aus dem Wald heraus.

War er jemals irgendwohin gekommen und zu Hause gewesen – außer damals, als er bei Liravah lebte? Doch jetzt fühlte es sich an wie eine Heimkehr, und mit einem Mal verstand er sehr viel besser, warum Keta die Gemeinschaft mit diesen Menschen dem Leben in einem Palast vorzog.

 

Die Kinder riefen seinen Namen, sobald sie ihn sahen, und wenig später kam ihm sein Schwiegervater entgegen. »Sorayn!« Die Erleichterung stand in sein Gesicht geschrieben. »Rin sei Dank, du bist ihnen entkommen!«

Toris drückte ihn fest. »Kommt alle her, er ist wieder da!«

Ori versteckte sich hinter seinem Rücken. »Später«, versprach der Prinz, wenn die Zintas nach ihr fragten. Viel erzählte er nicht. Wie hätte er davon sprechen können: dass nun, da er geflohen war, drei Menschen für ihn umgebracht wurden. Sogar für das Kind würde ein anderer sein Leben lassen müssen. So sehr hoffte Sorayn, dass die anderen Gefangenen die Gelegenheit genutzt und das Weite gesucht hatten, aber so mutlos, wie er sie erlebt hatte, bezweifelte er das.

»Seid ihr gut über die Grenze gekommen?« Es war ihm lieber, sich über die Erlebnisse der Sippe zu unterhalten.

Toris nickte. »Als du mit den Soldaten mitgegangen bist, gaben sie uns ein Siegel für freies Geleit. Das haben wir vorgezeigt und wurden ungehindert durchgelassen. – Danke, Sorayn.« Und dann sagte er auf einmal: »Maja ist auch in Laring. Gar nicht weit von hier.«

Sein Herz schlug hoch auf. »Tatsächlich? Sie ist hier?«

»Du bist ein guter Junge.« Im Blick des dunkelhaarigen Mannes lag sehr viel Wärme. »Du hast es verdient, dass sie dir noch eine Chance gibt. – Bei Rin, bis heute wusste ich nicht, dass ich es dir sagen würde. Aber ich will erleben, dass diese Geschichte ein gutes Ende nimmt. Geh zu ihr und bring es in Ordnung.«

Sorayn nickte. »Das werde ich tun.«

Am nächsten Morgen gackerten die Hühner besonders laut. Der Prinz, der Toris’ Angebot angenommen hatte, in seinem Wagen zu schlafen, schreckte hoch und blickte aus dem Fenster. »Das kann nicht wahr sein!«

»Was ist los?«, fragte sein Schwiegervater verschlafen.

Der junge Riese nahm sich nicht die Zeit zu antworten. Er stürmte nach draußen.

Schwer bewaffnete Soldaten hatten das Lager umstellt. Ihre Gesichter verrieten viel zu wenig, als warteten sie noch auf die Erlaubnis, sich ungeniert darüber zu freuen, dass sie die Zintas überrumpelt hatten.

»Was fordert der Herr des Landes von uns?«, fragte einer der älteren Brüder. Er trug den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht wie Sorayns Mitgefangene, dieselbe resignierte Traurigkeit wie Ori.

»Oh nein«, murmelte Toris. »Nicht schon wieder! Wie sollen wir jemals in den Süden kommen, wenn sie ständig alle etwas von uns wollen?«

»Ich bin da«, beruhigte Sorayn ihn. Und laut sagte er: »Der Fürst kann sich gerne unsere Aufführung am nächsten Markttag ansehen. Sicher besteht kein Bedarf daran, jetzt schon ein Schauspiel zu erleben.«

»Das ist der Kerl, ohne Zweifel«, sagte einer der Soldaten. »Sehr groß, schwarze Haare, blaue Augen. Fürst Pidor wird zufrieden sein.«

»Das hier ist nicht sein Gebiet!«, rief der Riesenprinz empört. Er hatte es bis hierher geschafft – es konnte doch nicht möglich sein, dass es selbst hinter der Grenze kein Entkommen vor diesen Leuten gab!

»Das Land gehört ihm nicht, aber du schon.« Der Sprecher gestattete sich endlich ein Grinsen. »Wirel, der Fürst dieses Landes, ist ganz und gar nicht zufrieden damit, dass sich hier Diebesgesindel niedergelassen hat, das versucht, die Edlen des Königreiches Laring um seinen Tribut zu betrügen. Du wirst uns unverzüglich folgen. Des Weiteren verlangt Fürst Wirel den üblichen Wegzoll von diesem Pack.«

Er hatte sich umsonst geopfert, hatte umsonst tagelang in der Knechtschaft ausgeharrt. Es hörte nicht auf. Es hörte einfach nicht auf!

»Wie lange soll das noch so gehen?«, fragte Sorayn. »An der nächsten Grenze wieder? Und dann wieder? Wird jeder Landesherr sich einen Leibeigenen aus unserer Mitte nehmen? Wie sollen wir so je in den Süden kommen?«

»Sei ruhig«, bat Toris. »Reize sie nicht noch mehr. Siehst du nicht, wie viele es sind? Das ist eine halbe Armee. Dagegen hast selbst du keine Chance.«

»Wir können keinen von uns opfern«, sagte eine der Zinta-Frauen gequält. »Haben wir nicht beim letzten Rat beschlossen, dass wir uns nicht trennen wollen? Wir werden für den Fürsten arbeiten, wenn es nicht anders geht, aber wir bleiben zusammen.« Tränen füllten die feinen Gräben in ihrer braunen Haut.

»Eine kluge Entscheidung.« Der Soldat nickte. »Aber der Große dort wird bestimmt wieder Schwierigkeiten machen. Kreist ihn ein.«

Die Männer schienen nur auf diesen Befehl gewartet zu haben; sofort ritten sie auf ihn zu. Ihre Pferde trampelten über alles hinweg; eins der erhobenen Schwerter durchtrennte eine Wäscheleine.

»Rasch!«, riefen ein paar Zintas. »Lauf, Sorayn! Du kannst uns doch nicht mehr helfen! Lauf, bevor alles noch schlimmer wird!«

Er hatte nicht die Absicht, wegzulaufen. »Bringt die Kinder in den Wagen. Lasst sie nicht zusehen.« Die Soldaten versuchten, ihn zu umkreisen. Er blieb stehen und wartete, bis sie Stellung bezogen hatten. »Ergib dich!«, brüllte einer, der wohl ihr Anführer war.

»Es wird nur schlimmer«, rief Toris. »Immer nur noch schlimmer! Kämpf nicht für uns, das bringt nichts. Denk an Maja. Lauf! Lauf!«

Aber Sorayn konnte diese erneute Androhung von Gewalt nicht hinnehmen. »Versucht es«, sagte er. »Ihr werdet sehen, was ihr davon habt.«

»Glaubst du, du hast auch nur den Hauch einer Chance? Wenn sie dich an die Mühle geschmiedet haben«, kündigte der Hauptmann an, »werden sie dich blenden. Man braucht keine Augen, um das Rad zu drehen.«

Der Schmerz brach aus ihm heraus. Der junge Riese brüllte auf, griff nach einem der Speere, die auf ihn gerichtet waren, und wirbelte herum. Die Soldaten, die um ihn herumstanden, fegte er zusammen wie Unrat. Der Rappe des Offiziers stieg; Sorayn pflückte den Mann herunter und schleuderte ihn gegen die Angreifer, mitten hinein in die scheuenden, wiehernden Pferde. Irgendwo kreischten ein paar Frauen, während Sorayn wie ein Sturm über die Feinde kam, ein Herbststurm, wie ihn noch keiner erlebt hatte. Seine Wut entlud sich über ihnen. Er merkte nicht einmal mehr, ob sie schrien, ob sie schnell starben oder nicht und ob sie ihn um Gnade anbettelten. Blitze zuckten durch seine Adern, seine Faust krachte wie der Donner in sie hinein, ein Unwetter, das nicht enden wollte. Den Flüchtigen setzte er nach, riss sie von den Pferden, stampfte sie in den Boden.

»Oh bitte! Oh bitte, bitte, bitte!«

Aber er musste tun, was der Schmerz ihm befahl.

Irgendwann erreichte die Stimme sein Ohr.

»Oh bitte!«

Da standen die Ziehenden und schauten ihn an. Männer und Frauen und Kinder.

Nun würde man auch sie jagen wie tollwütige Füchse … Nun gab es erst recht keinen Ausweg mehr. »Es wird immer nur noch schlimmer«, flüsterte er. »Du hattest recht, Toris.« Er starrte auf seine blutigen Hände.

»Du musst damit aufhören«, sagte sein Schwiegervater leise. Der Einzige, der noch neben ihm stand, der sich traute, in seine Nähe zu kommen, ins Zentrum des Sturms. »Du musst aufhören, Sorayn.«

Er blickte in die dunklen Augen des Zintas und las das gleiche Entsetzen darin, das er selbst empfand.

»Was bin ich?«, fragte er. »Ein Ungeheuer?«

»Du kannst nicht jeden töten«, sagte Toris. »Auch wenn sie uns gefangen nehmen wollen, auch wenn sie uns quälen und umbringen … Du kannst sie nicht alle töten. Was willst du tun? Gegen ganz Deret-Aif kämpfen?«

»Nein. Nur gegen einen. Ich werde nach Kirifas gehen und Zukata vom Thron stürzen.«

Toris sah ihn an und schüttelte besorgt den Kopf.

»Grüß Maja«, sagte Sorayn. »Bitte sie in meinem Namen um Verzeihung für alles. Aber ich kann jetzt nicht zu ihr, ich kann unser Glück nicht über die furchtbaren Dinge stellen, die in diesem Land geschehen.«

Toris nickte.

»Vertrau mir. Ich bringe alles wieder in Ordnung. Das verspreche ich dir.«

»Versprich nicht zu viel«, sagte Toris und ging zurück zu den anderen, und Sorayn wandte sich ab von dem, was er getan hatte, und verschwand im Wald.

8. Das Herz der Königin

V O ND E RA N H Ö H Eaus konnten Tamait und Manina die Soldaten beobachten, wie sie in einer Reihe den schmalen Weg hinaufgeritten kamen. Die Gefangene saß hinter einem von ihnen auf dem Pferd, den Kopf gesenkt. Langes, schwarzes Haar fiel über ihr Gesicht.

Der junge Mann blickte sich nervös um. »Erion ist nicht dabei«, flüsterte er. »Schon seit Tagen. Ich frage mich, was er vorhat.«

»Glaubst du, er kommt aus einem Hinterhalt gesprungen?«, fragte die Prinzessin. Sehnsüchtig musterte sie die Reiter. Einer von ihnen war blond und trug keinen Helm, und doch war sie sich selbst aus dieser Entfernung sicher, dass es nicht der Mann war, für den sie schwärmte. Sie hätte ihn erkannt, an seiner Haltung, an der Art, wie er das Land überblickte, immer wachsam. Diese Reiter sahen dagegen alles andere als wachsam aus. Nein, keine Spur von Erion.

»Warum hat er Maja bei ihnen gelassen? Ich wette, er will, dass wir in der Nähe bleiben. Und dann kommt er mit einem Dutzend Männer und nimmt uns in die Zange.« Tamaits Hand zuckte zu seinem Schwert, als hinter ihm ein Zweig knackte. Doch nur ein kleiner Vogel hüpfte durchs Gebüsch. »Das macht mich wahnsinnig. Ich sollte sie endlich angreifen und es beenden.«

»Du allein gegen sechs Soldaten?«

»Maja kämpft sehr gut.«

»Maja ist gefesselt. Und du kannst nicht angreifen, ehe sie nicht in Sicherheit ist.« Besänftigend legte Manina ihm die Hand auf den Arm. »Es wird eine Gelegenheit kommen. Bestimmt. Wenn sie durch die Furt müssen …«

»Dort werden sie wachsamer sein als irgendwo sonst.« Tamait biss sich grimmig auf die Lippe. Nie würde die junge Prinzessin vergessen, wie fassungslos er gewesen war, als er in jener Nacht ihrer Flucht feststellen musste, dass seine Schwester es nicht geschafft hatte. Nur mit Mühe und Not hatte Manina ihn dazu bewegen können, nicht blindlings zurückzustürmen. Am Morgen hatte er sie um Verzeihung gebeten dafür, dass er sie nicht in Sicherheit bringen konnte, bevor er nicht alles Menschenmögliche für Maja getan hatte.

»Glaubst du, ich kann mich verkriechen, während meine Freundin in Gefahr ist?«, hatte sie entgegnet und war ein wenig beleidigt gewesen, weil er so tat, als sei er der Einzige, der unter dem Verlust litt. Die zusammen verbrachte Zeit bei den Zintas und im Dorf hatte sie alle drei so verbunden, dass die ehemalige Kaiserin das schwarzhaarige Mädchen als ihre zweite Hälfte empfand, als unentbehrlich, die einzige Freundin, die sie je besessen hatte.

Der junge Mann atmete tief durch. »Tut mir leid. Dich zu beschützen ist das, was in diesem Moment das Wichtigste ist. Für uns alle. Für ganz Deret-Aif. Auch Maja hätte es so gewollt. Dass ich so weit wie möglich mit dir fliehe. Aber ich kann nicht. Verstehst du das? Es geht einfach nicht. Ich kann sie nicht im Stich lassen.«

»Das Wichtigste für Deret-Aif«, flüsterte Manina. Sie betrachtete ihre Hände, rau geworden von der Küchenarbeit im Silbernen Krug, die Hände einer Magd. Sie war keine Regentin mehr. Sie hatte ihren Rang abgestreift wie den goldenen Kopfschmuck, der ihr von Anfang an zu groß gewesen war. »Das«, meinte sie, »ist für jeden etwas anderes. Ist es nicht so? Und heute ist Maja wichtig. Nur Maja.«

Sie hatten einander zugenickt.

Die blonde Prinzessin hasste es, ständig beschützt zu werden. So war es schon im Palast gewesen. Von Anfang an war sie wie ein Schatz behandelt worden, ein wertvolles Objekt, um das man sich stritt. Es kam auf gar keinen Fall in Frage, dass Tamait mit ihr floh, während Erion Maja in die Hauptstadt brachte. Manina wünschte sich nur, sie hätte ihm helfen können. Während ihrer Ausbildung in Kirifas hatte Blitz, ihr unvergleichlicher Lehrer, sie zwar auch mit dem Schwert bekannt gemacht, aber sie hatte lieber seinen Geschichten gelauscht, als sich mit einem Stück Metall in der Hand im Dreck zu wälzen. Nie würde sie vergessen, wie überrascht ihre Rieseneltern gewesen waren, als sie herausfanden, dass ihre menschliche Tochter sich nicht gerne prügelte. Schon als Kind konnte sie körperliche Gewalt nicht ausstehen, und sie wäre gar nicht auf die Idee gekommen, zum Spaß jemanden zu schlagen und sich über Gegenwehr, Gerangel und eigene blaue Flecken zu freuen.

Letztendlich war sie für alle eine Enttäuschung gewesen. Für ihren Vater Kanuna, ihre Mutter Fanes, sogar für das Volk von Deret-Aif, dem zu dienen sie geschworen hatte. Nur in Majas und Tamaits Nähe fühlte Manina sich akzeptiert, so wie sie war.

 

»Es wird eine Gelegenheit kommen«, wiederholte sie. »Verdirb es nicht durch Ungeduld, mein Freund.«

Er knurrte etwas. Sie hielten beide still, als die Reiter, ohne sie zu bemerken, an ihnen vorüberzogen und über die Kuppe des Hügels in der nächsten Senke verschwanden.

»Komm.« Tamait zog sie durch das Gebüsch auf den Weg. »Da unten ist die Furt … Vielleicht werden sie dort versuchen, uns zu fassen. Wenn es nur nicht so viele wären!«

Manina hatte ihm verboten, die Soldaten aus dem Hinterhalt abzuschießen. Deswegen war sie etwas empfindlich, wenn er auf die Zahl ihrer Gegner zu sprechen kam. Wenn es ihnen nicht gelang, Maja zu retten, war sie schuld, das wusste sie. Sie konnte dem jungen Krieger nicht wirklich helfen und behinderte ihn auch noch in allem, was er unternehmen wollte. »Am Ufer.« Sie hatte nur diesen einen Vorschlag. »Sie müssen absitzen und die Pferde dazu bringen, durch den Bach zu schwimmen. Dann reiten wir los und …« Die Erwartung ließ ihr Gesicht aufglühen. Tamait sah sie an und schüttelte den Kopf. »Ist das ein Befehl, Prinzessin?«

Sie hatte nichts mehr zu befehlen. Warum er überhaupt etwas auf ihre Meinung gab, war ihr ein Rätsel. »Nur eine Idee. Eine bessere habe ich leider nicht.«

»Ich auch nicht.« Tamait wirkte finster und sehr erwachsen. Er erinnerte sie immer mehr an Blitz, seinen Onkel, wenn diesen die Schwermut plagte. »Dann wollen wir mal.«

Es war natürlich eine dumme Idee, aber sie hatten einfach keine bessere. Seit Tagen verfolgten sie diese Soldaten und es ergab sich nicht die geringste Gelegenheit zum Angriff. Maja war ständig von Wachen umgeben. Sie hatten keine Möglichkeit gefunden, ihr ein Zeichen zu geben. Sie konnten auch keine Falle errichten oder einen Platz vorher inspizieren, denn die Reise ging kreuz und quer übers Land. Es sah nicht danach aus, als würden sie auf Kirifas zuhalten oder sonst ein Ziel verfolgen. Die Furt war der erste Ort, den sie sich schon vorher angesehen hatten, einfach weil die Männer mit ihrer Gefangenen über diesen Bach mussten, wenn sie nicht umkehren wollten. Und das hatten sie, wie es schien, auch nicht vor.

Die beiden Verfolger holten ihre Tiere, die sie etwas weiter weg vom Pfad versteckt hatten, und saßen auf.

»Wir stürmen auf sie zu«, sagte Manina noch einmal. »Du setzt Maja zu mir aufs Pferd und ich reite weg, während du sie aufhältst.«

Es klang so einfach, dass es fast genial war, und dennoch wussten sie beide, dass es nicht gelingen konnte. Wenn man sich gestattete, darüber nachzudenken, war es geradezu idiotisch. Zweifellos waren sie dabei, sehenden Auges in eine Falle zu tappen.

»Ja«, sagte Tamait. »So machen wir es.«

Er war wütend auf sie, das wusste sie, wütend auf die ganze Situation, wütend auf Erion, in dem er seinen Todfeind sah und dessen Namen sie nicht über die Lippen brachte. Erion. Sie hatte sich geirrt, als sie dachte, Tamait hätte nicht gemerkt, was sie fühlte. Doch jetzt mussten sie sich beide auf ihr Vorhaben konzentrieren. Die junge Frau wandte sich dem Fluss zu.

Erions Männer hatten begonnen, die ersten Pferde durchs Wasser zu führen. Das schwarzhaarige Mädchen saß am Ufer und machte keinerlei Anstalten, wegzulaufen. Niemand schien auf sie zu achten.

»Na los«, sagte Tamait. »Tun wir ihnen den Gefallen.«

Sie trieben die Pferde an und sprengten den Hang hinunter. Die Soldaten riefen einander Warnungen zu und zogen ihre Schwerter. Fünf waren es jetzt; der sechste war schon fast drüben und würde nicht schnell genug umkehren können. Die Prinzessin suchte das jenseitige Ufer nach weiteren Feinden ab – vielleicht versteckte Erion sich dort mit einem ganzen Heer? –, aber noch zeigte sich niemand. Oder er wartete ab, bis die beiden so dicht dran waren, dass sie nicht mehr entkommen konnten.

»Maja!«, schrie Manina. » Zu mir! Lauf!«

Die Gefangene hatte sich aufgerappelt und rannte zwischen den Soldaten hindurch, ihr entgegen. Das schwarze Haar wehte hinter ihr her wie die Mähne eines galoppierenden Pferdes. Nur – es war gar nicht Maja.

Tamait senkte den langen, starken Ast, den er mit seinem Schwert zurechtgehauen hatte. Ein einziger Stoß fällte den ersten Gegner.

Die junge Frau hatte keine Zeit, weiter auf ihren Mitstreiter zu achten. Sie streckte dem fliehenden Mädchen die Hände entgegen und zog es hoch, bäuchlings über den Pferderücken, dann riss sie ihre Stute herum und jagte den Hang wieder hoch. Niemand verfolgte sie; die Soldaten umkreisten Tamait.

Manina ließ die Gerettete oben am Waldrand ins Gras rutschen. »Warte hier. Ich muss ihm helfen.«

Die Fremde krallte sich in ihren Arm. »Nein! Nein, lass mich nicht hier allein!«

Tamait zog gerade sein Schwert, stellte sich auf den Pferderücken und sprang von dort aus über die Köpfe der Männer.

»Lass mich los!« Sie versuchte das Mädchen, das sich mit seiner ganzen Kraft an sie hängte, abzuschütteln. Sie fielen beide zu Boden. Tretend und um sich schlagend machte die junge Prinzessin sich frei, war im nächsten Moment wieder auf dem Pferderücken und hetzte zurück zum Bach, dorthin, wo Tamait gleichzeitig gegen fünf Soldaten focht. Dort unten lag der zersplitterte Ast, den Tamait hatte fallen lassen. Manina bückte sich danach, ohne langsamer zu werden; das Holzstück war recht schwer, aber sie wuchtete es hoch und stürmte damit auf die Kämpfenden zu.

»Vorsicht!«, schrie einer und drehte sich zu ihr um, aber da war sie schon über ihm und schmetterte ihm ihre Waffe auf den Schädel. Den zweiten erwischte sie an der Schulter und brachte ihn schreiend zu Fall. Die braune Stute stieg erschrocken. Der Dritte wich den Pferdehufen aus und achtete dabei nicht auf Tamait. Die letzten beiden Soldaten warfen sich ins Wasser und retteten sich ans andere Ufer.

Der siegreiche Krieger lachte auf. Blut rann ihm aus einer Wunde an der Stirn und er hinkte, als er versuchte, sein Pferd wieder einzufangen.

»Das war … alle Achtung, Manina. Eine Amazone hätte es nicht besser gemacht. Wo ist Maja? Ich dachte, sie würden dich ihretwegen verfolgen, aber sie haben sich alle einfach auf mich gestürzt.« Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und betrachtete seinen blutigen Ärmel. »Nur schnell weg hier.«

Die junge Prinzessin zitterte so, dass sie sich kaum im Sattel halten konnte.

»Keine Verstärkung«, meinte Tamait zufrieden. Sie konnte seine Müdigkeit spüren, aber die Freude überlagerte alles. »Es war doch keine Falle.«

»Doch«, widersprach Manina und wünschte sich, sie brauchte sein Glück nicht zu vernichten. Müde und leer fühlte sie sich, und sie hätte es ihm so sehr gegönnt, froh und stolz zu sein über ihren gemeinsamen Triumph, statt ihn in die Niedergeschlagenheit herunterzuziehen. »Es war eine. Sie haben uns gründlich hereingelegt.«

»Aber …« Er blickte zu der Gestalt hinüber, die oben am Waldrand auf sie wartete. Ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar. Selbst aus dieser Entfernung ähnelte sie Maja. Und war doch eine andere.

»Das ist nicht meine Schwester«, sagte er gepresst. Verzweiflung und Wut glommen in seinen Augen auf. »Bei Rin, du bist die Falsche!«

Die Fremde zuckte vor seinem Zorn zurück. »Ich kann nichts dafür!«, rief sie und hob die Hände, um sich gegen die erwarteten Schläge zu wehren. »Sie haben mich entführt! Ich konnte doch nichts machen!«

Tamait atmete tief durch. Er hatte nicht vor, sie zu schlagen, aber offenbar war sie es gewöhnt, misshandelt zu werden. »Wer bist du – Schwester?«

Sie war eine dunkelhäutige Ziehende. Und sie sah übel zugerichtet aus. Ihr rechtes Auge begann anzuschwellen, ihre Lippe war aufgeplatzt, und die tiefen Kratzer in ihrer Wange bluteten. »Bei Rin! Wer hat dich so zugerichtet?«

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