Der Erbe des Riesen

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Es war nicht zu erkennen, ob Sorayn überhaupt irgendetwas sah. Er verfolgte keine Gegenstände mit seinen Augen, die das einzig Schöne an ihm waren, er schaute nicht in die Gesichter seiner Eltern. Er lächelte nicht. Wenn er wach war, lag er da und träumte. Das sanfte Schaukeln des Kahns befreite ihn von den fürchterlichen Schmerzen, die ihn sonst ständig heimsuchten; Blitz fand, dass er geradezu zufrieden aussah.

»Er liebt Schiffe«, sagte er zu Ilinias. »Vielleicht wird er Seefahrer, so wie mein Vater. Das würde mir gefallen. Vielleicht findet Sorayn meinen Vater ja irgendwann. Sie heuern zusammen auf demselben Schiff an und stellen verwundert fest, dass sie verwandt sind. Oder nein, mein Vater ist sicher längst Kapitän. Und er wird Sorayn zu seinem Maat machen und ihm irgendwann das Schiff vererben.«

Ilinias verzog das Gesicht. Sie wussten beide, dass Sorayn niemals Seefahrer werden würde. Er würde überhaupt nichts werden. Manchmal wusste sie nicht, ob Blitz einfach nur gerne träumte und sich dabei vorstellte, dieses Kind wäre anders, oder ob er wirklich solche unglaublichen Hoffnungen hegte.

»Er wird immer so bleiben«, sagte sie. »Er wird daliegen und in den Himmel starren.«

»Oh nein«, widersprach Blitz. »Er wird krabbeln und laufen, so wie alle Kinder. Du kannst das, Sorayn, nicht wahr? Wenn die richtige Zeit gekommen ist, wirst du das tun. Oder willst du erst segeln lernen und dann laufen?« Er beugte sich über den Kleinen und kitzelte ihn sanft. Nicht einmal darauf reagierte Sorayn, aber es schien Blitz nicht zu stören.

»Wie soll er jemals krabbeln und laufen, wenn er sich nicht bewegt?«

»Er ist noch klein. Das kommt noch alles.«

»Ach ja, und wann?« Sie fühlte wieder, wie Scham und Sorge, Trauer und Wut sie überrollten. »Und wenn nicht? Was ist, wenn er so bleibt? Wirst du es noch niedlich finden, ihn zu wickeln, wenn er fünf ist? Oder zehn? Oder zwanzig?« Oder wirst du dann irgendwann hoffen, dass er endlich stirbt? So wie ich es tue? Aber das waren Gedanken, die sie in Blitz’ Gegenwart nicht auszusprechen wagte. Er schien dieses Kind tatsächlich zu lieben und sie wollte sich nicht zu seiner Gegnerin machen. Es war schlimm genug, dass sie ihm dieses wie leblos daliegende Ding zum Sohn gegeben hatte.

»Dann kümmern wir uns eben um dich«, sagte Blitz zu Sorayn. »Egal, ob du fünf oder zehn oder zwanzig bist. Ich werde mir ein Boot kaufen und du kannst mit mir segeln und in den Himmel schauen. So machen wir es, ja?«

»Du würdest was?«, fragte Ilinias entgeistert. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«

»Warum nicht, wenn es ihm gut tut?«, fragte Blitz zurück. »Und du siehst ja selbst, dass es ihm gefällt, auf dem Wasser zu fahren. Ja, ein Boot, für uns drei, Sorayn, nicht?«

»Ich will nicht auf einem Boot leben!«, protestierte Ilinias. Vielleicht war das alles für Blitz ein Spaß, ein Spiel, eine Träumerei, aber ihr war es bitterernst. »Hör doch endlich auf! Ich kann das nicht ertragen!«

Blitz hob den Kopf und sah sie an. »Was kannst du nicht ertragen?«

Dass du mit ihm sprichst, als könnte er dich verstehen. Dass du mit ihm spielst, als wäre er ein normales Kind. Dass du ihn so ansiehst, als wäre er liebenswert.

»Nichts«, sagte sie leise und wandte sich ab. »Nein, gar nichts.«

In der Bucht von Henten wechselten sie auf ein anderes Schiff, das sie die Küste hoch mitnehmen sollte, an Tors vorbei, zwischen den Inseln von Peh hindurch, bis zu den Glücklichen Inseln. Es war Spätherbst, eine Jahreszeit, in der die Blätter rot und gelb leuchteten und die Wiesen mit einem goldenen Teppich bedeckten. Dieselbe Strömung, der Blitz immer wieder sein Leben abgerungen hatte, trug sie jetzt rasch vorwärts. Die Luft um das Schiff herum war warm und das Holz heizte sich dermaßen auf, dass es kaum möglich war, barfuß über das Deck zu gehen.

Blitz legte Sorayn trotzdem auf die Planken, denn er hatte den Eindruck, dass dem Kind die Wärme gut tat. Stundenlang sprach er mit ihm, während Ilinias eifersüchtig und unruhig übers Deck schlenderte und auf unverschämte Worte oder Blicke der Matrosen wartete, damit sie sie mit funkelnden Augen in die Enge treiben und wüste Beschimpfungen gegen sie ausstoßen konnte, bis der Kapitän Blitz bat, seine Frau zur Mäßigung anzuhalten.

Arima. Blitz lachte, als er die Umrisse der Insel vor sich sah. Er legte den Arm um Ilinias. Gequält lächelte sie ihn an.

»Wie ich mich freue. Ich werde dir alles zeigen, die Plantagen und den Hafen und den Strand. Ach ja, und die Steilküste und den Wald …«

»Ich bin schon so gespannt darauf«, versicherte sie ihm. Sie wusste nicht, wie lange schon sie alles, was wirklich in ihrem Herzen war, vor ihm verbarg. Jedes ihrer Worte war eine Lüge, aber hatte sie denn eine Wahl? Er liebte sie dafür, dass sie schön war und stolz und furchtlos, für ihren Freiheitsdrang und ihre Leidenschaft – wie hätte sie da zugeben können, dass sie sich schwach und voller Angst fühlte und dass Scham und Sorge sie zerfraßen?

»Vier Jahre«, sagte Blitz leise, als sie in den Hafen von Arima einfuhren. »Und doch kommt es mir viel länger vor, wie ein ganzes Leben.« Er legte den Arm um Ilinias’ Schulter. »Es sieht hier genauso aus wie damals …«

Sie gingen den Weg durch die Dünen, und er wurde nicht müde, sich umzusehen und alles wiederzufinden. Ilinias schob das Tuch über Sorayns Köpfchen zurecht, als ihnen die ersten Menschen begegneten.

»Blitz! Das gibt es doch nicht. Blitz!«

»Das sind alles Leute aus dem Dorf«, erklärte er. »Jetzt ist Erntezeit. Hier werden jetzt tagelang die geernteten Früchte im Hafen verladen.«

»Dann hat dein Bruder wahrscheinlich keine Zeit für uns«, hoffte Ilinias.

Er lächelte nur. Es war kein langer Fußmarsch ins Dorf der Pflücker, und doch kostete jeder Schritt auf einmal rätselhaft viel Kraft.

»Ich bin so aufgeregt«, bekannte er.

Das kleine Haus, in dem er seine Kindheits- und Jugendjahre verbracht hatte, hatte sich kaum verändert. Nur an dem Kirschbaum, den er selbst zusammen mit El Jati gepflanzt hatte, erkannte er, wie viel Zeit verstrichen war. Alikas Blumen und Jasminsträucher verströmten ihre intensiven Düfte, aber vielleicht wehte die überwältigende Süße auch von den Plantagen herüber.

Blitz blieb stehen. Er atmete tief durch. »Merkwürdig«, sagte er leise. »Als wäre ich nie fortgewesen … Als hätte ich dies alles nur geträumt … Und doch bringe ich dich mit und unseren Sohn.«

Bevor er den Gartenweg bis zum Haus gehen und klopfen konnte, öffnete Alika die Tür und flog ihm entgegen.

Die beiden Kinder waren etwa ein halbes Jahr alt. Sie ähnelten einander nicht, obwohl beide schwarzes Haar hatten, weder von ihrem Äußeren her noch von ihrem Temperament. Maja, vom Hauttyp dunkler, war die Wildere. Zart und klein von Gestalt, gehörte doch das ganze Haus ihr und nichts war vor ihr sicher. Tamait überließ es seiner Zwillingsschwester, auf Händen und Knien die Welt zu erobern, aber er war stets dicht hinter ihr, als müsste er sie dabei beschützen.

Ilinias betrachtete die beiden hübschen Kinder mit glühendem Neid. Zwei. Gesund und schön. Obwohl sie nicht zu den Frauen gehörte, die versessen auf den Nachwuchs anderer Leute sind, hätte sie doch alles dafür gegeben, ihren Sohn gegen ihren Neffen einzutauschen.

Sie hatte sich abgewandt, als Jatis Frau sich über Sorayn beugte. »Ach, Blitz«, sagte Alika schließlich. Und Ilinias weinte still in sich hinein, während sie ihn stillte und wickelte und tat, als wäre er ein ganz normales Kind, so wie Tamait und Maja. Ihre Schwägerin war so herzlich und freundlich, und doch tat jedes Wort, das sie nicht über Sorayn sagte, weh.

El Jati kam spät abends nach Hause. Er hatte schon erfahren, dass sein Bruder auf der Insel war. Freudig trat er ins Haus, doch bevor er Blitz begrüßen konnte, fiel sein Blick auf Ilinias.

Er starrte sie an, wie vom Donner gerührt. Er sagte kein Wort.

»Hallo, El Jati«, sagte Blitz. »Schön, dich wiederzusehen. Das ist meine Frau, Ilinias.«

»Ilinias«, wiederholte Jati. Es klang wie ein Schluchzen. »Deine – deine Frau?«

»Blitz ist da, zusammen mit seiner Familie.« Alika ging ihm entgegen, besänftigend. Noch ahnte keiner von ihnen, was ihn so verstörte. »Jati, was hast du?«

Auch Ilinias bewegte sich nicht. »Ich kenne dich«, sagte sie langsam. »Du hast mich besucht, im Kloster, nicht wahr?«

»Ihr kennt euch?«, fragte Alika verwirrt.

»Ilinias«, flüsterte Jati. »Das ist das Mädchen, das ich ins Kloster brachte.«

»Du?«, fragte Blitz verständnislos. »Was hast du denn mit ihr zu tun?«

»Oh nein«, sagte Alika. »Sag, dass das nicht wahr ist. Es kann doch nicht wahr sein?«

»Wer bist du?«, fragte Ilinias. »Bist du mein Vater? Mein Onkel? Oder was? Sag mir jetzt endlich, was das zu bedeuten hat!«

»Ich bin dein Bruder«, sagte El Jati. »Dein Halbbruder. Und Blitz auch. Wir sind beide deine Brüder.« Er starrte von ihr zu Blitz und wieder zurück. »Wie hast du sie gefunden? Warum hast du ausgerechnet sie zu deiner Frau gemacht? Oh Rin, das kann doch alles nicht wahr sein! Ihr müsst euch trennen. Trennt euch, bevor es zu spät ist und ihr schwachsinnige Kinder bekommt, die nicht lebensfähig sind …«

Ilinias schluchzte auf. Sie stürzte an ihm vorbei, durch die noch offen stehende Tür, und verschwand im Garten. Blitz wollte ihr nach, aber Alika fasste ihn am Arm.

»Warte«, sagte sie. »Warte, Blitz. Lass ihr ein wenig Zeit.«

Blitz schüttelte den Kopf. »Warum, Jati? Wie – wie können wir eine Schwester haben? Und warum im Kloster?« Er weinte. »Sieh«, sagte er, »sieh her, das ist unser Kind. Das ist unser Sohn.«

Er zog El Jati zu dem Korb, in dem Sorayn lag, er zeigte seinem entsetzten Bruder das Kind, das wie leblos da lag und schwer atmete.

 

»Das wollte ich nicht.« Jati brach zusammen. Und so ging dieser Tag, der ein Tag des fröhlichen Wiedersehens hatte sein sollen, unter Tränen und Geheul zu Ende.

Als es schon dunkel draußen war und Ilinias immer noch nicht zurückgekehrt war, ging Blitz sie suchen. Er hatte erwartet, dass sie im Garten war, bei den Blumen, und dass er sie in den Arm nehmen konnte und beruhigen und wieder hereinholen, aber sie war nicht da. Er suchte zwischen den Häusern des Dorfes, er rief: »Ilinias!«, aber alles blieb still.

Blitz stand auf dem breiten Dorfweg und horchte in die Nacht hinaus. Die Insel war klein und doch noch zu groß; Ilinias konnte überall sein. Er zögerte, aber schließlich kehrte er zum Haus seines Bruders zurück.

»Ich habe sie nicht gefunden«, sagte er zu ihren erwartungsvollen Gesichtern.

El Jati sprang auf. »Ich helfe dir.«

Alika nickte ihm zu. »Ja, tu das. Nehmt Laternen mit. Ich bleibe bei den Kindern.«

Draußen hing die Nacht schwer über ihnen. Eine Brise wehte vom Meer über sie hin, salzig und frisch. Das alles war Blitz so vertraut, er konnte kaum glauben, dass er in Kirifas ohne das Meer hatte leben können.

»Geh du an den Strand«, sagte El Jati. »Ich sehe in den Plantagen nach.«

Sie trennten sich, jeder eine Laterne in der Hand. Die kleinen Lampen tanzten, während sie gingen, während sie riefen. »Ilinias! Ilinias!«

Blitz stand am Strand. Sand sickerte durch seine Schuhe. Er hörte, wie die Wellen sich leise schäumend am flachen Ufer brachen.

»Ilinias?«

Der kühle Wind war hier stärker, aber es war kein eisiger Winterwind. Vielleicht brachte er Sturm, aber vielleicht zog auch alles an ihnen vorbei und suchte das Festland heim. Die Nacht war ruhig. Es war eine Nacht, in der man gemeinsam um einen Tisch hätte sitzen sollen, um Wein aus Krügen zu trinken, in der er von seinen Abenteuern hatte erzählen wollen, davon, wie es ihm ergangen war, seit er ohne ein Wort verschwunden und als Gefangener einer Räuberbande nicht mehr hatte zurückkehren können. Ilinias hätte dabei neben ihm sitzen sollen, lächelnd. Endlich hast du dich mal entschieden, würde Alika sagen. Und was für eine gute Wahl! Sie würde Ilinias zuzwinkern. Willkommen in unserer Familie.

Er ging am Strand entlang und träumte davon, wie es hätte sein können. Und dann, auf einmal, ungerufen, blitzte ein Gedanke in ihm auf: Mino.

Die Ehe mit Ilinias war ungültig. Er war wieder frei.

Mino.

Er erschrak vor der Macht der Sehnsucht, die ihn plötzlich ergriff. Sein Herz hämmerte wie wild. Er blieb stehen und sah aufs Meer hinaus, schimmernd unter dem dunklen Himmel.

Mino.

Der Augenblick war wieder da, als er sie im Arm gehalten hatte, als ihr weißes Haar seine Wange kitzelte … Oh nein, denk es nicht. Mit Gewalt versuchte er die Erinnerung aus seinem Herzen und seinem Kopf zu verbannen, aber die Sehnsucht, die aus dieser Erinnerung entsprang, loderte mit einer solchen Macht in ihm auf, dass sie ihn fast in die Knie zwang.

Denk es nicht. Wage ja nicht, an sie zu denken … Ilinias ist deine Frau, der du dich angetraut hast. Aber nun war Ilinias seine Schwester. Er hätte sie nie heiraten dürfen. Diese Ehe war sowieso ungültig, und er war frei, ohne dass er sein Wort brechen musste.

Überwältigt von Hoffnung, Sehnsucht und Schuldgefühlen blieb er stehen und starrte aufs Meer hinaus, aufs dunkle Meer. Es war Mino, die er rufen wollte. Vielleicht hatte sie davon gehört, dass er hier war. Vielleicht ging sie gerade eben diesen Strand entlang und wünschte sich, ihn zu finden …

Sorayn.

Er und Ilinias und Sorayn. Er war nicht frei, er konnte nicht frei sein.

Blitz zwang sich, weiterzugehen. »Ilinias!«

El Jati fand sie unter den Bäumen, mitten in der Plantage. Er fragte sie nicht, ob sie sich verirrt hatte. Er sah ihr helles Haar im Schein der Laterne schimmern und ging auf sie zu.

»Blitz?«, fragte sie leise.

»Nein, ich bin es«, entgegnete er. »El Jati.«

»Geh weg.«

Aber er ging nicht weg. Er näherte sich ihr, vorsichtig wie einem verschreckten Tier. »Komm her«, sagte er mit der Autorität des älteren Bruders, und während er es aussprach, erinnerte er sich daran, dass er das schon einmal zu ihr gesagt hatte, vor vielen Jahren, als er sie besucht hatte. Warum er das damals getan hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, auch nicht, warum er sie nicht mit nach Hause genommen hatte. Doch, da war etwas …

»Unsere Mutter wollte wissen, wie es dir ging. Wie du aussiehst, ob es dir gutging. Sie hat mich damals nach Salien geschickt. Ich kam in das Kloster und fand ein blondes Mädchen, ein hübsches kleines Ding, aber keine Riesin. Mit dieser Nachricht kehrte ich nach Hause zurück: Ich sagte, sie ist keine Riesin. Ich war froh darüber, denn ich wollte nicht, dass irgendetwas an ihn erinnerte, an diesen fürchterlichen Riesen. Und sie – ich weiß nicht, war sie enttäuscht? Sie war krank, sehr krank. Es war ihr letzter Wunsch gewesen, dass ich noch einmal die weite Reise mache und nach dir sehe. Ein einziges Mal wollte sie noch von dir hören, bevor sie starb.«

Ilinias war näher herangekommen. »Was für ein Riese?«

»Man sieht dir nicht an, dass in deinen Adern Riesenblut fließt. Aber es war ein Riese, den meine Mutter liebte – unsere Mutter. Heute weiß ich, dass sie ihn liebte. Damals wusste ich es nicht. Es war der erste Riese, den ich je gesehen hatte, und ich hielt ihn für den schlimmsten Feind, dem ich je begegnet war. Jahre meines Lebens habe ich damit verschwendet, einen Mann zu hassen, den unsere Mutter liebte. Du warst für mich immer nur das Kind des Feindes. Nein, ich wollte nicht, dass Mutter Gefühle für dich hatte. Ich bot ihr nicht an, dich wieder mit nach Hause zu bringen. Es fiel mir schwer genug, den weiten Weg zu machen.«

»Ein Riese«, wiederholte Ilinias. »Wer? Wieso ein Riese? Wovon sprichst du überhaupt?« Sie war jetzt so nah, dass er ihre Augen im Schein seiner Laterne leuchten sah. Ihre wunderschönen blauen Augen.

»Ich habe nie erfahren, wie er heißt. Aber im letzten Sommer war sein Bruder hier auf der Insel. Sein Zwillingsbruder. So ist die ganze Geschichte herausgekommen, denn …«

Sie unterbrach ihn ungeduldig. »Keta und Zukata? Die Riesenzwillinge?« Es konnte nur einen geben, der hier gewesen war. Und nur einen, der … Aber konnte es sein? »Und deine Mutter hat … Und es war Zukata? Er ist mein Vater? Bist du sicher?«

»Zukata?« Er starrte sie an. Natürlich kannte er diesen Namen. Natürlich wusste er von den Zwillingssöhnen des Kaisers. Natürlich hatte er sich Gedanken gemacht darüber, seit dieser Riese, der sich Remanaine nannte, an ihrem Tisch gesessen und seinen Hass, diese jahrelange Krankheit, an der er litt, geheilt hatte. Remanaine. Er hatte sich gesagt, dass es noch andere Riesenzwillinge geben könnte. Dass er nicht voreilige Schlüsse ziehen sollte. So viele Gedanken hatte er sich gemacht, und seine Befürchtungen hatten ihn davon abgehalten, nach Salien ins Kloster zu reisen und seine Schwester zu besuchen. Zu Alika hatte er gesagt, dass er sie nicht mit den Kleinen allein lassen wollte. Aber in seinem Herzen war etwas anderes, eine dunkle Ahnung.

»Ich weiß nicht«, antwortete er auf ihre Frage. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Oh Rin.« Sie lehnte sich gegen den Stamm eines Apfelbaumes. »Das ist der Mann, gegen den ich kämpfen wollte. Das ist der, dem ich entgegentreten wollte, sollte er jemals zurückkommen. Der Feind des ganzes Kaiserreichs und mein persönlicher Feind … Einen seiner Räuber habe ich eigenhändig niedergeschlagen. Und das ist mein Vater?«

»Prinzessin Ilinias«, sagte er ernst, »komm mit mir zurück.«

»Prinzessin Ilinias«, wiederholte sie voller Bitterkeit. »Wohin zurück? Zu meinem brüderlichen Gemahl? Zu meinem schwachsinnigen Kind? In dein Haus, El Jati, in das du mich nie hineinlassen wolltest?«

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich bitte dich um Verzeihung, Ilinias. Mehr kann ich nicht tun.«

Als sie schwieg, streckte er die Hand aus und wiederholte seine Aufforderung. »Komm.«

Sie hörten das Geschrei schon von weitem. Sorayn brüllte so laut, dass die Leute im Dorf die Köpfe aus den Fenstern steckten und die Türen öffneten, um zu sehen, was los war. Erst im Haus waren die Stimmen von Alikas Zwillingen zu hören, die in das Geheul mit eingefallen waren. Sie lagen in ihrem gemeinsamen Bettchen, während Alika ihren Neffen auf dem Arm wiegte.

»Ich kriege ihn einfach nicht still«, jammerte sie. »Rin sei Dank, du bist da, Ilinias!« Sie drückte ihr das schreiende Kind in den Arm. Und Ilinias stand da und hielt ihn, der sich nicht beruhigen wollte, und in ihren Augen waren keine Tränen mehr. Es war nicht zu sehen, dass sie geweint hatte, dort draußen unter den Bäumen. Sie hielt ihr Kind, von dem sie wusste, dass nichts ihm helfen konnte, und gleichzeitig war es, als hielte sie es nicht. Sie war mit Jati zurückgekommen, aber gleichzeitig war es, als wäre sie nicht ganz zurückgekommen, nicht ganz bei ihnen im Haus. Sie schaute auf Jati mit ihren unglaublich blauen Augen, in denen der Himmel lag, der sich über Menschen und Riesen wölbt. Sie sagte, ohne auf Sorayn zu achten, der in ihrem Arm strampelte: »Was wird jetzt geschehen?«

»Wir müssen einen Priester aufsuchen, der eure Ehe auflöst«, meinte Alika, die dabei war, ihren eigenen Kindern gut zuzusprechen.

»Und dann, was bin ich dann?«, fragte Ilinias. »Eine Frau mit Kind und ohne Mann? Blitz wird nach Kirifas zu Manina zurückkehren. Und was soll ich tun? Betteln gehen?«

»Du kannst hier bei uns bleiben«, versprach El Jati, aber Ilinias lachte leise. »Hier, wo man mich für Blitz’ Frau hält? Und was soll er dem Kaiser und den anderen im Schloss erzählen? Die Wahrheit? Glaubst du, der Kaiser lässt ihn dann noch seine Tochter erziehen? Diese Wahrheit wird unser beider Leben zerstören.«

Sorayn hatte aufgehört zu schreien und rang keuchend nach Atem, seine Hände ruderten durch die Luft. Sie alle sahen ihn an: den Beweis dafür, dass bereits ein Leben zerstört war. Sie dachten es alle, aber keiner sprach es aus.

»Wenn wir die Wahrheit sagen, wird ihm das nicht helfen«, sagte Ilinias.

»Aber ihr habt keine Wahl«, sagte Alika. »Wir haben keine Wahl. Es ist so, wie es ist, und niemand wollte es, aber es ist nun mal passiert.«

Aber Ilinias hatte »wenn« gesagt, und auf einmal schien die Trennung von Blitz nicht mehr unausweichlich. Vielleicht war es möglich, all das hier einfach zu vergessen … wer sie beide waren … ihre Liebe zu bewahren und alles andere zu vergessen.

»Blitz ist da«, sagte El Jati, der aus dem Fenster gesehen hatte. Er ließ seinen Bruder herein.

Er sah Ilinias an, erleichtert, sie hier zu finden, und doch auch bedrückt und nachdenklich, und er spürte sofort, dass etwas in der Luft lag, etwas anderes als vor Ilinias’ Weglaufen.

»Ich will mich nicht von dir trennen«, sagte sie. »Wenn wir niemandem etwas sagen, wird niemand etwas erfahren.«

»Nein!«, rief Alika sofort entsetzt. »Nein, das geht nicht. Das ist unrecht. Das ist gegen das Gesetz. Ihr könnt doch nicht … Es geht nicht. Wenn man das erst einmal weiß, kann man doch nicht … Bruder und Schwester …«

Blitz blieb an der Tür stehen. Ilinias sah ihn an und dachte: Komm zu mir. Komm, stell dich neben mich. Wir sind eine Familie, wir müssen es bleiben … Aber Blitz begegnete ihrem Blick über den Abgrund des Raumes hinweg und sie las darin die Qual, eine Entscheidung treffen zu müssen.

»Ihr müsst euch trennen«, sagte Alika. »Habt ihr nicht selbst gesehen, was dabei herauskommt?«

»Sorayn«, sagte Blitz, zugleich von Schmerz und Liebe erfüllt. »Wenn Sorayn nicht wäre … Aber wir können doch nicht so tun, als gäbe es ihn nicht. Er ist da. Wie könnte einer von uns ihn aufgeben?«

Es versetzte Ilinias einen Stich, ihn das sagen zu hören. Sie wollte nicht, dass er Sorayns wegen an ihr festhielt, sondern weil sie zusammengehörten, seit sie sich das erste Mal gesehen hatten. Sie gehörten zusammen, untrennbar. Sie wusste das. Es war in ihrem Herzen und in ihrer Seele, in allem, was sie war.

»Nichts kann uns trennen«, sagte sie.

Jati schwieg. Aber Alika konnte das nicht dulden. Sie schüttelte den Kopf, sie sagte: »Nein. Nein, Ilinias. Sieh, wie es ist. Vielleicht verstehst du es heute noch nicht, vielleicht brauchst du noch ein paar Tage Zeit. Aber dann musst auch du begreifen, was ihr beide seid und warum ihr nicht zusammenbleiben könnt.«

 

»Ich …«, begann Blitz müde, aber er wusste nicht, welche Worte er wählen sollte, welche Entscheidung die richtige war. Alika hatte recht, das wusste er. Und doch hatte auch Ilinias recht. »Es ist so spät«, sagte er. »Wollen wir nicht morgen …?«

»Ja«, stimmte Jati sofort zu. »Lasst uns etwas essen und dann zu Bett gehen.«

Aber keiner von ihnen hatte Hunger. Und wo würden Blitz und Ilinias schlafen – in einem gemeinsamen Bett? In dem Zimmerchen, das früher seins gewesen war, gab es nur das eine Bett, aber Alika machte sich daran, in der Wohnküche ein zweites Lager herzurichten. Sie musste es nicht laut aussprechen, dass sie es nicht erlaubte, dass die beiden in einem Raum übernachteten. Ilinias wollte dagegen kämpfen, wenn Blitz es schon nicht tat. Sie wollte rufen: Das ist nicht eure Entscheidung! Lasst uns das unter uns ausmachen! Aber Blitz schüttelte fast unmerklich den Kopf. Er wusste genau, was sie dachte, was sie fühlte. Das Verstehen zwischen ihnen war vollkommen. Nie, dachte Ilinias, nie gebe ich das auf, was wir hier haben.

Am Morgen schrie Sorayn wieder. Sein Gesicht lief blau an, während er seine Qual hinausschrie. Ratlos stand Alika da und alle strengen Worte, die sie zu Blitz und Ilinias sagen wollte, erstarben ihr auf der Zunge.

»Wir brauchen ein Boot«, sagte Blitz. »Auf einem Boot geht es ihm viel besser.«

»Ihr könntet nach Neiara fahren«, schlug El Jati vor. »Liravah lebt jetzt dort. Sie wird sich bestimmt über einen Besuch freuen. Ich beschreibe dir gerne, wo sie wohnt.«

»Liravah? Wer ist das?«, fragte Ilinias misstrauisch.

»Nur meine alte Lehrerin. Ohne das, was ich bei ihr gelernt habe, hätte ich nie Maninas Erzieher werden können.«

»Natürlich, deine Lehrerin! Du hoffst wohl, sie kann mich zur Vernunft bringen?« Liravah, ja, jetzt erinnerte sie sich wieder. Sie wusste alles über ihn. Alles über seine Kindheit. Alles über Mino und ihn, vielleicht mehr, als er selbst wusste. Die Tochter des Fischerkönigs und der Sohn des verschwundenen Seemanns … Aber nun gehörte er nach Kirifas, mit ihr zusammen. Welches Leben hätte es sonst für sie beide gegeben?

»Lass uns einfach fahren«, sagte Blitz.

Sie gingen hinunter zum Hafen. Er trug das brüllende Kind, das um sich schlug. In Ilinias’ Mund lag der bittere Geschmack von Albträumen.

Auf dem Boot war es still. Sorayn lag in Ilinias’ Armen, ruhig und nachdenklich, während Blitz ruderte. Einer der Fischer hatte ihnen den Kahn ohne zu zögern ausgeliehen.

Sie waren in die schwankende kleine Nussschale hineingestiegen. Keine Segel, die sich im Wind blähten. Nur Ruder, die man ins Wasser tauchen musste; harte, anstrengende Arbeit. Blitz beschwerte sich nicht. Er wurde zu einem anderen, sobald er auf dem Wasser war. Wie Sorayn, dachte Ilinias, bist du hier still. Aber der Aufruhr in ihr ließ sich nicht von schaukelnden Wellen besänftigen.

»Ich will mit dieser Liravah nicht über uns reden«, sagte sie. »Und auch nicht mit Alika und El Jati. Es geht sie überhaupt nichts an, was wir tun. Das ist allein unsere Entscheidung. Es geht nur darum, was wir wollen.«

Vor ihnen rückte die Insel Neiara näher. Die dunklen Hänge entpuppten sich als Weinberge, die in Wiesen und Wälder übergingen. Ilinias starrte an Blitz vorbei auf diese andere Insel, als gäbe es nichts Interessanteres als das. Bang wartete sie auf seine Antwort.

»Geht es denn darum, was wir wollen? Wir dürfen nicht zusammenbleiben«, sagte er schließlich.

»Dürfen?«, fuhr sie ihn an. »Das sagst du? Kommt das daher, dass du dich ständig nur mit Kleinkindern abgibst? Seit wann fragst du, was du darfst? Was ist aus dem Blitz geworden, der mich aus dem Kloster entführt hat? Was ist aus dem Blitz geworden, der Zukata selbst getrotzt hat und einfach getan hat, was für ihn das Richtige war? Dürfen!« Voller Verachtung warf sie ihm das Wort hin. Plötzlich fragte sie sich, ob er wusste, wessen Tochter sie war. Bis jetzt hatte sie gezögert, es ihm zu erzählen, aber vielleicht war Jati ihr zuvorgekommen? Wollte er deswegen nichts mit ihr zu tun haben? Aber nein, das konnte sie nicht glauben. Blitz verehrte Zukata, er hing an ihm mit der Zuneigung und Abhängigkeit eines Schülers von seinem Meister. Sie wusste das. Dass sie Zukatas Tochter war, war ihr letzter Trumpf in diesem Spiel um Blitz’ Liebe, und sie zögerte damit, ihn jetzt schon auszuspielen. Er sollte sie lieben, immer und ewig, egal, wessen Tochter sie war. Selbst dann, wenn sie ihn beschimpfte und herausforderte und beleidigte. Er sollte die Herausforderung annehmen, er sollte kämpfen. Sie wollte, dass er aufhörte, nur Maninas Erzieher und Sorayns Vater zu sein. Jung sollte er sein und leidenschaftlich und rebellisch. Genau wie sie. Ihre andere Hälfte, ihr Bruder, ihr Geliebter …

Blitz drehte sich um, um zu sehen, wie nahe sie der Insel gekommen waren. Er ließ sich nicht herausfordern, er wurde nicht ärgerlich. Er fing nicht an, mit ihr zu streiten.

Sie seufzte. Das war nicht der Blitz, den sie wollte. Und doch, wie hätte sie diesen Blitz, zahm und unsicher und unentschlossen, gehen lassen können? Es war der einzige Blitz, den sie hatte.

Er zog das Boot an den Strand. Sie waren die einzigen Menschen weit und breit. Vor ihnen, nicht weit von der steinigen Küste, begann der Wald. Die Weinberge waren von hier aus nicht zu sehen.

Blitz trug den schlafenden Sorayn. Und sie ging hinter ihm, dem Wald entgegen, dem unbekannten. Neiara schien ihr rauer als Arima. Diese Bäume waren groß und alt, und der Herbst, der sie in Gold und Rot getaucht hatte, war hier schon deutlicher zu spüren. »Vielleicht«, sagte sie laut, während sie ihm auf einem Weg folgte, den sie nur undeutlich erkennen konnte, »sollte ich hier bleiben. Ich auf Neiara und du auf Arima. Und hin und wieder besuchen wir uns und erinnern uns an alte Zeiten.«

»Was redest du da eigentlich?«

»Ich male mir die Zukunft aus. Da du Kirifas aufgeben willst …«

»Wer sagt das?« Er war stehen geblieben und drehte sich zu ihr um.

»Nun«, meinte sie, »ist das nicht offensichtlich? Oder willst du zum Kaiser gehen und sagen: Hier bin ich wieder, ohne Ilinias und Sorayn, die habe ich leider irgendwie verloren? Willst du ihm das wirklich sagen, Blitz? Er hat dir verziehen, dass du ein Räuber warst, aber ob er dir das verzeihen wird?«

»Es geht nicht um Kirifas«, sagte Blitz. »Es geht nur um uns.«

»Natürlich geht es auch um Kirifas«, widersprach Ilinias. »Es geht um unser Leben. Es geht um alles. Es geht immer um alles, wusstest du das nicht?«

Er schaute sie merkwürdig an und fast fragte sie sich, ob sie ihn wirklich noch wollte, einen, der so sehr zögerte, zu ihr zu stehen.

»Dort müssen wir hoch, den Weg dort.« Es ging den Hang hinauf. »Irgendwo dort hat Liravah ihr Haus. Sie hat schon damals immer allein im Wald gelebt.«

Jeder Satz schien voller verborgener Bedeutungen zu stecken. Schon immer. Die Menschen taten das, was sie schon immer getan hatten. Wie könnten wir uns da trennen? Wir sind so aneinander gewöhnt. Wir sind so verbunden, schon immer. Seit ich im Bauch unserer Mutter heranwuchs und du dein Ohr an ihren gerundeten Leib hieltest …

Sie hielt ihn am Arm fest. Sie hielt ihn fest und beugte sich über Sorayn hinweg und küsste ihn. Er konnte sie nicht wegstoßen, solange er das Kind hielt. »Ist es nicht noch dasselbe?« Sie ließ ihn nicht los. Sie wollte es wissen, sie wollte es fühlen. Dass da immer noch dieselbe Leidenschaft war, dieselbe Liebe, dieselbe wunderbare Verbundenheit. Er wandte sich ab, aber sie wollte ihm das nicht erlauben. Wie unerträglich war es, wenn er ihr die kalte Schulter zeigte. »Leg Sorayn dorthin. Bitte, Blitz. Leg ihn dorthin. Küss mich!«

Sie versuchte, ihm das Kind abzunehmen.

»Ach, Ilinias, lass doch …«

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