Der Erbe des Riesen

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»Vielleicht habt Ihr etwas anderes erwartet?«, fragte er. »Einen Leuchter, einen Bilderrahmen, ein paar Diamantringe? Wir hielten es für besser, alle Beutestücke zu verkaufen. Man könnte vielleicht sonst auf dumme Ideen kommen, nicht wahr? Ihr wisst ja, wie die Leute reden. Und wir«, er lächelte elegant, »wir kennen uns ja mit solchen Dingen aus.«

Davon bin ich überzeugt, wollte sie sagen, aber sie brachte nur ein heiseres »Ja« heraus.

»Es ist natürlich noch nicht alles«, fuhr der Mann fort, »wie Ihr Euch sicherlich denken könnt.«

Sie zwang sich dazu, ihm ins Gesicht zu schauen. »Danke.«

»Oh, keine Ursache. Wenn Ihr doch jetzt zur Truppe gehört. Und das tut Ihr doch jetzt wohl, oder? Fürstin Tinek?« Er sah sich um, als sei ihm gerade jetzt erst aufgefallen, dass ihr Mann nicht anwesend war. »Und Fürst Wikant?«

»Ist … ich glaube … nebenan.« Wo er trank. Sie wusste das. Wenn er nicht schon so viel getrunken hatte, dass er nicht mehr konnte.

»Wunderbar. Denn sicherlich möchte er dabei sein, wenn wir Eure Verbundenheit mit dem Prinzen besiegeln.«

»Ja«, sagte sie rasch, und dann, während ihr dämmerte, dass irgendetwas hinter seinen Worten lauerte, das ihr bisher entgangen war, fragte sie: »Wie – wie meinst du das?«

Sein Lächeln hatte etwas unzweifelhaft Wölfisches, als er statt einer Antwort seinen Ärmel hochschob. Sie hatte das Brandzeichen schon einmal an einem von Zukatas Räubern gesehen, aber damals hatte es nicht ein solches Erschrecken in ihr ausgelöst wie jetzt. Es sprang ihr entgegen, ein Bild, das sich in sie einbrennen würde … in ihren Geist und ihr Fleisch …

Tinek schnappte nach Luft, sie glaubte, ohnmächtig werden zu müssen. Aber ihr Körper verweigerte ihr eine gnädige Bewusstlosigkeit, und sie hörte den Fremden sagen: »Ihr wünscht Euch doch eine Krone, wie ich hörte.«

»Aber …« Sie wollte eine Königin sein. Nicht eine gebrandmarkte Verbrecherin, der der Galgen drohte, sollte das jemals herauskommen.

»Ich bin eine Dame«, wandte sie schwach ein, »ihr könnt doch keiner Frau das antun …?«

»Ihr müsst nicht«, sagte er und lächelte wieder sein Raubtierlächeln. »Beratet Euch mit Eurem Gemahl. Ich warte hier.«

Er beugte sich über den Tisch und fegte die Goldmünzen wieder zusammen. Gebannt sah sie zu, wie er sie in den Beutel zurücktat. Wie eine Schlafwandlerin stand sie auf und ging zur Tür, ohne ihre Füße zu spüren, ohne irgendetwas zu spüren.

»Wikant?« Ihre Stimme klang ungewohnt weinerlich. Er saß auf seinem Stuhl in diesem Raum, der fast ihr Thronsaal gewesen war, bevor sie beschlossen hatten, ein echtes Schloss bauen zu lassen, und wirkte sehr ernst und sehr untätig. Natürlich hatte er getrunken. Gerade jetzt, wo sie ihn brauchte, wo sie ihn so dringend brauchte! »Wikant?« Sie legte ihre Hände auf seine Knie. Ihre Hände. Auf einmal wurde ihr bewusst, wie hell sie waren, wie schön, und wie hell und weiß und schön ihre Arme waren. Ein Mal, wie Vieh … es war nicht zu denken. »Wikant? Oh Wikant!« Sie wollte es ihm erzählen, aber sie konnte nicht. Sie weinte nur, weinte und weinte, bis er schließlich fragte: »Und was ist eigentlich los?«

»Das Geld ist da.«

»Unser Geld?«

»Ja.«

»Das scheint mir kein Grund zum Weinen.« Er sprach sehr langsam und bedächtig, wie immer, wenn er so viel getrunken hatte, dass er nicht stehen konnte.

»Wikant, oh mein Lieber! Sie wollen … Oh, hör mir zu. Zukatas Zeichen. Sie wollen … Zukata will … hörst du mir zu?«

»Das Zeichen«, wiederholte er nachdenklich. »Eine Krone. Die Krone des Kaiserreichs. Und darüber schlägt der Blitz ein. Z für Zukata. Was ist, Tinek? Siehst du dich schon am Galgen baumeln?«

»Aber wir können doch nicht … Wikant, ich kann nicht! Ich will das nicht! Kann es nicht einen anderen Weg geben? Wie kann ich das zulassen?« Sie weinte wieder. Ohne Mitleid beobachtete er, wie die Tränen aus ihren Augen quollen.

»Mit den Wölfen heulen, weißt du noch?«

»Aber doch nicht so! Wikant! Ich habe solche Angst!«

»Wovor?«, fragte er. »Zeigst du jemals öffentlich deine Schultern? Nein, denn das wäre unanständig. Also wo ist das Problem? Niemand wird es sehen.«

»Aber ich werde es wissen! Es wird sein, als gehörten wir ihm.«

»Das tun wir doch schon«, sagte er dumpf. »Längst.«

Alikas Kind kam zuerst. Sie gebar einen Jungen, hübsch und dunkelhaarig. Werie, die Hebamme legte ihr lächelnd den Säugling in den Arm. »Lasst sein Geschrei nicht draußen hören«, warnte sie.

El Jati, der seinen Sohn voller Staunen und Freude betrachtete, achtete nicht auf sie, aber Alika nickte. »Ja«, sagte sie, »ja, natürlich. Aber was ist, wenn es bei Mino noch lange dauert? Wir können ihn nicht ewig verstecken.«

»Es wird nicht lange dauern, mach dir keine Sorgen«, sagte Werie im Brustton tiefster Überzeugung.

Das Gegenteil jedoch sagte sie zu Mino, als sie sie auf Drängen der ungeduldigen Binajatja hin untersuchte. »Drei, vier Wochen durchaus noch.«

Binajatja kniff die Augen zusammen. »So lange? Und es rührt sich bei dir noch gar nichts?«

»Manchmal zieht es ein bisschen«, behauptete Mino.

»Wir können unmöglich einen ganzen Monat warten. Zwillinge, die einen Monat auseinander sind?« Binajatja schüttelte den Kopf. »Und Norha kann jeden Tag zurückkommen. Kannst du es nicht jetzt holen?« Sie starrte die Hebamme eindringlich an und die Hebamme starrte ungerührt zurück. Schließlich seufzte Binajatja. »Wie viel?«

»Fünf Goldstücke.«

»Dafür kann ich mir ein Kind kaufen, wenn ich eines haben möchte!« Ärgerlich ging sie zum Schrank und kramte in einer Schachtel herum. »Hier. Vier Goldstücke für deine Arbeit und eins für dein Schweigen.«

»Mutter, ich glaube nicht, dass es Norha so viel ausmachen würde.«

Aber Binajatja hatte keine Lust, mit ihr zu streiten. »Es geht nicht nur um Norha. Willst du, dass Alika das Kind aufzieht oder nicht? Eine Woche weiter, und es muss doch ins Kloster. Ist dir das lieber? Fang an, Werie. Jetzt oder nie.«

Werie lächelte Mino aufmunternd an. »Dann wollen wir mal.«

»Es ist noch zu früh«, protestierte Mino. »Bitte, ich spüre es, es ist doch noch viel zu früh. Wie kannst du so etwas tun?«

»Du hast deine Mutter gehört. Wir machen es jetzt. Zum Leben ist es groß genug, und wenn nicht, dann eben nicht. Ich rühre dir ein Wehenmittel an. Wenn es nicht so geht, wie wir uns das wünschen, hat sich das deine Mutter selbst zuzuschreiben.«

Als Mino von Alikas Kind erfahren hatte, war sie so froh gewesen, so voller Glück; sie hatte gar nicht daran gedacht, was diese Nachricht für sie selbst bedeutete.

»Was hat Alika bekommen? Einen Jungen oder ein Mädchen?«, fragte sie. Sie versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme herauszuhalten. Ihre Angst vor der bevorstehenden gewaltsamen Geburt war so groß, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen.

»Einen Jungen«, sagte Werie. »Tamait heißt er. So, und jetzt trink das hier.«

Wenn sie jemals hatte fliehen wollen, hätte sie das gleich nach ihrer Ankunft tun müssen. Oder sie hätte bei den Zintas und bei Keta bleiben können. Dort, wo ihr Kind in fröhlicher Gemeinschaft hätte aufwachsen dürfen, in den Wäldern bei den bunten Wagen. Mit Toris, seinem Vater, der ihm Jonglieren beibrachte, einem Haufen Tanten, die es kitzelten und ihm Lieder vorsangen, einer überglücklichen Großmutter – es passte nicht so recht, sich Variti als Großmutter vorzustellen – und jeder Menge Spielkameraden.

Das alles hatte sie ausgeschlagen, hatte es ihrem Kind vorenthalten. Sie hatte das Unglück gewählt, für sich und damit auch für ihr Kind, doch nie war ihr das so bewusst gewesen wie jetzt. Vielleicht brachte Werie es um. Oder sie selbst starb. Vielleicht endete nun alles, hier in diesem Haus, in dem sie niemals wirklich glücklich gewesen war. Und es war unmöglich, die Entscheidung rückgängig zu machen.

Es war zu spät. Es gab keine Möglichkeit, ohne Binajatjas Erlaubnis von dieser Insel zu entkommen. Sie saß hier fest.

Als sie das Gebräu hinunterschluckte, das übel schmeckende, war es ihr, als würde sie den Tod trinken, für sich und ihr Kind, und während sie auf die Schmerzen wartete, hoffte sie fast darauf, dass der Tod sie hier fand. Aber sie konnte das Gleiche nicht für ihr Kind hoffen.

Werie erlaubte ihr nicht zu schreien, schließlich durfte niemand wissen, dass sie hier ein Kind bekam. Sie heulte in ein Tuch, während die unglaublichen Schmerzen ihren Körper zerrissen. Ich sterbe, dachte sie. Nun geschieht es doch und ich sterbe hier …

Aber sie starb nicht. Oder doch?

Sie lag da und fühlte, wie das Leben aus ihr herausrann …

»Zu viel Blut«, hörte sie die Hebamme sagen. »Sie verliert viel zu viel Blut.«

»Tu etwas, verdammt!«, sagte die Stimme ihrer Mutter.

Verdammt, ja, dachte Mino. War ich das nicht von Anfang an? Sie war damit zufrieden, zu sterben. Dann brauchte sie Norha nicht zu heiraten. Dann brauchte sie überhaupt nichts mehr zu tun. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass die Brücke vor ihr auftauchte, die wunderbare Brücke über das Meer.

»Etwas mickrig, wie?« Es interessierte sie nicht, worüber die anderen sprachen. »Schau her, Mino«, befahl Binajatja. »Schau her, sage ich dir!« Sie wollte die Augen nicht öffnen. Aber sie war es so gewöhnt, ihrer Mutter zu gehorchen, dass sie die Lider hob. Und direkt vor ihr war ein zerknautschtes, rotes Gesicht.

»Das ist dein Kind, schau es dir an!«, forderte Binajatja sie auf. Mino hatte nicht gewusst, dass es lebte. Sie hatte auf einen Schrei gewartet und es war kein Schrei gekommen. Nun sterben wir hier beide, zusammen … Aber da war das Kind, eingewickelt in ein weißes Tuch. Auf seinem Kopf bauschte sich weicher, dunkler Flaum. Für so ein winziges Kind hatte es unglaublich viel Haar. Seine Augen waren schwarz. Wundervolle schwarze Augen.

 

Sofort hörte Mino auf zu sterben. Sie war so kraftlos, dass sie ihre Arme kaum heben konnte, aber sie streckte die Hände nach diesem Wunder aus.

»Ein Mädchen«, teilte ihr Binajatja mit. Ihre Stimme klang auf einmal anders, weicher und freundlicher und zugleich rau, fast so, als wäre sie gegen ihren Willen gerührt.

»Ixa«, flüsterte Mino.

»Was? Du nennst es Ixa? Was ist denn das für ein Name?« Die Apfelkönigin schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht Ixa. Werie wird es zu Alika bringen, wenn sie hier mit dir fertig ist, und Alika soll sich einen Namen ausdenken. Nun, was ist, Werie? Kannst du die Blutung stoppen?«

Binajatjas Stimme zitterte leicht. »Hier«, sagte sie und ergriff Minos Hand, »fühl mal.« Ihre Hand berührte das Köpfchen ihrer Tochter. Warm und weich waren ihre Haut und das flaumige Haar. Auf einmal öffnete sie den Mund und krähte.

Dies war das Glück. Es war wie die Vision von der Brücke, auf die sie gewartet hatte – ein Gefühl von solch eindringlicher Klarheit, dass dagegen alles andere verblasste.

Während sie hier lag und starb oder auch nicht starb, während sie verblutete – aber vielleicht auch nur fast – kam ein solches Glücksgefühl über sie, dass sie es kaum aushalten konnte. Ihr Herz wurde leicht und ihr ganzer Körper schien über dem Bett zu schweben, frei wie ein Vogel im Wind über dem Meer. Die dunklen Augen, in die sie blickte, waren die schönsten Augen der Welt. Aus der Nacht ihres Leibes und ihres Lebens war ein Geschöpf ins Tageslicht geboren worden, so unaussprechlich wunderbar, dass daneben nichts anderes mehr zählte.

Dies, so fühlte sie, ist das Glück.

In dem Gasthaus zog es erbärmlich. Norha rieb seine Füße aneinander und sehnte sich nach einem Platz näher am Kamin. Auf den Glücklichen Inseln vergaß man allzu leicht, dass der Winter nicht die ideale Zeit zum Reisen war.

Missmutig schlürfte er seine heiße Suppe oder das, was der Wirt prahlerisch als Suppe bezeichnete. Falls ein Stück Fleisch oder wenigstens ein Knochen hier durchgeschwommen war, hatte es jedenfalls keine Spuren hinterlassen.

»Du musst Wild verlangen.«

Erstaunt blickte Norha auf. »Wikant? Was machst du denn hier?«

»Alles andere ist ungenießbar. Vertrau mir, ich war schon oft genug hier.«

Norha schob seinen Teller von sich fort. »Ich dachte, du bist zu Hause?«

»Das bin ich auch. Im Ernst, ich habe genug auf Neiara zu tun. Aber als ich mitbekommen habe, dass du eine Reise machst …«

»Mitbekommen? Du und Tinek, ihr habt mir doch die ganze Zeit zugeredet, dass ich auf Binajatjas Vorschlag eingehen soll.«

»Und Mino?«

»Was ist mit ihr?«

Wikant starrte ihn eine Zeitlang an, dann wandte er sich um und winkte dem Wirt. Er musste nicht einmal sagen, was er bestellte.

»Du bist anscheinend wirklich öfter hier«, stellte Norha fest. Seine Füße froren noch immer, aber er nahm sie nicht mehr so deutlich wahr. Seinen ganzen Körper durchjagten Schauer. »Was willst du von mir? Was noch? Erst sollte ich Binajatja heiraten und dann auf einmal Mino …«

»Bist du nicht froh, dass ihre Tochter gerade rechtzeitig heimgekehrt ist? Es wäre ziemlich dumm gewesen, wenn du Binajatja geheiratet hättest, um die Insel zu bekommen, und wenn dann plötzlich die Erbin aufgetaucht wäre.«

Norha ging auf die erfreuliche Wendung der Dinge nicht ein. »Was also? Du bist doch nicht zufällig hier.« Dass er das Unbehagen seines Bruders spürte, machte die Sache nicht besser. »Tinek hat dich geschickt, wie?«

»Du brauchst nicht wegen der Zölle zu verhandeln«, sagte Wikant. »Bezahl sie einfach. Wir holen uns alles wieder, was sie uns abnehmen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Wonach klingt es denn?«, fragte Wikant angriffslustig. »Stellst du dich nur so blöd oder bist du es wirklich? Vergiss Drian. Sie haben dir den ganzen Winter freigegeben, deine Apfelköniginnen? Geh nach Sitra.«

»Was soll ich dort?«

»Das Königshaus besuchen. Dort leben. Nichts weiter. Und die Augen offenhalten.«

Norha versuchte, Wikant zu durchschauen, in seinem Gesicht etwas zu lesen, was einfach nicht entzifferbar war. »Was? Warum?«

»Sie werden dich dort aufnehmen, wenn du dich als der Fürst von Arima vorstellst. Mach nicht so eine Miene, halt dich gerade, und du bist, was du dich nennst. Tu, als wärst du auf Brautschau.«

»Ich bin gerade dabei, Mino zu heiraten, falls du das vergessen hast! Wen soll ich denn noch alles heiraten?«

»Für Binajatja, die einsame Schwiegermutter. Erzähl, dass du einen alten Grafen oder was auch immer für sie suchst. Sieh dich um. Mehr erwarten wir gar nicht.«

»Kannst du mir sagen, was das soll? Willst du es mir sagen?«

Wikant sah auf, als der Wirt einen großen, zugedeckten Teller brachte. »Ah, da ist es! Wunderbar!«

Norha lief das Wasser im Mund zusammen, als er den Duft des Bratens roch. »Wild?«, fragte er leise. »Hat nicht nur der König von Drian das Recht, in diesen Wäldern zu jagen?«

»Iss«, befahl Wikant. Er griff nach Norhas Weinglas und stürzte es hinunter.

»Ich dachte, du trinkst nicht mehr.«

»Denk nicht so viel. Iss.« Er beugte sich vor. »Du wirst dich noch daran gewöhnen, zu essen, was dem König gehört. Irgendeinem König.«

»Dein Schloss steigt dir zu Kopfe, wie?«

Norha war an diesem Tag so lange geritten, dass er kaum noch sitzen konnte. Es verlangte ihn nach einem Bett. Wahrscheinlich würde es von Flöhen und Wanzen wimmeln.

Wikants Hand zitterte leicht, als er die Hand zum Mund führte. Bratensaft tropfte auf das glatte Holz des Tisches. »Verlange ich wirklich so viel? Reite nach Sitra und lebe eine Weile dort am Hof. Das wirst du doch noch für deinen Bruder und seine Familie tun können.«

Norha gab nach. Er nickte. Das Fleisch, dunkel und würzig, steckte überall in seinen Zähnen. Er stellte es sich durchaus angenehm vor, eine Weile an einem Königshof zu leben. »Na gut«, sagte er. »Ich reite nach Sitra.«

Braune Augen. Ein kleiner, kirschroter Kussmund. Kastanienbraune Locken.

»Wie sieht Eure Braut aus, Fürst Norha?«

Die kleine Gräfin schmachtete ihn nicht an. Sie war nur freundlich. Trotzdem kam es ihm merkwürdig gefährlich vor, mit ihr zu plaudern. »Weiß«, sagte er. »Sie ist hellblond.«

Sie kicherte. »Ist sie hübsch?«

Es gab keinen Grund zum Kichern. Norha fühlte, wie er selbst immer ernster, immer grimmiger wurde. Es war schwer, sich zum Entspannen zu zwingen und gelöst zu plaudern. »Nun ja, anders hübsch als Ihr, Gräfin Liadett.«

Sie lachte glockenhell. Und er war ein Mann mit Prinzipien. Er war verlobt, also würde er sich nicht einfach einer anderen Frau zuwenden, und war sie noch so attraktiv. Er würde seinen Auftrag hier erfüllen und wieder nach Arima zurückkehren und seine Braut heiraten, wie alle es von ihm erwarteten. Dazu hatte er sich entschieden. Manchmal dachte er an Mino, mit Sehnsucht, mit ängstlicher Erwartung, voller Hoffnung, dass er mit guten Ergebnissen zu ihr zurückkehren konnte und niemanden enttäuschte. Es tat ihm jetzt schon weh, sich vorzustellen, dass sie enttäuscht sein könnte.

»Oh, Ihr schmeichelt mir aber. Das habe ich mir gleich gedacht: Der Mann sieht so still aus, aber der hat es bestimmt faustdick hinter den Ohren.«

Norha wunderte sich ein wenig, dass irgendjemand, und war er auch noch so dumm, ihn so einschätzte. Er hatte es weder dick noch sonstwie hinter den Ohren. Er war ein aufrechter, gradliniger Mann, der gute Arbeit tat und die Pflichten seiner Familie gegenüber kannte. Darauf war er stolz.

»Fürst Norha?« Sie winkte mit ihrer kleinen, in weißen Spitzenhandschuhen steckenden Hand, damit er sich zu ihr herunterbeugte. Er erwartete, dass sie ihm irgendetwas zuflüstern wollte, aber womit er nicht gerechnet hatte, das war ein Kuss.

Sie duftete. Ihr Haar duftete, alles an ihr verströmte einen betörenden Duft. Doch er war kein Mann, der mit einer Fremden durchbrannte. Auch nicht, wenn seine Verlobte ein Kind von einem anderen bekam.

»Aber Gräfin Liadett!«

»Ihr schimpft mit mir? Oh, Ihr seid ein ganz Schlimmer!«

Irgendwie war da gar nichts zu machen.

Er dachte an seine Braut, wie an eine Aufgabe, die es zu erfüllen galt. Denn die Schuld brannte in ihm. Es gab keinen Grund, sich schuldig zu fühlen – hatte Mino nicht auch ihre kleinen Geheimnisse? So schön und schlank, wie sie da stand, als hätte sie nicht heimlich ein Kind bekommen. Es gab keinen Grund, sich so zerknirscht und unwürdig vorzukommen.

Minos schlichtes Hochzeitskleid war graublau wie das Meer, und verlieh ihren Augen mehr Farbe als sonst. Sie lächelte, und bei diesem Lächeln wollte er am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, weil er sich so dreckig vorkam, während sie vor ihn hintrat wie eine Gestalt aus Licht und Wasser.

An diesem Tag schienen alle sich verschworen zu haben, sie zu überstrahlen. Binajatja glänzte aufgeregt. Seine eigenen Verwandten, Bruder und Schwägerin, hatten sich herausgeputzt, als wären sie schon immer Fürst und Fürstin gewesen. Sogar ihr Geschenk war fürstlich. »Jetzt können wir das Haus vergrößern!«, entfuhr es Binajatja begeistert. Zwischen ihnen allen wirkte das weiße Mädchen in dem einfachen Kleid wie ein verlorenes Kind. Dabei war sie viel schöner als die Frau seines Bruders. Er sah es; irgendwann würden es auch die anderen sehen.

»Los, Norha, erzähl.« Tinek trat an ihn heran. »Was hast du herausgefunden?«

»Nichts.«

Das stimmte natürlich nicht. Liadett hatte geflüstert. Getuschelt. Unentwegt geredet. Auf diesem Weg hatte Norha eine ganze Menge über das Königshaus von Sitra erfahren, mehr, als er jemals hatte wissen wollen. Er hörte gar nicht richtig zu, und doch sog sein Verstand jede Einzelheit auf, ordnete und archivierte und verstaute sie sorgfältig in den Schubladen seines Geistes.

»Nichts? Ach, komm, Norha. Wir zahlen dir diesen gewaltigen Vorschuss, und du bringst uns nichts mit?«

»Vorschuss?« Dann dämmerte es ihm. »Das Geld war doch wohl euer Geschenk zu meiner Hochzeit!«

»Kleiner Irrtum, lieber Norha. Seit wann können wir solche Geschenke machen? Es ist dein Anteil. An dem, was wir erwarten.«

»Habt ihr darauf das Fundament eures Schlosses gegründet? Auf Geschichten von Reisenden? Vielleicht auf Briefen, die du mit deiner zierlichen Handschrift aufsetzt?«

»In meiner Handschrift? Ich bin doch nicht blöd.«

Norha schüttelte den Kopf. »Ihr seid unter die Erpresser gegangen? Das hätte ich nicht von euch gedacht. Vor allem nicht von Wikant.«

Wie aufs Stichwort kam sein Bruder zu ihnen. »Nun? Hat es sich gelohnt, die lange Reise?«

»Norha wollte mir gerade alles erzählen«, verkündete Tinek.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Norha seine frischgebackene Ehefrau, die an einem der Tische saß und versonnen einen Apfel betrachtete.

»Ein Geschenk kann man nicht wieder zurückfordern«, sagte er.

»Eine Anzahlung schon.«

Und das Dumme war, dass er ihnen alles liefern konnte. Er wusste, welche Fürsten ihre Frauen betrogen und dass die Königin von Sitra ein geheimes Leben führte, von dem zwar ihre Freundinnen, aber nicht ihr Gemahl etwas wussten. Im Grunde verdienten solche Leute es, für ihre Taten zu bezahlen.

»Nur dieses eine Mal«, drängte Tinek. »Wir brauchen ein Schloss. Und du? Willst du mit deiner Frau in dieser alten Hütte leben? Verdient sie das, so zart und empfindlich, wie sie ist? Die richtigen Kleider, etwas mehr Haltung, und sie würde aussehen wie eine Prinzessin.«

Sie hatten kein Mitleid mit ihm. Nachdem er geredet hatte, war ihm übel. Er wankte fort, in das Häuschen, das für ihn und Mino und Binajatja zu klein war.

»Du dachtest doch nicht etwa, mit ein paar Pfirsichen könnte man sich ein Königreich kaufen?«, rief ihm Tinek hinterher.