Der Erbe des Riesen

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»Und jetzt«, sagte Binajatja streng, »geh ins Haus.«

Mino ließ Alika stehen und ging rasch aufs Haus zu. Am Gartentor drehte sie sich noch einmal um, um der überraschten Freundin wenigstens noch ein Lächeln zu schenken, wenn sie auch nichts sagen durfte. In diesem Moment strich ein leichter Wind vorbei und drückte ihr feines, weites Kleid gegen ihren Körper.

»Du bist ja schwanger!«, rief Alika aus. »Oh Mino, das wusste ich nicht!«

»Still!«, zischte Binajatja. »Sei bloß still, Alika. Du hast dich getäuscht, Mino ist einfach nur nicht mehr so schlank wie früher. Geh rein, Mino, aber sofort.«

Alika war ihr bis an die Pforte gefolgt. »Oh wie schön, Mino! Warte doch!«

Binajatja hielt sie auf, so dass sie dem Mädchen nicht ins Haus nachgehen konnte. »Sei endlich still, Alika! Wenn du nicht sofort deinen Mund hältst, entlasse ich dich und El Jati aus meinem Dienst! Hast du gehört?«

Alika starrte sie an. »Was? Aber warum?«

»Warum? Es geht dich nichts an, warum. Misch dich nicht in unsere Familienangelegenheiten ein, Alika, ich warne dich. Du hast dich getäuscht. Und du wirst mit niemandem darüber sprechen, nicht mit deinem Mann, nicht mit deinen Freunden, mit keinem. Ist das klar?«

Alika war keine Frau, die sich einschüchtern ließ. »Was hast du mit deiner Tochter vor, Binajatja? Sie ist schwanger, das habe ich genau gesehen. Das kommt in den besten Familien vor. Und? Dann bekommt sie eben ein Kind. Wie willst du das auf dieser kleinen Insel vertuschen? Indem du mir den Mund verbietest? Versuch nicht, mir zu drohen. Ich entscheide selbst, mit wem ich über was rede.«

Binajatja war blass vor Wut. »Du wagst es, so mit mir zu sprechen? Wenn ich euch entlasse, habt ihr nichts mehr!«

»Du kannst deine Tochter nicht daran hindern, mit ihren Freunden zusammen zu sein«, beharrte Alika. In ihren dunklen Augen war keine Furcht, sie wich keinen Fingerbreit zur Seite. »Du kannst sie doch nicht gerade jetzt einsperren! Sie braucht Luft und Sonne und den Duft dieses Gartens und das Meer und die Bäume. Und Menschen an ihrer Seite. Wer wüsste das besser als ich? Man ist so empfindlich in dieser Zeit … Mino ist meine Freundin und ich werde nicht dabei zusehen, wie du ihr diese wunderbaren Monate verdirbst!«

»Ach ja«, sagte Binajatja langsam. »Du bist ja auch schwanger, nicht wahr, Alika?«

»Ja, das bin ich«, sagte Alika stolz.

»Im Frühjahr? Hast du mir das nicht vor ein paar Wochen gesagt? Im Frühjahr, nicht?«

»Lenk jetzt nicht ab, Binajatja!«

»Ich lenke nicht ab, ich denke nach.« Kurz entschlossen hielt Binajatja die Tür auf. »Komm rein, Alika. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

Mino hatte fast vergessen, wie mild der Winter auf Arima war. Zu einer Zeit, in der sie davon träumte, mit Keta durch den Schnee zu stapfen, saß sie draußen im Garten und trank den süßen Früchtetee, den Alika für sie beide regelmäßig kochte. Stundenlang redeten sie miteinander. Seit Jati befördert worden war – als Folge ihrer Vereinbarung mit Binajatja –, brauchte Alika kaum noch zu arbeiten. Sie kümmerte sich um Binajatjas Blumen, aber die meiste Zeit sorgte sie sich um Binajatjas Tochter.

Der Winter bescherte ihnen einen blassen, wolkigen Himmel, unter dem alle ihre Bewegungen sanft und verträumt wurden. Kugelrund saßen sie nebeneinander und spielten das Spiel: »Wessen Baby sich zuerst bewegt, der hat gewonnen«.

»Denkst du viel an Norha?«, fragte Alika.

Mino lächelte. »Es überrascht dich vielleicht, aber das tue ich tatsächlich.« Immer, wenn Blitz vor ihr auftauchte, wischte sie sein Bild entschlossen fort und dachte an Norha. Immer, wenn Blitz’ schwarze Augen sie in ihren Träumen anschauten, gab sie sich einen Ruck und erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit Norha, bevor er abgereist war.

Sie hatte sich in weiser Voraussicht an den Esstisch gesetzt, so dass die Holzplatte ihren Bauch verbarg. Als Norha vor sie hintrat, bemühte sie sich, ihn anzusehen. Es fiel ihr schwer; irgendwie glitt ihr Blick ständig an ihm vorbei, an seinem glatten Gesicht, seinen Augen, die auf sie so merkwürdig zurückhaltend wirkten. Wie anders waren Blitz’ Blicke gewesen! Dunkel und feurig, und wenn er einen Raum betrat, dann erfüllte er ihn ganz mit seiner bloßen Anwesenheit. Dagegen war es leicht, Norha zu übersehen oder zu vergessen, dass er da war oder dass es ihn überhaupt gab.

Zögernd setzte er sich ihr gegenüber, die Verlegenheit glühte auf seinen Wangen rot auf.

»Deine Mutter meint, ich sollte in Drian und Sitra Verhandlungen über die Zollgebühren führen. Von meinem Bruder Wikant nehmen sie anscheinend nicht so viel wie von uns. Er ist ein geschickter Verhandlungspartner. Ich hoffe«, Norha räusperte sich, »dass ich etwas für Arima tun kann. Deine Mutter sagte mir, dass sie das als mein Geschenk zu unserer Hochzeit betrachtet.«

Sie versuchte, ihn wahrzunehmen, aber selbst der Tisch, an dem sie saß, schien ihr wirklicher als dieser rotwangige Mann. Sie wusste nicht einmal, welche Farbe seine Augen hatten. Vielleicht war der Traum zu stark, vielleicht war alles andere in ihr zu gewaltig und überwältigend: das Kind, die verlorene Liebe, zu viele Sehnsüchte, zu viele Gefühle.

Norha nahm sichtlich all seinen Mut zusammen. »Du musst mich nicht heiraten, Mino«, sagte er, »wenn du nicht willst.«

Sie hörte die Furcht in seiner Stimme – vor Ablehnung, aber auch vor Zustimmung, vor allem, was auf ihn zukam. Und auf einmal konnte sie ihn sehen. Er hatte ein freundliches, unauffälliges Gesicht, von Furcht und Unsicherheit überschattet.

Er war ein Gegenüber, ein Mensch, dessen Wirklichkeit die ihre berührte. Und sie würde ihn nicht belügen. »Norha«, begann sie. »Ich muss dir etwas sagen. Es gibt einen Grund, warum du gerade jetzt abreisen sollst.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, gab er zu. »Ich dachte – vielleicht willst du die Hochzeit hinauszögern?«

Sie sah ihm in die Augen. Sie waren grünlich, mit braunen Flecken gesprenkelt.

»Ich bin schwanger, Norha«, sagte sie. »Deswegen schickt meine Mutter dich fort.« Sie wartete auf seine Reaktion.

Er senkte den Blick auf die Tischplatte. Die Röte in seinem Gesicht stieg höher und kroch über seine Stirn bis zu den Haarwurzeln.

Sie lachte leise. »Meine Mutter hat sich so bemüht, dass du nichts erfährst. Und jetzt sage ich es dir einfach. Bist du nicht entsetzt?«

»Möchtest du jetzt schon heiraten?«, fragte er leise.

Dieses Angebot überwältigte sie, eine Welle von Zuneigung überflutete sie.

»Danke – aber man wird sehen, dass du nicht der Vater sein kannst. Es wird dunkel sein. Alika wird es als ihr Kind aufziehen, zusammen mit ihrem eigenen.«

Er nickte. »Das klingt nach einer guten Lösung. Dann hast du es ganz in der Nähe. Und auf deinen guten Ruf fällt kein Schatten.« Seine Augen streiften ihre helle Haut. Es fühlte sich fast an wie eine Berührung.

4. Dieses Mal

O B E NI ND E NNordhäfen von Sandart war es das ganze Jahr über kühl und windig. Für Erion, der das milde Klima der Glücklichen Inseln gewöhnt war, war jeder Atemzug wie ein Schlag ins Gesicht. Aber Zukata lachte dröhnend, als sie alle von Bord gegangen waren – seine Piraten, seine Räuber, sein Gefangener. Anders als auf Neiara wirkten sie hier nicht wie eine Invasion, sondern fielen inmitten der vielen Schiffe, der Hafenarbeiter und Seeleute kaum auf.

»Sandart«, sagte Zukata zufrieden. »Endlich.« Er musterte seine Mannschaft mit seinen stechend blauen Augen. Unter diesem Blick fühlte jeder Einzelne sich klein und schuldig, jeder fragte sich: Ist er zufrieden mit mir? Habe ich genug getan auf dieser Reise, um ihn meiner Treue zu versichern? Sie duckten sich, aber keiner hätte darauf verzichten mögen, dass Zukatas Blick auch ihn traf, dass auch er beachtet und mit einem Nicken belohnt wurde.

»Ich werde nach Tirilis gehen und mit König Wersom sprechen«, sagte er. »Ich habe ein Abkommen mit ihm. Er wird uns Soldaten gegen Deret-Aif zur Verfügung stellen.«

Seine Leute horchten auf. Keiner hatte je gewagt, ihn zu fragen, was er mit dem Herrscher von Sandart abgemacht hatte.

»Und dann«, fuhr Zukata fort, vor ihren Augen schien er zu wachsen, »dann wird sich endlich erfüllen, was ich euch versprochen habe. Ich mache euch zu den Größten des Kaiserreichs. Wenn ich auf dem Kaiserthron sitze, werdet ihr Fürsten und Könige sein. – Glaubst du das nicht?«

Er wandte sich an Erion, der etwas verloren zwischen den jubelnden Männern stand und sich fragte, ob Zukata Gedanken lesen konnte. Wie konnte der Riese wissen, dass er das Ganze für aufgeblasenes Gerede hielt?

»Doch«, beteuerte Erion schnell. »Natürlich.«

Zukata runzelte die Stirn. Seine Hand schnellte vor, er packte den Jungen beim Schopf und schüttelte ihn ein paar Mal kräftig. Dann ließ er ihn unvermittelt los, und Erion, der schon geglaubt hatte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, brach zusammen und weinte.

Zukata schnaubte verächtlich. »Lüg mich nie wieder an. Hast du das verstanden?«

»Ja«, schniefte der Junge, der auf die Freundschaft dieses Mannes gehofft hatte und auf eine Krone – für sich, nicht für diese schmutzigen Piraten.

Zukata betrachtete den am Boden liegenden Gefangenen verächtlich, dann wandte er sich wieder an seine Männer. »Ich gehe voraus«, bestimmte er. »Ihr kommt mir nach, so schnell ihr könnt.«

Er hatte keine Geduld. Es zog ihn vorwärts, nach Tirilis, der Hauptstadt des Großreiches Sandart. Je schneller er den König an ihre Abmachung erinnerte, um so eher konnte er seinen Feldzug beginnen. Es duldete keinen Aufschub. Zu lange hatte er schon gewartet, zu lange hatte er sich vertrösten lassen und den Lügen seiner Familie zugehört. Sein Vater hatte ihn verraten. Sein Bruder hatte ihn betrogen. Er hatte zwar das Versprechen, dass Keta ihn eines Tages segnen würde, wenn er Blitz verschonte, aber Zukata war sich darüber im Klaren, dass auf Keta kein Verlass war. Er musste seine Familie vor vollendete Tatsachen stellen.

 

Mit großen Schritten eilte er durch den Hafen und die angrenzende Stadt. Die erzwungene Untätigkeit auf dem Schiff war für ihn kaum auszuhalten gewesen. Die ganze angestaute Energie brach sich jetzt Bahn; wie ein Pfeil, endlich von der Sehne gelassen, schnellte er vorwärts, und als er die Stadttore hinter sich hatte, begann er zu laufen.

Kein Mensch hätte jetzt noch mit ihm mithalten können. Sobald er in einen gleichmäßigen Rhythmus gefunden hatte, konnte er ohne Schwierigkeiten stundenlang so weiterlaufen. Er lief, und dabei waren seine Erwartungen fast noch schneller als er, immer waren sie vor ihm, seine Träume, seine Wünsche, all das, was sein würde. Es musste so sein, er würde dafür sorgen.

Nur zwei Tage brauchte Zukata, um Tirilis zu erreichen, den Ort, an dem er die nächsten wichtigen Schritte planen wollte. Die Soldaten, die ihm entgegentraten, würden bald auf sein Kommando hören, und die Tore des Schlosses, die sich ihm öffneten, würden eines nicht mehr fernen Tages den Kaiser von Deret-Aif einlassen.

»Der König ist bereit, Euch zu empfangen, Prinz Zukata.«

Dann, wenn es soweit war, würde es nicht heißen: Er ist bereit. Dann würden sie sagen: Er ist überglücklich, Euch empfangen zu dürfen. Und sie würden sich hüten, ihn mit diesen misstrauischen Gesichtern von oben bis unten zu mustern. Und es würden auch nicht so viele Wachen mit ihm in den Königssaal eintreten. Sie blieben zwar am Eingang stehen, aber ihm war durchaus bewusst, dass sie dort blieben. Das letzte Mal hatte König Wersom sich noch getraut, ihn unter vier Augen zu sprechen. Diesmal saß er merklich angespannt auf seinem Thron.

»Ah, Prinz Zukata!« Er stand auf, kam ihm ein paar Schritte entgegen und drückte ihm die Hand, kehrte dann aber rasch zurück auf seinen gepolsterten Stuhl, als sei es dort irgendwie sicherer.

»Ihr habt nicht erwartet, mich wiederzusehen«, stellte Zukata fest.

»In der Tat. Prinz Zukata – noch ist nichts von all dem zu sehen, was Ihr versprochen habt. Ihr hattet meine volle Unterstützung, und was habt Ihr daraus gemacht? Eure Geisel habt Ihr verloren. Ihr habt weder den vielgepriesenen Segen errungen noch seid Ihr dem Thron von Kirifas auch nur einen Schritt nähergekommen. Damit erkläre ich unsere Zusammenarbeit für beendet – und Ihr kommt noch günstig dabei weg, denn obwohl ich Euch Obdach in Sandart gewährt habe und Euch sogar bei der Suche nach der verschwundenen Prinzessin Leute zur Verfügung gestellt habe, habe ich nie irgendeine Art der Gegenleistung von Euch erhalten.«

Zukata stand sehr ruhig da, groß und aufrecht wie ein Baum. Nur um seine Mundwinkel zuckte ein kleiner Muskel.

»Ihr dürft gehen«, sagte König Wersom.

»Ihr habt mir Soldaten versprochen«, sagte Zukata und rührte sich nicht von der Stelle. »Ihr habt versprochen, mich beim Angriff gegen Deret-Aif zu unterstützen.«

Der König schüttelte den Kopf. Er sprach langsam, als hätte er ein begriffsstutziges Kind vor sich. »Für den Fall, dass Ihr den Segen erwerbt und damit der legitime Erbe des Kaiserreichs wärt. Nur für diesen Fall.«

»Ich werde auf dem Kaiserthron in Kirifas sitzen«, beharrte Zukata.

»Vielleicht«, räumte König Wersom ein. »Nur vielleicht. Aber ich schicke meine Soldaten nicht gegen meine Nachbarn, mit denen ich nicht im Krieg liege, ins Feld.«

Zukata beugte sich vor. »Letztes Mal habt Ihr noch anders gesprochen.«

»Letztes Mal konntet Ihr mir auch glaubhaft versichern, dass das Königreich Wenz mein sein wird, sobald Deret-Aif Euch gehört! Es schien ja alles so einfach, wie? Der Segen, dann Euer Herr Vater, der gewiss ohne Schwierigkeiten abdanken würde, dann das Riesenreich in Euren Händen, so dass Ihr mir gerne ein Stück davon abgebt … ein fürwahr genialer Plan! Nein, Prinz Zukata. Wenn Ihr nicht einmal den ersten Schritt dieses Weges gehen konntet, wie soll ich Euch glauben, dass Ihr den Rest der Strecke bewältigen könnt? Eure Familienstreitereien gehen mich nichts an. Noch einmal sage ich es Euch im Guten: Ihr könnt jetzt gehen, ohne dass ich Euch für die Zeit und die Nerven, die Ihr mich gekostet habt, belange. Prinz Zukata.«

Prinz. Es war kein stolzer Titel mehr, nicht die Verheißung eines Erbes, das dreiundzwanzig Königreiche umfasste, sondern nur noch ein Schimpfwort, Aushängeschild des Versagens.

Zukata atmete tief durch. In ihm begann ein Grollen und Brodeln, er war ein Vulkan, nahe dabei auszubrechen, aber noch stand er, unbeweglich, und rang um Fassung. Schließlich sprach er, mit mühsam beherrschter Stimme.

»Ich habe mir geschworen, dass ich alle dafür bezahlen lasse, die mich verraten und betrogen haben«, sagte er. »Wollt Ihr wirklich dazu gehören, König Wersom?«

Der König gab seinen Wachen ein Zeichen. Geschlossen traten sie einige Schritte vor.

»Ihr seid ein Riese, Prinz Zukata«, sagte er. »Aber auch Ihr seid weder unbesiegbar noch unsterblich. Dort stehen dreißig Soldaten, bis an die Zähne bewaffnet, die Euch aus meinem Palast geleiten werden.«

Die Sandarter kamen näher, sie verteilten sich weiter im Raum und ließen die Tür frei. Zukata sah die Pfeile, die auf ihn gerichtet waren, eiserne Spitzen, bereit zu fliegen. Sie glänzten dunkel. Gift? Er konnte es nicht wissen, aber allein die Vermutung genügte, dass seine Nackenhaare sich sträubten.

»Euer Gesindel ist auf dem Weg hierher«, fügte der König hinzu. »Ich habe ihnen bereits einen Trupp Soldaten entgegengeschickt. Besser ist es, Ihr nehmt Eure schmutzigen Halsabschneider mit und verlasst mein Land, oder es wird nicht mehr viele geben, die Ihr für Euren Feldzug gegen den großen Kaiser von Deret-Aif ins Gemetzel führen könnt.«

Der Muskel in Zukatas Gesicht zuckte immer noch.

Er ging schnell, vielleicht noch schneller als auf dem Hinweg. Und als er seine kleine private Armee die Straße entlangtrotten sah, seine Piraten und Räuber, sein Gesindel, seine Halsabschneider, atmete er auf und blieb stehen, um auf sie zu warten. Er rannte ihnen nicht entgegen, mit ausgebreiteten Armen, sondern wartete, das Gesicht dunkel.

»Zukata!« Settan eilte auf ihn zu. »Warst du schon in Tirilis? Was hat er gesagt? Wann geht es los?«

»Ich hatte fast erwartet, er würde dir die Soldaten gleich mitgeben.« Einer der Räuber lachte, fühlte sich ertappt und hörte sofort auf.

Zukata schwieg. Er schwieg, bis ihnen sein Schweigen auffiel. Einer nach dem anderen verstummte gleichfalls und versuchte, nicht allzu sehr betreten in eine andere Richtung zu schauen, um seinen Zorn nicht herauszufordern.

»Er hat mich fortgejagt wie einen räudigen Hund«, flüsterte Zukata. Nicht zornig klang es, nur fassungslos, und der eine oder andere fragte sich, wann er dafür würde bezahlen müssen, dass Zukata ihn zum Zeugen seiner Demütigung gemacht hatte.

»Was schlägst du vor?«, fragte Zukata, und der blaue Blick richtete sich plötzlich auf Erion.

Der Junge schrak zusammen. Wenn er nicht mitten zwischen den Räubern gestanden hätte, wäre er vielleicht ein paar Schritte zurückgewichen, so aber konnte er sich nicht von der Stelle rühren. Er musste Zukatas Frage aushalten, und an dem gleichzeitigen Zusammenzucken und erleichterten Aufatmen der Männer erkannte er, dass diese Frage wie der Vorbote eines Sturms war, dass es sich bald zeigen würde, an wem der Riese seinen Grimm auslassen würde.

»Ich«, stammelte er, erschrocken, »ich …«, während er fieberhaft nach einer Idee suchte, nach etwas, was ihn retten konnte, und zugleich verzweifelt und schwungvoll beendete er den Satz: »würde vorschlagen, Ihr heiratet eine Prinzessin.«

»Was?« Auch dies war noch kein Schrei, noch lange kein Gebrüll, aber der Sturm kam näher, unzweifelhaft. »Was für eine Prinzessin?«

»Die Tochter des Königs von Yos«, antwortete Erion standhaft. »Sie heißt Sidini. Durch diese Heirat wärt Ihr mit einem Schlag der Erbe der Krone von Yos. Damit wärt Ihr gleichzeitig ein Mitglied der königlichen Familie von Melgian. Aus diesem Grund ist die Prinzessin auch noch unverheiratet. Ihre Verwandten aus Melgian kann sie nicht heiraten und mit Sandart wollen sie dort nichts zu tun haben. Wenn Ihr gegen Sandart vorgehen wollt, hättet Ihr, wenn alles gut läuft, Yos und Melgian auf Eurer Seite.«

Zukata starrte seinen Gefangenen an. Erion dachte: Er wollte, dass ich sein Freund bin. Er hat es versprochen, das hat er. »Sandart hat gar nicht so viele Soldaten«, fuhr er fort, »vor allem nicht, wenn die Küste von Piraten heimgesucht werden würde. Dann müssten sie an zwei Fronten kämpfen. Ich denke sogar …«

»Halt«, gebot Zukata. »Halt, ich meine: Wieso sagst du mir so etwas?« Auch verblüfft sah man den Riesenprinzen selten. Er schaute auf Erion herab wie auf ein Exemplar einer neuen Tierart, die nie zuvor ein Mensch entdeckt hatte. »Wie kommst du dazu?«

Erion wurde blass. Er spürte die Furcht der Räuber. Sie musste sich nicht auf ihn übertragen, er hatte so schon Angst genug für mehrere von seiner Sorte.

Erions Stimme versickerte zu einem Flüstern. Er wollte klar und deutlich reden und beweisen, dass er mutig war, denn er wusste mittlerweile, wie viel Wert Zukata auf Mut und Aufrichtigkeit legte, aber er konnte kaum sprechen, und er begann auch wieder zu stottern.

»Ich – ich habe mich – mich für Adelskun-kunde in-in-interessiert.«

Zukata wischte die misslungene Auskunft mit einer Handbewegung zur Seite. »Du interessierst dich für Königshäuser?« Er nickte. »Ja, so bist du mir entgegengerannt, wie ein Knirps aus einem Königshaus, ohne Verstand, aber immerhin einen stolzen Namen auf den Lippen. Neiara. Willst du, dass ich Kaiser von Deret-Aif werde, Bürschchen?«

»Ja, ja«, versicherte Erion.

Zukata blickte in die Runde, nicht um sich der Zustimmung seiner Leute zu versichern, sondern um ihre Liebe zu spüren, ihre Zuversicht, mit der sie seinen Wunsch teilten, mit der sie seinen Traum mitträumten.

»Gut«, sagte er. »Dann gehen wir nach Yos.«

»Dort«, sagte Tinek. »Dort soll das Schloss stehen. Ich wüsste keinen besseren Platz.«

»Ich hatte mir immer vorgestellt, wir würden unser Gut einfach erweitern und umbauen.« Mit gerunzelter Stirn betrachtete Wikant den Platz, den seine Frau ausgesucht hatte. Er war eine ganze Ecke von der Kelterei entfernt, ein Ort, den er immer nur als Aussichtspunkt angesehen hatte. Von hier hatte man einen grandiosen Blick aufs Meer, das am Fuß der steil abfallenden Klippe gegen die Insel donnerte. Ein mehrere Meter breiter und noch tieferer Spalt trennte die Felsnadel vom Rest der Insel. Es war keine gemütliche Stelle zwischen Weinbergen und Dörfern, so wie sie bisher gelebt hatten.

»Ich sehe da ein kleines Problem«, sagte Wikant. »Dieser … Felsen, würde ich mal sagen, hat unbestreitbar etwas Königliches, aber er ist ja nicht einmal richtig mit dem Land verbunden. Über diese kleine Brücke kann man doch nicht die Steine für ein ganzes Schloss schleppen.«

Ein paar lange Bretter lagen über dem Riss, und obwohl sie gut befestigt waren, gehörte Mut dazu, hinüberzugehen und nicht nach unten zu schauen.

»Wir können ein paar der Bäume fällen«, schlug Tinek vor und wies auf die großen, sturmerprobten Bäume, die hier oben wuchsen. Fast ein kleiner Wald war es, der sich hier an den Rand der Klippen klammerte. »Sie würden direkt über die Schlucht fallen. Daraus lässt sich doch eine ordentliche Brücke bauen. Außerdem ist das nicht unser Problem. Der Baumeister wird schon dafür sorgen, dass es klappt.«

»Welcher Baumeister?«, fragte Wikant.

»Er.« Sie deutete vage den Hang hinunter. Der Weinfürst sah einen großen, schlanken Mann in gebeugter Haltung sich die Steigung hinaufkämpfen.

»Was? Du hast einen Baumeister bestellt? Ich bin ja mittlerweile daran gewöhnt, dass du mich überraschst, aber das … Tinek! Wir haben nichts! Wir haben überhaupt nichts, mit dem wir ihn bezahlen könnten.«

»Nicht nur ihn. Ihn und seine Arbeiter. Und das Material. Glaubst du, ich weiß nicht, welche ungeheuren Summen dieses Projekt verschlingen wird? Aber bisher ist doch alles gut gelaufen.«

»Wir haben noch nichts von unserem Anteil gesehen«, erinnerte er sie mit gepresster Stimme. »Es gibt keine Garantie dafür, dass die Räuber nicht einfach alles behalten.«

 

»Sie haben einen Boten zu Zukata geschickt. Oder eine Nachricht. Wie auch immer sie mit ihm in Kontakt stehen.«

»Das haben sie gesagt.« Wikant seufzte. »Tinek, du weißt, dass das nicht heißen muss, dass wir die Hälfte der Beute bekommen werden. Sie gehören zu Zukata, also wird er sicherlich einen Anteil einfordern. Meinst du, er wird darauf zu unseren Gunsten verzichten? Meinst du, er sagt: Ich fühle mich geehrt, weil ihr meinem Auftrag nachkommt, und sicherlich dürft ihr von diesem Gold nehmen, was ihr braucht? Oder wird er sagen: Es ist doch nicht mein Problem, ob ihr ein Schloss da hinstellt oder nicht, ich habe euch nur gesagt, wie es laufen wird? Oder wird er es nicht einmal für nötig halten, uns zu antworten?«

Sie sahen gemeinsam zu, wie der Mann sich näherte.

»Tinek, es gibt keine Garantie, dass wir Erion jemals wiedersehen.«

Er hatte es endlich gesagt. Sie drehte sich zu ihm um und warf das Kinn hoch. »Nein«, sagte sie. »Ich bin nicht dumm, ich weiß das selbst. Aber was haben wir zu verlieren? Was, frage ich dich. Entweder wir werden König und Königin und leben in einem Schloss und stehen diesen Geizhälsen in Drian oder Tors in nichts nach, wir stehen uns gut mit Zukata, dem zukünftigen Kaiser, und irgendwann bekommen wir unseren Sohn zurück, der ein Vertrauter des Kaisers sein wird … oder – ja, oder was? Oder wir stürzen uns hier von diesem Felsen, da nach unten, ins Meer? Willst du lieber das? Ich merke, wie du dich über mich wunderst. Aber was sollen wir denn sonst tun? Wir werden mit den Wölfen heulen oder untergehen.« Sie nickte, und ein nachdenklicher Zug trat in ihre Augen. »Wikant, es war der schwärzeste Tag in unserem Leben, als der Riese unser Tor eingetreten hat. Aber hast du bemerkt, wie dieses Raubgesindel uns ansieht, wenn wir erzählen, dass Prinz Zukata an unserem Tisch gesessen und unseren Wein getrunken hat? Sie sehen etwas in ihm, das sie sogar dazu bringt, mit uns ihre Pläne zu besprechen, statt uns den Schädel einzuschlagen. Vielleicht wird es wirklich wahr. Er wird der große Kaiser in Kirifas sein. Und dann gehören wir zu denen, die …«

Sie brach ab, denn der Baumeister hatte sie jetzt endlich erreicht. Vorsichtig balancierte er über die Bretter und trat zu ihnen auf den Felsen. Sein Gesicht strahlte. »Uneinnehmbar«, rief er aus. »In der Tat, uneinnehmbar, unangreifbar!«

»Du hältst es nicht für einen Nachteil, dass wir hier auf einer Felsnadel sitzen?«, erkundigte Wikant sich irritiert, denn er hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet.

»Auf der einen Seite das Meer, der steil abfallende Fels, und hier diese Schlucht … bessere Voraussetzungen gibt es wohl kaum. Das Schloss wird auf einer unerreichbaren Säule thronen. Eine Zugbrücke muss hier herüberführen. Wenn sie hochgezogen ist, wer soll da gegen Euren Willen eindringen können?«

»Ja«, sagte Tinek, »genau so dachte ich es mir auch.«

»Kommende Generationen werden Euch für dieses Haus dankbar sein.«

»Das ist der Beginn unserer eigenen Dynastie«, murmelte sie. »Wir legen den Grundstein für Jahrhunderte. Das Haus Neiara. Die Herren der Inseln.«

Wikant schnaubte verächtlich. »Mit den Wölfen heulen, fürwahr.«

Tinek hatte ihn gehört. »Und?«, fuhr sie ihn an. »Willst du dich lieber von ihnen zerreißen lassen? Willst du Drian unsere Insel überlassen? Denen? Lieber zeige ich ihnen, dass ich auch Krallen und Zähne habe.«

Der Baumeister ging bereits auf und ab und zählte seine Schritte.

»Die erste Rate ist fällig«, sagte Kelon. Er stand vor ihr; da Tinek sich hinter dem Tisch verschanzt hatte, wirkte er wie ein unschlüssiger Angreifer. »Der Baumeister verlangt sein Geld. Und die Weinarbeiter haben schon einige Monate auf ihren Lohn verzichten müssen. Sie murren, wenn sie sehen, dass ihr euch ein neues Haus baut, statt ihnen ihr Geld zu geben.«

»Es muss sein.« Sie bemühte sich, sicher und selbstbewusst aufzutreten und ihn ihre eigene Angst nicht merken zu lassen. »Hier im Gutshaus sind wir nicht sicher. Du warst dabei, du weißt, dass hier einfach jeder hereinplatzen und mitnehmen kann, was ihm gefällt.«

»Ja, ich war dabei.«

»Nun denn. Vertröste sie. Das Geld wird bald eintreffen.«

»Welches Geld?«

»Geld eben. Es wird kommen. Es ist schon unterwegs.« Sie hatte nicht vor, ihrem Verwalter mitzuteilen, woher sie diese Gewissheit hatte. Und eine Gewissheit war es schon lange nicht mehr. Mit ihrer Hilfe hatten die Banditen zwei Schlösser geplündert. Sie hatte sogar den Verdacht, dass sie es immer noch taten, dass sie, nachdem sie sich einmal dort eingenistet hatten, nicht so schnell wieder damit aufhören würden, solange man ihnen nicht auf die Schliche kam. Warum hätten Berufsverbrecher ihr und Wikant etwas dafür bezahlen sollen, dass sie ihr diebisches Handwerk ausübten?

Kelon schüttelte den Kopf. »Das wird nicht mehr lange gutgehen.«

»Das lass ruhig meine Sorge sein.«

Aber sobald er fort war, stützte sie ihr Gesicht in die Hände und kämpfte gegen die Tränen. Es lief alles so gut. Die Pläne für das Schloss waren gezeichnet, die erste Ladung Steine wurde bereits den Hügel hinaufgezogen. Im Hafen wartete schon das zweite Schiff. Und sie hatten nichts, um all das zu bezahlen.

Wikant trank wieder. Sie wusste das, obwohl er versuchte, es vor ihr zu verheimlichen. Aber sie hatte es sofort gewusst, sie hatte ihm nur einmal ins Gesicht sehen müssen, in seine Augen, die schuldbewusst zur Seite starrten, und ihre alte Angst kehrte zurück. Er ruiniert sich und das Gut, er ruiniert uns alle …

»Fürstin Tinek?« Kelon steckte schon wieder den Kopf durch die Tür.

»Was? Was denn noch?«

»Hier ist ein Mann, der Euch zu sprechen wünscht.«

»Was will er? Geld?«

Noch ein Gläubiger. Sie nickte kraftlos, aber als der Mann eintrat, setzte sie sich aufrecht hin und blickte ihm kühn entgegen. Es musste einer der Hafenarbeiter sein, der seinen Lohn verlangte, wahrscheinlich einer der Vorarbeiter, denn er wirkte wie jemand, der zu arbeiten verstand, gleichzeitig trug er das Kinn recht hoch für jemanden, der sich jeden Tag neu verkaufen musste.

»Ja?«, fragte sie und kramte in dem Stapel Papiere vor sich, als sei sie ungeheuerlich beschäftigt.

Der Fremde setzte sich ohne Aufforderung, und da ihm kein Stuhl zur Verfügung stand, benutzte er einfach ihren Schreibtisch dafür. Dabei lächelte er, und irgendetwas war in diesem Lächeln, das ihr ganz und gar nicht gefiel.

»Ihr werdet alle euren Lohn bekommen, ganz bestimmt«, versicherte sie schnell. »Ich muss nur … ich warte auf …« Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie wünschte sich, Wikant wäre da und würde es übernehmen, mit solchen Leuten zu reden. Männer wie dieser hier waren in der Lage, einem das Dach über dem Kopf anzuzünden, wenn man gegen die Regeln verstieß. Sie wusste das. Mittlerweile hatte sie mit genug merkwürdigen Typen zu tun gehabt, die ihre eigenen Gesetze aufstellten und über die Sorgen und Nöte anderer nur lachen konnten.

»Wie recht du hast«, sagte er leise. »Jeder wird bekommen, was ihm zusteht, wenn er bezahlt hat.«

Sie schluckte. »Du kommst von – von ihm?«

»Kluges Kind. Ja, ich komme von ihm. Zukata höchstpersönlich hat mich hergeschickt.«

Ihr Herz flatterte wie ein Schmetterling in einem Glas. Er genoss ihre Angst sichtlich.

»Fürstin«, sagte er. »Fürstin Tinek. Nennt Ihr Euch nicht so? Man hört, Ihr baut ein Schloss.«

»Ja«, hauchte sie.

»Ein eigenes Schloss, auf dem Fundament des Goldes anderer Schlösser?«

Sie wusste nicht, ob das ein Vorwurf oder ein Kompliment sein sollte, also schwieg sie dazu.

Er griff in seinen Mantel und zog einen kleinen Beutel hervor, den er vor ihr auf die Rechnungen fallen ließ. Tinek zuckte zusammen. Münzen. Sie wusste, wie Goldmünzen klangen, das schönste Geräusch der Welt, und doch wagte sie nicht, die Hand danach auszustrecken. Der Fremde tat es für sie. Mit langen Fingern zupfte er an der Schnur, und die Münzen rollten über den Schreibtisch.