Tochter des Ozeans

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Für mich waren diese Ausflüge, so wenige es auch gewesen waren, bei weitem schlimmer als für die Einwohner.

Auf den Straßen hatten sie jedes Mal über mich getuschelt, so laut, dass ich jedes Wort hatte hören können. Sie hatten mit dem Finger auf mich gezeigt und mich mit offenem Mund angestarrt. Es war, als ob ein blinkendes Leuchtreklamen Schild über mir gehangen hätte.

Verehrte Damen und Herren, sehen Sie hier! Heute, extra für Sie, das Entführungsopfer. Kommen Sie näher und sehen Sie! Eintritt frei.

Ich war mitten auf dem Gehweg zusammengebrochen, nachdem zwei ältere Damen darüber geredet hatten, ob ich jemals ein normales Leben würde führen können oder ob ich nicht für immer gezeichnet blieb.

Jeder kannte mein Gesicht und meine Geschichte aus den Nachrichten. Ich war fast schon eine Berühmtheit.

Ein paar der Artikel hatte ich auf Wunsch zusammen mit Doktor Jones gelesen und war erstaunt, wieviel mehr die Medien über mich wussten als ich selbst.

Doktor Jones hatte mir zwar erklärt, dass es sich oft um Spekulation handelte oder man nur versuchte meine Geschichte auszuschlachten, trotzdem kam ich mit dem Medienhype um mich nicht zurecht.

Ich wollte die Einrichtung auf keinen Fall mehr verlassen und blieb die meiste Zeit in meinem Zimmer, schaute aus dem Fenster in den Park und wünschte mir, jemand anderes zu sein.

Aber ich konnte nicht auf ewig dort bleiben. Doktor Jones erklärte mir, dass ich dank der guten Fortschritte, die Institution bald verlassen durfte. Ich überlegte tatsächlich wie ich das verhindern konnte. Allerdings war ich eine miserable Schauspielerin und meine Psychologin kannte mich nach dreieinhalb Jahren zu gut, als dass ich ihr etwas hätte vormachen können.

Gemeinsam beschlossen wir, mich möglichst weit wegzuschicken, in ein anderes englischsprachiges Land. Gegen Australien entschied ich mich sofort wegen der Hitze, aber Kanada und ein Teil der USA kamen in die engere Auswahl. Man suchte nach Familien mit gleichaltrigen Kindern in einer ruhigen Gegend, die eine Jugendliche adoptieren wollten.

Ein abgelegener Ort sollte es sein, einer, in dem man vermutlich noch nie von mir gehört hatte.

Ein paar Familien lernte ich über Skype kennen, aber die Moores waren die einzigen, die ich einladen wollte und es hatte von Anfang an gepasst.

»Clara, Liebling. Kommst du bitte vors Haus.« Moms Stimme drang die Treppe empor.

Und da ich ein braves, dankbares Mädchen war, das keinen Ärger machen wollte, schob ich die Einsamkeit gut verpackt in einen hinteren Winkel meines Gehirns, band meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen und kam ihrer Bitte nach.

Die ganze Familie stand versammelt vor dem Haus, Dan mit einem stolzen Ausdruck im Gesicht, wie ihn Männer in Autozeitschriften immer haben. Mom wirkte aufgeregt und lächelte mich fröhlich an. Nur Delilah stand abseits und hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Ihr Blick ließ keine Zweifel an meiner These.

Sie alle standen um ein silbernes Auto herum, das frisch poliert wirkte und eine große rosa Schleife auf der Kühlerhaube hatte.

»Tada«, rief Mom und klatschte in die Hände. »Der Wagen ist für dich. Frisch aus der Werkstatt.«

»Und er ist erst drei Jahre alt, stand die meiste Zeit in der Garage« fügte Dan hinzu.

Sie strahlten mich beide mit einer so aufrichtigen Freude an, dass ich ihnen nur ungern das Herz brach.

»Ein Fahrrad hätte es auch getan«, murmelte ich.

»Was sagst du, Liebes?« Moms Augen wurden groß. Ich stöhnte.

»Ich freu mich wirklich und das ist super lieb von euch. Aber… aber ich kann gar nicht Auto fahren, ich habe keinen Führerschein.« Meine Stimme wurde immer leiser, bis sie fast gänzlich versagte.

Drei Paar Augen starrten mich ungläubig an.

Delilah brach als erste das Schweigen: »Welche Siebzehnjährige hat denn bitteschön keinen Führerschein?« Ihre Stimme triefte vor Verachtung.

Ich wandte mich ihr direkt zu und schaute ihr fest in die Augen:

»Wann bitte hätte ich denn den Führerschein machen sollen? Ich war acht Jahre eingesperrt und danach hatte ich wirklich anderes zu tun!«

Sie wurde feuerrot im Gesicht und stürmte ins Haus. Blöde Kuh!

Keiner achtete auf sie, meine neuen Eltern kamen stattdessen auf mich zu.

»Es tut uns so leid! Daran hätten wir denken sollen«, sagte Mom sanft. »Bis du deinen Führerschein gemacht hast, wird dich Delilah mit zur Schule nehmen.«

»Da freut sie sich bestimmt«, seufzte ich.

»Nimm sie bitte nicht so ernst, ja. Sie muss sich noch daran gewöhnen, sie hatte es in letzter Zeit nicht einfach.« Dan berührte mich leicht an der Schulter und lächelte aufmunternd.

Ich nickte zwar, hatte aber kein Mitleid mit meiner Adoptivschwester.

Ich hatte in England genug solcher Mädchen kennengelernt, um zu wissen, wie ich mit ihnen umgehen musste. Zwar hatte ich keine Lust auf Zickenkrieg, aber ich würde mich nicht fertigmachen lassen. Nie mehr!

Das Wochenende verbrachte ich die meiste Zeit lesend in meinem neuen Zimmer oder mit Dan im Garten, wo er mir seine Beete zeigte und versuchte, mich dafür zu begeistern.

Mir blieb auch nicht viel anderes übrig. Mom war wegen eines Meetings nach LA geflogen und Delilah war die meiste Zeit nicht zu Hause. Nicht, dass es mich störte, aber wenn sie nicht so ein Problem mit mir gehabt hätte, dann hätte sie mich vielleicht mitgenommen und ihren Freunden vorgestellt. So aber würde ich am Montag in der Schule vollkommen die Neue sein. Vermutlich erzählte sie ihren Freunden schon, wie verrückt ich war.

Das nahm mir nicht gerade die Angst vor dem ersten Schultag. Im Gegenteil, meine Paranoia freute sich über das gefundene Fressen und ärgerte mich mit Erinnerungen an früher.

Als ich in das Florence-Nightingale-Institut kam, war ich vierzehn und hätte damals in der neunten Klasse sein sollen, aber die Schulleitung steckte mich wegen der versäumten acht Jahre in die fünfte Klasse, ohne mich vorher auszufragen oder auch nur mein Wissen zu testen.

Man glaubt ja gar nicht, wie fies kleine Kinder sein können. Sie haben jede meiner Ängste gerochen und mich damit schamlos fertiggemacht.

Das war auch der Grund, warum man ein halbes Jahr lang nicht merkte, dass ich unterfordert war, denn ich sprach kein Wort.

Es war Doktor Jones gewesen, die feststellte, dass ich gar nicht so weit zurück war mit dem Schulstoff. Sie war bis dahin auch die einzige, mit der ich überhaupt redete. Sie merkte schnell, dass ich viel wusste und zu sagen hatte.

Nach und nach öffnete ich mich ihr und erzählte, dass er mich unterrichtet hatte. Ihm hatte viel an meiner Bildung gelegen und er hatte mich täglich, auch am Wochenende, in Mathematik und Schreiben, Erdkunde und Politik unterwiesen. Auch Kunst, klassische Musik und Tanz hatte er mir nahegebracht. Ich war eine sehr gute Schülerin gewesen. Er hatte mich mit dem heißen Bügeleisen darauf getrimmt keine Fehler zu machen.

Doktor Jones setzte sich dafür ein, dass man mich in eine höhere Klasse schickte. Aber auch dort wurde ich fertiggemacht. Ich habe nie erfahren, was die anderen Kinder gegen mich hatten und Doktor Jones hat es mir nie erklärt. Aber nachdem mein Schulzeug samt Tasche in Flammen aufging, bekam ich Einzelunterricht.

Ich hatte also meine starke Abneigung gegen Gruppenunterricht nicht von irgendwo her. Ich glaubte aber, dass es jetzt besser werden würde.

Nicht, dass ich eine Optimistin wäre, ich hoffte einfach nur, dass es in einer Schule für normale Jugendliche nicht so zuging.


KAPITEL 3

Selene – Mondgöttin, folgt Helios am Abend über den Himmel

Am Montagmorgen nahm mich Delilah in ihrem Auto mit zur Schule. Ich konnte die feindseligen Blicke auf mir spüren, hatte mich aber entschlossen sie zu ignorieren.

Ich betrachtete lieber die Gegend bis zur Neah-Kah-Nie High-School und versuchte mich nicht auf das quälende Gefühl in meiner Brust zu konzentrieren, das immer stärker wurde, desto näher wir dem Ozean kamen. Doch mein Blick wanderte von selbst immer wieder zum in der Sonne glitzernden Wasser.

Gedankenverloren schaute ich aus dem Fenster und bekam nicht mit, dass wir die Schule erreichten.

Erst als Delilah die Fahrertür zuschlug, registrierte ich meine Umgebung.

»Halt, Delilah. Warte!«, rief ich ihr nach, sie drehte sich widerwillig um, lief aber langsam rückwärts weiter und signalisierte mir damit, dass sie keine Lust hatte, mit mir zu reden oder mit mir zur Schule zu laufen.

»Bitte, hilf mir. Sag mir wenigstens, wo das Sekretariat ist.«

Ich konnte sehen, wie sie die Augen verdrehte und ich war mir sicher, dass sie mich hier auf dem großen Parkplatz stehen lassen würde.

Zu meiner Überraschung winkte sie mich zu sich und als ich bei ihr ankam, sagte sie: »Bis zum Sekretariat bring ich dich. Ab da sollen die sich um dich kümmern.«

Ihre Blicke waren kühl und sie sprach kein Wort mehr, während wir zum Schulgebäude gingen.

»Wusstest du, dass man deine Familie wegen dir ausgesucht hat«, setzte ich zu einem Gespräch an.

»Willst du damit sagen, dass es meine Schuld ist?« Sie funkelte mich böse an.

»Was? Nein! Man hoffte nur, dass meine Wiedereingliederung besser verlaufen würde, wenn ich eine Gleichaltrige an der Seite hätte. Die mich vielleicht ihren Freunden vorstellt, mich ein bisschen rumführt und…«

»Deinen Babysitter spielt«, unterbrach mich meine Adoptivschwester.

 

Ich schaute ihr etwas verlegen in die grünen Augen und zuckte mit den Schultern.

»Dann hätte man mich zumindest vorher fragen sollen, ob ich Bock darauf habe, mich mit einer Irren abzugeben! Wir sind da. Bis nach der Schule. Ciao.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon.

Und wieder einmal schaute ich ihr sprachlos hinterher. Das konnte ja noch heiter werden…

Ich klammerte mich mit beiden Händen an meiner Schultasche fest und spähte durch die Glasscheibe ins Innere des Sekretariats. Eine nett aussehende junge Frau saß hinter ihrem Schreibtisch und tippte in ihren Computer. Neben der Tastatur stand eine große Minnie Mouse Tasse und aus irgendeinem Grund gab mir das die nötige Kraft die Türe aufzudrücken. Es klingelte leise als sie sich öffnete und während ich eintrat, erhob sich die Sekretärin und lächelte mich wissend an.

»Hallo, ich bin Clara White. Heute ist mein erster Schultag und ich habe noch keine Unterlagen bekommen.« Ich fühlte mich irgendwie blöd, so wie immer, wenn ich mich jemandem vorstellen musste.

Sie nickte und legte einen Stapel Blätter vor mich.

»Herzlich willkommen an unserer Schule. Hier sind dein Stundenplan, die Hausordnung und alles Weitere, was du benötigst, um dich bei uns zurecht zu finden. Deinen Schülerausweis trägst du am besten immer bei dir. Ich bin Miss Bishop. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du dich gerne an mich wenden.«

Sie lächelte mich herzlich an und zog meinen Stundenplan aus dem Stapel, den sie zwischen uns auf das Pult gelegt hatte. Sie tippte mit der Spitze ihres Kulis auf das Blatt und ich grinste automatisch. Ihr Kugelschreiber war mit Walt Disney Motiven bedruckt.

»Deine erste Stunde hast du in Raum 12. Den Gang runter, die zweite Tür rechts. Beeil dich besser, es wird gleich zum Unterricht klingeln.«

Damit war ich entlassen. Ich raffte mein Zeug zusammen und bedankte mich bei ihr.

Der Vormittag verlief ereignislos. Die Lehrer waren okay, die Schüler nett, aber nicht übermäßig freundlich und ließen mich die meiste Zeit in Ruhe. Ich hätte nichts gegen die ein oder andere Bekanntschaft gehabt, war aber selbst zu schüchtern, um auf die anderen zuzugehen.

So kam es, dass ich in der Mittagspause alleine in der Cafeteria stand und da ich nicht den Mut aufbrachte, mich einfach irgendwo dazuzusetzen, endete ich alleine auf einer Bank vor der Cafeteria.

Ich packte mein Mittagessen aus und dachte an die vergangenen Stunden. Es ging hier tatsächlich anders zu. Viel ruhiger, geradezu langweilig. Ich verbuchte das als ein gutes Omen. In der Nacht, hatte ich schlecht geschlafen und geträumt, dass die Schüler furchtbare Monster mit Fratzen sein würden, die nur darauf warteten, mich aufzufressen.

Ich richtete gerade meinen Dutt neu, als eine laut tratschende Mädchengruppe über den Rasen Richtung Cafeteria schlenderte. Allen voran meine liebe Adoptivschwester.

Die Art wie ihr die anderen folgten, erinnerte mich an eine Ente mit ihren Küken. Quak Quak Quak.

Ich konnte ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen, die der Wind zu mir herüber trug, und hörte öfters den Namen Grayson. Ich belauschte sie neugierig.

Aber als sie in meine Nähe kamen, versuchte ich mich klein zu machen und versteckte mich hinter meiner Brotdose. Delilah entdeckte mich trotzdem.

»Geht schon mal rein. Ich muss noch kurz telefonieren«, befahl Mama-Ente. Und ihre Babys gehorchten und watschelten brav quakend weiter.

Delilah wartete bis sie außer Sicht waren und kam dann zu mir rüber stolziert.

Ein wenig verlegen, als wüsste sie selbst nicht so recht was sie wollte, blieb sie vor mir stehen.

»Hey, geht’s … äh, geht’s dir gut?« Sie wippte nervös auf und ab.

Ich nickte. »Ja, alles in Ordnung.«

»Du wirst nicht fertiggemacht, oder so?«, fragte sie leise. Ihre Stimme hatte einen sonderbaren Ton angenommen.

Meine Augen wurden groß. »Was? Nein! Warum?«

»Na, weil du hier ganz alleine sitzt. Ist ja auch egal. Wollte nur mal hören, ob es dir gut geht.«

Ich schaute sie etwas verblüfft an. Diese Wendung kam unerwartet und ich witterte schon Gefahr, weshalb ich sofort den Schutzpanzer hochfuhr.

»Nein, mir geht es wirklich gut. Ich habe einfach nur noch niemand Nettes kennengelernt.«

Der Seitenhieb war unbeabsichtigt gewesen, doch sie nahm ihn scheinbar persönlich. Denn sie straffte die Schultern und ging wortlos davon.

»Bis später!«, rief ich Delilah nach und erinnerte sie an ihr Versprechen mich wieder mit nach Hause zu nehmen. Ich hätte meine linke Hand darauf verwettet, dass sie mich auf der Heimfahrt am liebsten in den nächstbesten Graben schmeißen würde.

Am Nachmittag hatte ich zwei Stunden Sport, das erste Fach an diesem Tag, in dem ich mich aktiv beteiligte. Ich liebte Sport. Obwohl ich nicht super durchtrainiert war, mochte ich körperliche Betätigungen mehr als still auf einem Stuhl zu sitzen und auf die Tafel zu starren.

Zwei Mädchen, die auch am Morgen in meinem Mathekurs gesessen hatten, bauten mit mir die Geräte auf und fragten mich, wie mir Rockaway Beach und die Schule gefielen.

Wir unterhielten uns eine Weile über belangloses Zeug, ein paar Mal fragten sie mich Dinge über England, aber ich reagierte ziemlich abweisend bei dem Thema und da ließen sie es bleiben. Sie waren nett und ich freute mich wirklich, dass sie mit mir redeten, aber ich hatte keine Lust über meine Zeit in der Psychiatrie zu sprechen. Zumal sie darüber nichts zu wissen schienen und mich für normal hielten. Dabei wollte ich es vorerst auch belassen.

Jenna und Megan begleiteten mich trotzdem bis auf den Parkplatz, wo Delilah schon ungeduldig in ihrem Wagen wartete.

»Sorry, ich muss dann.«

Doch bevor ich losrennen konnte, hielt mich die größere, Jenna, an der Schulter fest. Sofort breitete sich eine Wärme von der Stelle aus, an der sie mich berührte. Ich schaute sie mit großen Augen an. Denn ihre Berührung war alles andere als unangenehm. Seltsam.

»Du fährst mit der da mit?« Etwas an der Art wie sie das sagte, ließ mich aufhorchen.

Ich runzelte die Stirn und nickte. Sie zog ihre Hand zurück und plötzlich fühlte ich mich ganz kalt und leer.

»DAS ist Delilah Moore.« Jetzt klang sie verblüfft.

»Ich weiß, wer sie ist. Sie ist meine Adoptivschwester.«

»Na dann, herzlichen Glückwunsch. Da hast du ja den Jackpot gezogen«, sagte Megan lachend und schlug mir eine Hand auf den Rücken.

Ich zuckte zusammen und wich vor ihrer Berührung zurück. Doch bevor ich fragen konnte, was sie mit ihrer Aussage meinte, hupte Delilah und winkte mir genervt zu.

»Ich muss noch kurz in den Supermarkt. Du kannst im Auto warten«, erklärte Delilah, ohne mich anzuschauen.

»Danke, ich habe auch keine Lust mit dir Zeit zu verbringen«, gab ich zurück und sah, wie sie die Augen verdrehte.

Als sie das Auto parkte, schnappte ich mir meine Tasche und stieg aus.

»Was wird das?«, fragte mein liebenswürdiges Schwesterlein mit hochgezogener Augenbraue. Diesen abwertenden Blick beherrschte sie mindestens genauso gut wie das Augenverdrehen.

»Ich laufe«, antwortete ich und setzte mich in Bewegung. Ich glaubte nicht, dass sie mich aufhalten würde und wenn, war es mir auch egal.

Bevor ich die Straße überquerte, schaute ich noch mal über die Schulter. Delilah stand immer noch neben ihrem Auto und starrte mir nach. Ich grinste.

Für einen so kleinen Ort war ziemlich viel los. Menschen schlenderten den Bürgersteig entlang, unterhielten sich, traten aus dem ein oder anderen Laden heraus und wirkten dabei zufrieden.

Vor mir liefen zwei Mütter mit ihren Kinderwägen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Ich fühlte mich zum ersten Mal nicht unwohl zwischen den Menschen und in der Öffentlichkeit.

Im Gegenteil, es war schön, sich einfach normal zu fühlen und dazuzugehören.

In Rockaway Beach gab es mehrere kleine bunte Touristenläden, mit allerlei Kram, den man gerne aus dem Urlaub mitbrachte. Ich selbst hatte eine kleine Glasflasche mit einem schönen Segelschiff darin auf meinem Nachttisch stehen. Doktor Jones hatte sie mir von einem Wochenendausflug auf Rügen mitgebracht und ich hing sehr daran. Wenn mir mein Zimmer in England manchmal zu klein geworden war und ich mich fürchterlich einsam gefühlt hatte, hatte ich davon geträumt mit diesem Segelschiff davonzufahren, weit fort aus England in eine schönere, bessere Welt, in der ich normal war und meine Eltern noch lebten und mich liebhatten.

Mir war klar, dass ich mich selbst zurückhielt, denn eigentlich wäre ich am liebsten direkt ans Meer gelaufen, das immer wieder zwischen den Häusern zu erkennen war. Doch ich wollte meine Selbstbeherrschung testen. Schon bald war ich an den meisten Läden vorbeigelaufen, die Shoppingstraße war nicht besonders lang und es gab nichts weiter, womit ich mich hätte ablenken können. Also gab ich meinem inneren Drängen nach, ließ mich vom Meer anlocken und verließ die Hauptstraße.

Der Weg an den Strand war leicht zu finden, nur einen Steinwurf entfernt von der Straße. Wieder stand ich wie gefangen da, völlig eingenommen vom Anblick des Meeres. Meine Gedanken standen still und ich vergaß beinahe zu atmen. Verträumt starrte ich hinaus aufs Wasser. Minuten vergingen bis mir bewusst wurde, wie seltsam ich mich verhielt. Und dennoch war es wie nach Hause zu kommen, eine innere Ruhe hatte sich in mir ausgebreitet und ich fühlte mich vollkommen wohl. So wohl wie noch nie in meinem Leben.

Ich wäre gerne ins Meer gewatet, ließ ich mich aber einige Schritte davor im trockenen Sand nieder. Obwohl es erst Anfang September war, war es hier in Oregon schon recht kühl, nicht kalt, aber ohne meine Jacke hätte ich beinahe gefröstelt. Nicht, dass ich es aus England gewöhnt war, im September zu schwitzen.

Ich fasste mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und holte meine Hausaufgaben hervor, die ich schnell erledigte, damit mir noch Zeit blieb, bevor ich nach Hause musste.

Die Möwen kreisten durch die Luft und ab und zu war ihr Kreischen zu hören. Hinter mir wehte der Wind durch die Gräser auf den Dünen und trug ihren würzigen Duft zu mir. Ansonsten waren nur das Rauschen der Wellen und das ferne Brummen der Autos auf der Hauptstraße zu hören. Zufrieden lag ich im Sand, döste vor mich hin und ließ mich von den Geräuschen einlullen. So nah am Wasser war der Sog in meiner Brust sanfter geworden, war zu einem erträglichen Summen im Hintergrund verklungen. Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben ruhig und entspannt.

Die Sonne wärmte meine Haut durch den Stoff und mir wurde angenehm warm. Doch es wurde immer wärmer und wärmer, bis es fast unerträglich heiß wurde und mein Körper zu glühen begann. Wo kam diese Hitze plötzlich her? Eben noch hatte ich es ohne Jacke kaum ausgehalten und jetzt hätte ich mich am liebsten komplett ausgezogen. Die Hitze breitete sich in mir aus, erfüllte jede Zelle und schien mich von innen heraus zu verbrennen. Ich wollte aufspringen und meinen erhitzten Körper im Wasser abkühlen, den Schmerz lindern. Doch noch bevor ich die Augen öffnen konnte, legten sich kühle, nasse Hände auf mein Gesicht, berührten die erhitzten Stellen und mein Herzschlag beruhigte sich. Sanft liebkosten die Hände meine Wangen, streichelten mein Haar und kühlten meinen Nacken. Und ein Gesang, wie aus einer anderen Welt, drang aus der Ferne in mein Ohr.

Lieblich und rein, so verlockend, dass der Sog in mir wieder stärker und wilder wurde. Die Worte waren fremd und doch vertraut, wie ein Wiegenlied, an das man sich nur noch schwach erinnerte. Ich wollte für immer so liegen bleiben und bewegte mich nicht, aus Angst die Stimme und die Hände zu vertreiben.

»Galene, komm nach Hause. Es wird Zeit, es ist bald soweit«, flüsterte eine sanfte Stimme. Die Hände zogen sich zögernd zurück und der Gesang wurde immer leiser bis er ganz verklang. Schlagartig riss ich die Augen auf und setzte mich so abrupt auf, dass mir schwindelig wurde. Ich musste eingeschlafen sein. Aber der Traum war so real gewesen, dass ich einige Sekunden brauchte, um mich zurechtzufinden. Der Schwindel verklang so schnell, wie er gekommen war.

So real träumte ich sonst nie, auch wenn ich eine sehr lebhafte und blühende Fantasie hatte.

Verwirrt schüttelte ich den Kopf und wunderte mich über mich selbst. Doch als ich den verrutschten Haargummi aus den Haaren zog, erschrak ich.

Das Haar um mein Gesicht war feucht und an meinem Hals liefen Wassertropfen hinunter in mein Shirt. Ich leckte meinen Finger ab. Salzige Erkenntnis verteilte sich auf meiner Zunge und ließ mich erstarren. Kein Schweiß, sondern Salzwasser!

 

Ich war mir sicher, obwohl ich noch nie Meerwasser probiert hatte, aber Schweiß schmeckte anders.

Hektisch blickte ich nach links und rechts, weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Der Strand war wie leergefegt. Auch Schuhabdrücke waren keine im Sand zu erkennen. Ich war alleine! Trotzdem fühlte ich mich nicht so. Immer noch spürte ich die Präsenz dieser Person um mich herum, wie ein Wehklagen, tief in meinem Herzen.

Aber wie war das Meerwasser in meine Haare gekommen?

Von den Händen hatte ich doch nur geträumt, genauso wie vom Gesang.

Es hatte niemand neben mir gesessen, während ich vor mich hingeträumt hatte. Niemand hatte mich berührt. Oder?

Panisch sprang ich auf, es lief mir eiskalt den Rücken runter und ich keuchte auf.

Hatte mich jemand beim Schlafen beobachtet und sogar angefasst?

Den Weg nach Hause rannte ich wie von der Tarantel gestochen und blickte mehrmals über die Schulter. Wonach ich Ausschau hielt, wusste ich selbst nicht. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas komplett falsch lief. Ich fühlte mich so verfolgt wie noch nie in meinem Leben und das wollte wirklich etwas heißen.

Und ich spürte immer noch dieses Kribbeln im Nacken, als würde mich jemand beobachten. Nicht mal ›Walk in the Sun‹ konnte mich beruhigen, geschweige denn, dass ich den Text zusammen bekam. Zweimal bog ich in die falsche Straße ab und wurde immer panischer, der Schweiß lief mir übers Gesicht und mein Herzschlag wurde immer schneller. Häuser und Bäume flogen rechts und links an mir vorbei und verschwammen vor meinen Augen, ich hörte nur noch das Blut in meinen Ohren rauschen.

Am liebsten hätte ich laut geschrien und wild um mich geschlagen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hingerannt war, völlig kopflos sprintete ich in die nächste Straße. Sackgasse!

Tränen traten mir in die Augen und rollten mir über die Wangen. Ich wollte zurück nach England!

Ich fühlte, wie sich eine ausgewachsene Panikattacke in mir breitmachte und die Kontrolle über mein Denken und Handeln übernehmen wollte.

Ich war stehen geblieben, keuchend beugte ich mich nach vorn, stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab und versuchte die Angst runterzuwürgen. Zweimal einatmen und stoßartig ausatmen!

Doktor Jones Stimme hallte in meinem Kopf wider. Ich versuchte den Anweisungen zu folgen, als hinter mir Schritte zu hören waren, die immer näherkamen. Jeden Schritt spürte ich wie einen Donnerschlag durch den Asphalt beben.

Mir wurde anders und ich fühlte mich wie in Watte gepackt, meine Beine waren weich wie Pudding und mein Sichtfeld wurde unscharf.

Wegrennen ging nicht mehr, ich saß in der Falle. Also ließ ich mich zu Boden fallen, kugelte mich zusammen und betete.

Dumpf hörte ich wie jemand meinen Namen sagte. Die Augen hielt ich trotzdem weiter fest zusammengepresst.

»Clara! Hörst du mich?«

Die Person ließ sich neben mir nieder und berührte mich. Jetzt schrie ich, fuchtelte wild mit den Armen, schlug gegen einen Körper und wehrte mich gegen die Hände auf mir.

»Woah… Clara, beruhig dich. Ich bin es, Jenna. Was ist denn los?« Ich öffnete die Augen und hörte sofort auf, um mich zu schlagen. Große grüne Augen schauten mich entsetzt an, ihr voller Mund war leicht geöffnet und ich spürte schamvolle Hitze in mir aufsteigen. Oh nein, war das peinlich. Ich lag immer noch halb auf der Straße und gab ein erbärmliches Bild ab. Eilig rappelte ich mich auf und wischte mir währenddessen die Hände an der Jeans ab, um Zeit zu gewinnen.

Was sollte ich ihr denn jetzt sagen? Ich konnte ihr unmöglich die Wahrheit erzählen. Damit würde ich wohl einen der wenigen Menschen vertreiben, die freundlich zu mir waren.

»Ich habe mich…«, setzte ich zögernd an, doch Jenna brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Schon gut. Du musst mir nichts erklären. Ich habe schon gemerkt, dass du nicht gerne über dich redest.«

Ihr Lächeln war echt und offen und das, was sie gesagt hatte, überraschte mich positiv. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit, Jenna bedrängte mich nicht und das war mir sympathisch. Sie war mir sympathisch. Sehr sogar. Ich musterte das große, freundliche Mädchen und fühlte, wie ein Teil meiner Angst von mir abfiel. Jenna war ziemlich hübsch, das bemerkte ich nicht zum ersten Mal. Aber jetzt schien sie, vielleicht gerade wegen ihrer Freundlichkeit, von innen heraus zu strahlen. Sie trug einen einfachen Hoodie zu Jeans und war nur dezent geschminkt. Dennoch fand ich das viel schöner als Delilahs starkes Make-Up.

»Komm, ich bring dich nach Hause.«

Jenna zwinkerte mir zu. Ich fühlte, wie sich bei ihrem Blick ein leichtes Kribbeln in meiner Magengegend einstellte und mein Herz machte dieses kleine, seltsame Ding, das sich wie ein Purzelbaum anfühlte. Ich lächelte zu Jenna hoch, die mich um einen ganzen Kopf überragte. Ihre Augen waren so grün und strahlten eine solche Wärme aus, wie ich es selten gesehen hatte. Jetzt, da sie hier war, fühlte ich mich viel besser und das ungute Gefühl verfolgt zu werden, verflüchtigte sich.

Gemeinsam machten wir uns durch die Dämmerung auf den Weg nach Hause. Die meiste Zeit schwiegen wir, doch dann fiel mir wieder ein, was ihre Freundin am Nachmittag gesagt hatte.

Ich holte tief Luft. »Kann ich dich was fragen?«

»Ja, klar.«

»Was hat Megan vorhin auf dem Parkplatz gemeint? Wegen Delilah.«

»Ach das.« Jenna lachte. »Eigentlich eine ziemlich blöde Geschichte. Megan und sie waren früher mal beste Freundinnen. Sie sind hier aufgewachsen und haben alles zusammen gemacht. Bis vor zwei Jahren, als Delilah zu den Cheerleaderinnen ging und dazugehören wollte. Weißt du, was ich meine? So zu den beliebten Kids und so. Und Megan wollte das eben nicht. Ist einfach nicht ihr Ding, im Mittelpunkt zu stehen. Sie haben sich halt auseinandergelebt. Und dann kam Grayson Johnson.« Sie grinste mich breit an. »Hast du schon von ihm gehört? Er ist der absolute Mädchenschwarm. Natürlich Footballspieler und unglaublich süß, wenn man auf so etwas steht. Es ist noch gar nicht so lange her, da ist er mit seiner Familie hierhergezogen, um seinen Schulabschluss zu machen, er wohnt hier sogar in der Nähe und Megan war seine Patin. Sie sollte ihn einfach ein bisschen an der Schule rumführen und so. Aber einer wie er hat das natürlich nicht nötig. Hat Megan einfach stehen lassen. Delilah hat sie deswegen fürchterlich aufgezogen, bis Megan auf sie losgegangen ist. Seitdem sind sie so was wie Todfeindinnen.«

Jetzt lachten wir beide. Ich stellte mir ein wildes Schlammcatchen im Bikini vor und hoffte, dass Megan meine Adoptivschwester ordentlich fertiggemacht hatte.

»In welche Klasse geht dieser Grayson?«

»Er ist in der gleichen Stufe wie wir. Hat aber, glaube ich, ein Jahr wiederholt. Ich weiß aber nicht, warum«, sagte Jenna. »Wie ist es eigentlich, mit Delilah zusammenzuleben?«

Ihr Themenwechsel überraschte mich so, dass ich einfach drauflosrede.

»Es geht so. Ich habe schon gemerkt, dass Delilah nicht sehr freundlich ist. Trotzdem hat sie nichts über mich rumerzählt, oder?« Ich stockte. Das war mir jetzt einfach rausgerutscht. Ich konnte Jennas neugierigen Blick spüren, aber sie sagte nichts dazu. Wie angenehm es mit ihr war. So leicht. Jetzt war ich es, die schnell das Thema wechseln wollte.

»Bist du nicht hier aufgewachsen? Das klang nämlich gerade so.« Sie nickte. »Ich bin vor einer Weile mit meiner Tante hergezogen. Ungefähr zur gleichen Zeit wie Grayson. Zum Glück. So hat mich immerhin keiner wahrgenommen, weil sich alles nur um ihn gedreht hat.«

Das konnte ich ihr nicht wirklich glauben. Jemanden wie Jenna konnte man nicht übersehen. So hübsch und groß wie sie war. Aber Grayson hatte ich ja schließlich auch noch nicht gesehen. Ich zweifelte aber irgendwie daran, dass er mich beeindrucken würde.

»Ziemlich viele Neuzugänge für so eine kleine Stadt, oder?«