BEUTEZEIT – Manche Legenden sind wahr

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Kapitel 3

Landsafe Laboratories, Hamilton, Anfang Juni

Das dumpfe Knallen der Türen war zu hören. Jules schob sich von ihrem Computer zurück und sah den Gang des Labors hinunter. Es war Richard, ihr Boss. Die schwere Doppeltür schwang hinter ihm zu, während er mit zwei Kaffeebechern in der Hand auf sie zukam. Graubraune Haare fielen ihm übers Gesicht, er lächelte. Mit seinen Gummisohlen, die über das polierte Linoleum quietschten, hätte man Richard nur schwerlich für den CEO des Crown Research Institutes gehalten. Er war eher der Typ Versicherungsvertreter oder Verwaltungsangestellter, oder vielleicht sogar Comedian, obwohl seine einzigen Stand-ups während wissenschaftlicher Symposien stattfanden, etwa viermal im Jahr. Er war ein wirklich guter Wissenschaftler, mit einem Doktortitel aus Canterbury, Post-Doktorandenstellen an den Universitäten von Texas und Cambridge, Mitgliedschaften in einigen der angesehensten wissenschaftlichen Komitees und ökologischer praktischer Erfahrung auf drei Kontinenten.

Und er war in sie verliebt.

Nicht, dass Jules irgendetwas getan hätte, um ihn dazu zu ermutigen – nun, außer den üblichen Neckereien im Büro eben. Sie fühlte nur nicht dasselbe für ihn. Wobei, wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hätte sie es bedeutend schlechter treffen können. Er war ein guter Freund. Aber diese Filme mit Jake Gyllenhaal, die Hollywood am laufenden Band produzierte, gaben ihr das Gefühl, dass da noch jemand anderes auf sie wartete. Jemand Besonderes.

Richard reichte ihr einen Kaffee. »Milch, ohne Zucker, nicht wahr?«

Jules nahm den Kaffee entgegen und bedachte ihn mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es rein professionell wirkte. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Inhalt war noch heiß. Richard musste den ganzen Weg von der Kantine zurückgerannt sein.

»Okay, was gibt‘s?«, wollte sie wissen, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

Richard strich sich seinen Pony mit den Fingern aus dem Gesicht. »Was es gibt? Wieso sollte es etwas geben?«

Jules hob vielsagend ihren Kaffeebecher, gefolgt von ihren Augenbrauen.

»Es ist doch nicht verboten, einem Mitarbeiter einen Kaffee zu bringen, Dr. Asher.«

Jules trommelte mit ihren Fingern auf den Tisch. »Hast du Mal auch einen gebracht?«

»Hey, ich habe schließlich nur zwei Hände«, protestierte Richard.

Jules warf ihm über den Rand ihres Bechers einen durchdringenden Blick zu und nahm einen weiteren Schluck.

Die Rollen eines Drehstuhls klapperten über das Linoleum, dann setzte sich Richard neben sie, seinen Kaffee in der Hand, die Ellbogen auf den abgewetzten Knien seiner Cordhose. »Okay, um die Wahrheit zu sagen, komme ich gerade von einem Telefonat mit dem Minister für Naturschutz.«

»Der Minister.« Jules lehnte sich zurück. »Sollte ich jetzt erschrocken oder neugierig sein?«

»Keine Panik. Soweit ich das sagen kann, gibt es keine Pläne, Landsafe zu verkaufen.« Er warf ihr ein ironisches Lächeln zu. »Zumindest nicht diese Woche. Nein, es geht um das Gold, das man im Te-Urewera-Nationalpark gefunden hat. Hast du die Nachrichtenmeldung gesehen?«

»Die beiden Aussiee-Geologen, die im Urlaub hier waren?«, fragte Jules.

Richard nickte.

»Ich hab online darüber gelesen. Kommt es dir nicht seltsam vor, dass sie diesen Goldklumpen mitten auf dem Wanderweg gefunden haben wollen?«

Richard verlagerte sein Gewicht und rollte etwas näher heran. »Das ist eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. Die Aussies durchquerten ein Flussbett, als sie den Klumpen fanden. In den Flüssen taucht oft Gold auf. Was mir seltsam erscheint, ist, dass sie ihn den Behörden übergeben haben.«

»Sie durften ihn nicht behalten«, antwortete Jules mit einem Schulterzucken. »Wusstest du, dass eine Silberader, selbst wenn du sie in deinem Gemüsebeet entdeckst, automatisch dem Staat gehört? Wahrscheinlich darf die Regierung dann sogar deine Karotten beschlagnahmen.«

»Schon, aber der Goldklumpen besaß die Größe eines iPhones; eintausendsechshundert Gramm nahezu puren Goldes. Vierundfünfzig Feinunzen, wie der Minister mir verriet. Beim aktuellen Kurs etwa einhunderttausend US-Dollar wert. Stell dir doch nur mal vor, was man mit so viel Geld alles anfangen könnte.«

»Für ein Nugget? Wow. Aber ich glaube kaum, dass der Minister dich anrief, um mit uns zu teilen.«

Richard verzog das Gesicht. »Ich wünschte! Nein. Vielmehr wollte er wissen, ob es dort noch mehr geben könnte.«

Jules biss auf den Rand des Pappbechers und wartete darauf, dass Richard fortfuhr.

»Also haben die Minister den Artikel 4 zum Schutz von Naturschutzgebieten für nichtig erklärt und eine spezielle Schürflizenz erteilt. Sie beabsichtigen, eine Spezialeinheit auszusenden, um zu püfen, ob dort möglicherweise Gold abgebaut werden kann. Und wir wurden damit beauftragt, die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt abzuschätzen.«

Jules Puls beschleunigte sich. Natürlich musste Landsafe zurate gezogen werden. Jede mögliche Gewinnung musste mit den Naturschutzbestimmungen in Einklang gebracht werden.

»Allerdings hat mich die Einstellung der Tūhoe überrascht«, sagte Richard und schnipste die Haarsträhnen weg, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen. »Ich hätte gedacht, dass sie als Nebenvormund Einwände erheben würden, wenn plötzlich eine Gruppe von Fremden durch ihr Stammesgebiet latscht und Löcher bohrt. Aber die Stammesältesten gaben ihre Zustimmung.«

Jules klammerte ihre Finger fester um ihren Becher. »Ich schätze, sie haben die wirtschaftlichen Vorteile erkannt«, antwortete sie und versuchte unbeeindruckt zu klingen.

»Wahrscheinlich«, stimmte Richard ihr zu. »Da oben gibt es nicht viel Arbeit. Aber wie du schon sagtest – die Regierung müsste die Landeigentümer gar nicht erst um Erlaubnis bitten.«

Jetzt kommt‘s.

Jules hielt den Atem an.

»Diese Spezialeinheit … ich will, dass du sie begleitest, Jules.«

Das hatte sie befürchtet.

»Ach komm schon, Richard«, sagte sie und hasste sich sofort für den jammernden Ton in ihrer Stimme. »Ich stecke bis zum Hals in diesem Projekt.« Mit der Hand deutete sie auf ihren Monitor. »Was ist mit Mal? Kann er nicht mitgehen?«

»Nein, kann er nicht, Jules. Seine Frau bekommt in zwei Wochen ihr Kind, und ich will Gabby auf keinen Fall in die Quere kommen – die Frau macht mir eine Heidenangst.« Er verzog das Gesicht zu einem unbehaglichen Grinsen.

»Ich kann auch angsteinflößend sein«, flüsterte Jules.

Richard lachte.

Jules ließ ihr Kinn sinken und sah Richard unter ihren langen Wimpern hinweg an. »Und wenn ich dir verspreche, eine Woche lang die Reagenzgläser im Labor zu reinigen? Jeden einzelnen Erlenmeyerkolben?«

Richard beugte sich nach vorn und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Jules, ich habe mein Bestes getan, um dich von dem Park fernzuhalten, aber es ist jetzt zwei Jahre her.«

»Ich kann nicht gehen. Ich muss nach Sarah sehen.«

»Es sind nur ein paar Tage. Und es gibt genügend andere, die sich um Sarah kümmern können.«

»Ja, aber ich bin ihre beste Freundin.«

»Sie wird es verstehen.«

»Und wenn nicht?«

»Jules …«

»Richard, ich kann nicht. Es ist noch zu früh.«

Richards Gesicht blieb ungerührt. »Jules … es gibt sonst niemanden.«

Jules ließ den zerdrückten Pappbecher in den Mülleimer fallen und rieb sich mit der Hand übers Gesicht, versuchte die Tränen zurückzuhalten. Es war also soweit. Früher oder später musste es passieren. Richard konnte sie nicht ewig beschützen.

Sie ließ ihre Unterarme auf den Tisch sinken. »Wann soll die Expedition starten?«

»Du wirst morgen aufbrechen. Von Rotorua.«

»Morgen schon! Du sagtest, es sei nur ein Vorschlag.«

»Das ist die offizielle Darstellung.«

»Aber es ist das Gebirge. Ich werde mir den Hintern abfrieren.«

Richard strich sich wieder die Haare aus den Augen. »Stimmt, könnte frisch werden«, sagte er und warf seinen Kaffeebecher in den Papierkorb.

Dinsdale, Hamilton, am selben Tag

Jules betrat durch die Hintertür die Küche. Eine Frau um die fünfzig trat von einem Haufen geschnittenen Gemüses auf der Küchentheke zurück, und ihr gewaltiger Busen wabbelte dabei.

»Hallo, Dr. Asher.«

Jules hob eine Augenbraue und legte den Kopf schief.

»Ich meine, Jules.«

Jules schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Hallo, Carol-Ann. Wie lief es heute?«

Die Pflegerin wischte ihre Hände an einem karierten Geschirrtuch ab. »Nicht übel, insgesamt. Wir hatten ein großartiges Mittagessen. Sind mit dem Wagen durch Rotorua und bis zum Blue Lake gefahren und haben ein Picknick am Strand gemacht.«

»War es dafür nicht zu kalt?« Jules stellte ihre Handtasche auf einem Stuhl ab.

»Wir haben uns warm eingepackt. Sarah ist gern dort, nah am Wasser und den Wäldern.« Carol-Ann senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. »Allerdings ist sie heute Abend ein wenig melancholisch.«

»Ihre Eltern?«

Carol-Anne nickte. »Sie sind vor einer halben Stunde gegangen. Haben Sie durcheinandergebracht, wie üblich. Gehen Sie nur zu ihr, Liebes. Sie wird sich freuen, Sie zu sehen. Ich setze schnell das Abendessen auf, dann bringe ich Ihnen eine Tasse Tee.«

Jules lief ins Wohnzimmer, wo sie der Fernseher begrüßte.

»… Archie. Chris Tarrant hier. Neben mir im Studio sitzt gerade Phil. Er macht sich richtig gut, aber jetzt benötigt er ihre Hilfe bei der 16.000 Pfund-Frage …«

 

Auf dem abgenutzten Sofa sitzend und mit einem Speichelfaden am Kinn, war Sarahs Gesicht das Bild absoluter Konzentration. Jules spürte einen Stich in ihrem Herzen, erinnerte sie ihr Anblick doch an einen anderen Abend, als ihre Freundin auf diesem Sofa saß. Sarah trug damals abgeschnittene Levis, hatte ihre langen Beine unter ihren Körper gezogen und aß indisches Essen aus einer Assiette, während sie mit vollem Mund davon plapperte, wie sie beide in der Karaoke-Nacht ein Team bilden sollten.

»Hey Süße.« Jules gab Sarah einen Kuss auf die Stirn. Ihre Freundin sah auf, blaue Augen voller Wärme. Als das Rettungsteam sie noch lebend aus der Schlucht bergen konnte, war Jules vor Erleichterung überwältigt gewesen. Sarah, die immer schon eine Kämpfernatur gewesen war, hatte sieben Monate im Burwood-Krankenhaus verbringen müssen, um sich von dem schweren Schädeltrauma an ihrem Frontallappen zu erholen.

»Kann ich das abschalten?«, fragte Jules und deutete auf den Fernseher.

Sarah blickte sie verwirrt an, also nahm Jules die Fernbedienung zur Hand und schaltete den Fernseher aus. Arme Sarah. Während sie früher Marathons lief und Touch Rugby spielte, hatte Sarah nun Mühe, selbst die einfachsten alltäglichen Dinge zu verarbeiten: erst die Socken, dann die Schuhe und so weiter. Hin und wieder wurde sie aggressiv, offenbar eine Folge des Traumas, aber jeder wäre frustriert, gedemütigt und verdammt angepisst, wenn man sich nicht einmal mehr die eigenen Zähne putzen konnte.

Manchmal wachte Jules schweißgebadet auf, weil sie den Unfall erneut in ihren Träumen durchlebte. Um ein Haar hätte sie an diesem Tag das Team durch die Wälder geführt. Es hätte sie sein können, die am Boden des Canyons lag und nun damit zu kämpfen hatte, die Fragen einer dämlichen Quizshow zu beantworten.

»Carol-Ann sagte, dass ihr beide zum Blue Lake gefahren seid?«, erkundigte sich Jules freundlich.

»Ha.« Jules versuchte, bei der einsilbigen Antwort nicht zusammenzuzucken. Eine Folge der Broca-Aphasie – das Gefängnis, in dem ihre Freundin gefangen war.

»Freut mich, dass du etwas unternimmst. Ich werde auch für ein paar Tage weg sein. Ich fahre in die Ureweras.«

Sarah antwortete ihr nicht.

»Ich konnte mich dieses Mal nicht mehr drücken, Sarah«, sagte Jules leise. »Ich kann Richard nicht hängen lassen – er hat mich schon oft genug unterstützt.«

»Charrd.«

»Hey, fang bloß nicht damit an!«, lachte Jules. »Du bist ja noch schlimmer als meine Eltern. Richard ist ein Freund, das ist alles!« Sie ignorierte Sarahs Stirnrunzeln und fuhr fort. »Wie auch immer, es ist ein Bergbau-Explorationsteam im Naturschutzgebiet, und daher ein wenig geheimnisumwittert. Ich soll die Einhaltung der Vorschriften überwachen und für das Wohl der Ureinwohner sorgen.«

Sarah verzog das Gesicht. Sie hob eine Hand und wackelte mit ihren Fingern.

»Wie viele wir sein werden?«, fragte Jules, die versuchte, die Frage hinter Sarahs Geste zu erraten. »Ich weiß nicht. Morgen treffe ich die anderen. Wie stehen die Chancen, dass vielleicht ein toller Hecht darunter ist?«, witzelte sie.

Sarah aber hatte bereits die Fernbedienung wiedergefunden, hieb auf die Tasten und schaltete den Fernseher wieder an. Chris Tarrants Stimme donnerte: »Oder D – keines davon. Wie lautet Ihre Antwort?«

Die Kleinstadt Rotorua

Temera erwachte und setzte sich kerzengerade in seinem Bett auf.

War das ein Albtraum gewesen! Hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Wieder einmal. In letzter Zeit träumte er beinahe jede Nacht. Schreckliche Träume. Er legte sich wieder hin und zog sich die Bettdecke bis zum Hals hinauf, aber er wusste, dass er wahrscheinlich nicht wieder in den Schlaf finden würde. Er sah auf seinen Wecker. 4:18 Uhr. Dann kann ich auch gleich aufstehen, mir einen Tee machen und etwas fernsehen. Außerdem musste er sowieso auf die Toilette. Temera schlug die Bettdecke zurück und schwang seine Beine aus dem Bett.

Die Büroräume der GeoTech International, Sydney, Australien

Caren Murphy studierte die Berichte; Diagramme, Tabellen und Scherzoneninformationen geophysikalischer Beobachtungen. Die Resultate enthielten noch nicht die Luftbilddaten – das verhinderten erschwerte atmosphärische Bedingungen – und außerdem waren ja ihre zwei australischen geologischen Touristen vor Ort. Es bestand kein Grund, die Regierung eines Landes in Alarmbereitschaft zu versetzen, weil man im Grünen nach Schürfplätzen recherchierte. Besser, man sammelte seine Informationen unauffällig. Sie steckte sich eine blonde Haarsträhne in ihren Haarknoten zurück. Wenigstens sahen die Resultate vielversprechend aus. Gut genug, um darin zu investieren. Angesichts der Wirtschaftskrise und der schlechten Presse, die sich negativ auf GeoTechs Aktienkurse auswirkten, käme ein lukrativer Vertrag gerade recht. Womöglich ließen sich die Dinge ja sogar ein wenig beschleunigen?

Durch einen Anruf vielleicht …

Kapitel 4

Militärbasis der New Zealand Defence Force, Waiouru

James Arnold starrte aus dem staubigen Fenster des Büros und betrachtete die Trainingsbasis – ein weitläufiges, grasbewachsenes Ödland. Da war es wieder, das kurze Aufflackern von Sonnenlicht, das in der Ferne von irgendetwas reflektiert wurde. Ein Zielfernrohr? Wahrscheinlich eher irgendein Trottel mit einer Sonnenbrille auf der Nase. James knurrte. Er würde den Vorfall mit dem Ausbildungsleiter besprechen müssen. Vor nicht allzu langer Zeit und unter der grellen Mittagssonne in Afghanistan hätte eine solche Unachtsamkeit einem Soldaten und seiner gesamten Einheit einen All-inclusive-Flug nach Hause beschert – in Leichensäcken.

Ein Soldat und seine Einheit. In Leichensäcken.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn kurz zusammenzucken.

Private Karen Dawson und ihr perfekter Hintern. Die offizielle Bezeichnung dafür lautete wohl Knackarsch, überlegte James. Er nahm den Blick von dem Fenster.

»Sergeant McKenna vom One Battalion in Linton ist eingetroffen, Major«, verkündete Dawson mit einer Stimme wie schmelzende Schokolade. Wäre James an ihr interessiert gewesen … wäre er trotzdem noch pflichtbewusst genug gewesen, um eine professionelle Distanz zu wahren. Mit seinen sechzig Jahren war sich James darüber im Klaren, nicht unattraktiv zu sein, in seiner khakifarbenen Uniform und dem Regenbogen aus Abzeichen, den silbernen Strähnen an den Schläfen und selbst den Falten auf seiner Stirn, die ihm einen gewissen Sean-Connery-Look verliehen, den Frauen anziehend fanden. Doch er gab nur selten seinen Gelüsten nach. Als Brenda vor sechzehn Jahren an Brustkrebs gestorben war, hatte er nicht das Interesse an weiblicher Gesellschaft verloren, aber man kletterte auch nicht die Karriereleiter hinauf, ohne sich in Zurückhaltung zu üben.

Er lächelte. »Führen Sie den Sergeant doch bitte herein.«

»Natürlich, Sir«, sagte Dawson. Sie lief zur Tür und gestatte James, nochmals einen flüchtigen Blick auf ihr prachtvolles Fahrgestell zu werfen.

»Sie können hereinkommen, Sergeant McKenna«, sagte sie, trat beiseite und bedachte den Junior-Offzier, der das Büro betrat, mit einem hinreißenden Lächeln.

James konnte es ihr kaum übelnehmen. Mit vierunddreißig Jahren war Taine McKenna etwa in ihrem Alter, und mit seinen stählernen Augen väterlicherseits und einer Haut wie poliertes Rimu-Holz – die er seiner Māori-Mutter verdankte – war er ein verdammt gutaussehender Bastard. Außerdem besaß der Junge die Kraft und Geschicklichkeit eines Mittelfeldspielers der All Blacks, mit den dazu passenden Bauchmuskeln. James konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann er seine eigenen das letzte Mal gesehen hatte. Heute war McKennas Muskulatur jedoch unter einer Standarduniform verborgen.

Vor dem polierten Kauri-Holztisch nahm er Haltung an. »Major Arnold.«

Dawson schloss die Tür und James winkte bei dem Ehrensalut des jungen Mannes ab. »Rühren, McKenna. Setzen Sie sich.«

»Boss«, erwiderte McKenna, der die Kurzform des SAS für seinen befehlshabenden Offizier verwendete. Mit überraschender Anmut ließ er seinen Zwei-Meter-Körper auf einen Stuhl sinken.

James setzte sich ebenfalls. »Ich habe einen Job für Sie, McKenna. Direkt aus der Aitkens Street«, erklärte er, womit er sich auf den Hauptsitz der Verteidigungsstreitkräfte bezog. Nicht, dass es in diesen Tagen noch viel zu verwalten gab, wo die Streitkräfte auf ein Minimum reduziert worden waren. Das Werk kurzsichtiger Anzugträger in der Regierung – jene Alles-Wird-Gut-Typen, die glaubten, dass dem Land schon nicht passieren würde, nur weil es am Arsch der Welt lag …

James räusperte sich und fuhr fort. »Eine ministeriale Spezialeinheit wird sich in die Ureweras begeben, um dort Erkundungen zur Mineralgewinnung anzustellen. Sie und Ihre Jungs werden sie begleiten.«

»Eine Spezialeinheit, Boss?«

James schnaubte. »Das ist die Formulierung der Minister, nicht meine«, sagte er kopfschüttelnd. »Die haben als Kind wahrscheinlich zu viel Thunderbirds gesehen.«

McKenna lächelte.

»Sie wird hauptsächlich aus Regierungswissenschaftlern und ein paar Zivilisten bestehen und von Dr. Christian de Haas der New Zealand Petroleum and Minerals geleitet werden … zumindest offiziell.«

»Ein Babysitter-Job.«

»So in etwa.«

McKennas Gesicht verfinsterte sich. »Und die Befehlskette?«

»Dr. de Haas besitzt absolute Vollmacht.«

»Ein Zivilist.« Sein Kiefer zuckte.

James fuhr mit seinen Fingern über die Akte auf seinem Tisch. Die Armee verfügte über allen Schnickschnack, was digitale Technologien anbelangte, doch solange eine gewisse Verschwiegenheit gewahrt blieb, zog James eine gedruckte Version vor. Brenda hatte immer ihre Witze darüber gemacht, dass er zwischen den Zeilen lesen könne. Vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht.

»Ich weiß, es ist nicht ideal, aber wie es aussieht, könnte diese zivile Expedition uns eine nötige Tarnung bieten.«

McKenna schwieg und wartete darauf, dass James ins Detail ging.

James ließ seine Ellbogen auf dem Tisch ruhen, legte die Fingerspitzen aneinander und holte langsam und tief Luft, bevor er begann. »In den letzten drei Monaten haben die Parkwächter der Urewera-Region vermehrt Berichte über Personen erhalten, die in den Wäldern vermisst werden. Sehr viele. Vierzehn«, erklärte er. »Und sie sind auch nicht nach ein paar Tagen wieder aufgetaucht.«

Er öffnete die Akte und blätterte ein paar Seiten um.

»Campbell Edwards, 29, und Terry Hubner, 28, beide aus Johnsonville«, las er laut vor. »Die beiden wurden als Erstes vermisst gemeldet. Sie brachen am 26. März von Ruatahuna aus auf. Aus den Unterlagen der Rasthütten lässt sich entnehmen, dass sie in den ersten drei Tage der Route folgten und dann plötzlich verschwanden. Edwards Schwester informierte die Polizei, nachdem die beiden nicht wie geplant wieder auftauchten. Sie wartete sogar eine Woche mit ihrem Anruf – nur für den Fall, dass die beiden es sich in den Kopf gesetzt hatten, ihren Urlaub in Queenstown zu verbringen.«

»Und einfach zu verschwinden ist untypisch für die beiden?«

James schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Schwester beteuert, dass es selbst für die beiden ungewöhnlich ist, sich so lange nicht zu melden.«

»Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten, Sir. Den Fluss zu überqueren kann gefährlich sein, wenn man nicht weiß, was man tut.«

»Da stimme ich Ihnen zu, und ich würde auch dazu neigen, die beiden Jungs als unglückliche Abenteurer abzutun und der Familie eine florale Beileidskarte zu schicken. Aber sie sind nicht die einzigen Urlauber, die verschwunden sind.« Die hölzerne Armlehne knarzte, als James in seinem Stuhl herumrutschte. »Nur eine Woche, nachdem Edwards Schwester die Behörden informiert hatte, verirrte sich ein deutsches Pärchen in den Flitterwochen. Dieselbe Region. Parkschützer fanden ihre Rucksäcke, intakt und fein säuberlich am Rand des Weges abgestellt, aber von ihnen selbst fehlte jede Spur. Dann gibt es da eine vierköpfige Gruppe aus Otago, allesamt erfahrene Mitglieder eines Wandervereins. Ihr Wagen wurde auf dem Campingplatz am Waikaremoana-See gefunden. Und die letzte Person, die verschwand, war ein Farmer namens Samuel Waaka. Ihm gehört ein kleiner Laden im Park. Seine Frau meldete ihn als vermisst.«

»Wieso hört man davon nichts in den Nachrichten?«

 

»Die Stimmung unter den Einheimischen ist noch etwas angespannt, seit die Polizei vor einigen Jahren in den Ureweras Durchsuchungen im Zusammenhang mit Terroristen durchführte. Das ist Stammesgebiet der Tūhoe. Die Behörden halten die Informationen vorerst lieber geheim, besonders diese Vermisstenfälle, falls es sich dabei um das Werk separatistischer Tūhoes handeln sollte.«

McKenna nickte. »Ich zählte neun Vermisste, Sir, aber ich glaube, sie sprachen von vierzehn.«

»Der Rest sind Ihre Jungs. Im Einsatz vermisst.« James wischte sich mit den Händen über sein Gesicht. McKenna sagte nichts. »Wir haben sie vor zehn Tagen ausgesandt, nachdem der Job von der Polizei auf die Armee überging. Unsere Jungs folgten einer Spur des Ministeriums für Naturschutz – ein blutiger Handschuh, der einem der vermissten Wanderer gehörte. Am sechsten Tag ihres Einsatzes meldete Corporal Gavin Masterton, dass sie die Überreste einer etwa fünfundvierzig Jahre alten Frau gefunden hatten. Mastertons Beschreibung nach könnte es sich dabei um eine Frau aus der Otago-Gruppe gehandelt haben. Die Funkoffizierin, die den Ruf entgegennahm, sagte aus, dass Masterton sich aufgewühlt anhörte. Sie sagte … hier, lesen Sie selbst.« James schob McKenna die Akte über den Tisch zu und tippte auf die entsprechende Seite. »Das hier ist die Mitschrift.«

McKenna nahm die Akte zur Hand und las.

Masterton: 12. Mai, 17.00 Uhr. Hier spricht Corporal Gavin Masterton. Unsere gegenwärtige Position beträgt XXXX, etwa einen halben Tagesmarsch von der Mangatoatoa-Hütte entfernt, in einem dicht bewaldeten Gebiet. {bis zu diesem Zeitpunkt wirkt der Offizier gefasst}. Wir haben eine Leiche entdeckt … eine Frau. {die Stimme des Offiziers beginnt zu beben} Um die vierzig, fünfundvierzig vielleicht. Wir glauben, dass sie zu der Otago-Wandergruppe gehört, obwohl wir die restlichen ihrer Gefährten noch nicht lokalisieren konnten. Ihr Körper ist ausgezehrt und ihre Extremitäten weisen eine Vielzahl verheilter Kratzer und einige abgebrochene Nägel auf, was typisch dafür ist, wenn man wie sie für einige Zeit im Wald umherirrte. {seufzt schwer} Sie … ihr Körper … er ist … {unverständlich}

Funkerin: Könnten Sie den letzten Satz noch einmal wiederholen, Corporal?

Masterton: Sie wurde verstümmelt. Ermordet. Ihr Mageninhalt … {der Offizier bricht ab}

Funkerin: Corporal Masterton?

Masterton: Wer immer das getan hat … muss sie offenbar gefoltert haben. Wir glauben, dass das Opfer noch am Leben war, als das geschah. Ihre Augen … {es folgt eine fünfsekündige Pause. Ringt der Offizier nach Fassung?} Wir glauben nicht, dass sie schon lange tot ist. Einen Tag, vielleicht zwei, was bedeutet, dass wer immer dafür verantwortlich ist, sich noch in der Gegend befinden muss. Wir werden die Leiche vorerst hier zurücklassen – Pollock packt sie gerade in einen Leichensack – und unsere Suche ausweiten. Vor wenigen Tagen war diese Frau noch am Leben, also gibt es vielleicht noch weitere Überlebende.

Mit besorgter Miene blickte McKenna von der Mitschrift auf. »Das war kein Unfall.«

James atmete langsam aus. »Ich habe mir Mastertons Dienstakte angesehen, seine Versetzungen. Er war in einigen Gefechten und hat schon einiges an Gräueltaten erlebt. Wenn er also auf diese Weise reagiert …«

James stand auf, kehrte zu seinem Wachposten an dem Fenster zurück und nahm sich einen Moment Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Sein warmer Atem ließ das kalte Glas anlaufen, wo die Feuchtigkeit sich wie der Inhalt einer Lavalampe verformte und schließlich verschwand. Draußen vor dem Fenster ragte der schneebedeckte Gipfel des Ruahepus über dem Ozean aus Graslandschaft auf. »Mastertons Einheit hätte sich am darauffolgenden Morgen wieder über Funk melden sollen. Seither haben wir nichts mehr von ihnen gehört.«

Er drehte sich um, stemmte seine Hände auf die Tischplatte und musterte McKenna mit starrem Blick. »Das Problem ist, dass wir sie auch nicht lokalisieren können. Der Urwald in den Ureweras ist so dicht, dass man eine Kleinstadt darin verbergen könnte und niemand sie je zu Gesicht bekäme – und der verdammte Nebel, der über die Region zieht, stört unsere Satellitenüberwachung …«

»Wie lautet unser Auftrag, Boss?«, fragte McKenna rundheraus.

»Ich will, dass Sie herausfinden, was verdammt noch mal dort draußen vor sich geht! Das Forschungsteam sorgt für Ihre Tarnung, und im Gegenzug werden Sie und Ihre Jungs für die Sicherheit der Zivilisten sorgen.«

»Sir.« Das Stirnrunzeln des Sergeants war kaum wahrnehmbar.

James, der plötzlich eine enorme Last auf sich spürte, ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er konnte dem Jungen nichts vormachen. Sie beide wussten nur zu gut, dass es nicht den Regularien der Armee entsprach, ein zweites Team auszusenden, wo ein erstes bereits gescheitert war.

James fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Die Entsendung der ersten Einheit wurde genehmigt. Soweit es die da oben betrifft, sind die Jungs noch immer da draußen und suchen nach den vermissten neun Personen, während Ihr Team die Eskorte für die Sondereinheit bildet. Aber sollten Sie und Ihre Jungs irgendetwas Ungewöhnliches in diesem gottverdammten Wald finden, irgendetwas, das die Sicherheit der Neuseeländer gefährdet, zu deren Schutz wir verpflichtet sind, dann wird die Sache zu einer Angelegenheit für das Militär. Und wenn das passieren sollte, dann befinden Sie sich rein zufällig bereits dort draußen, als Eskorte des Forschungsteams.«

»Verstanden, Sir«, sagte McKenna, schloss die Akte und erhob sich. »Und da der Platoon Lieutenant nicht hier ist …«

James warf ihm ein grimmiges Lächeln zu. Er hatte sich also den richtigen Mann ausgesucht. Als Veteran in Timor-Leste, Afghanistan und Ägypten wusste McKenna das eine oder andere über Geheimmissionen.

»Oh, und noch eine Sache, Sergeant«, sagte James leise.

»Boss?«

»Mein Großneffe Kevin gehörte der vermissten Einheit an.«

***

Vor dem Bürogebäude fand Taine seinen Corporal, einen in Neuseeland geborenen Chinesen namens Jack Liu, in einem der Pinzgauer, mit dem sie aus Linton gekommen waren, zusammen mit Private Matt Read, einem der zwei neunzehnjährigen Grünschnäbel in McKennas Zug. Liu, der auf dem Beifahrersitz saß, hatte seinen rechten Stiefel lässig auf den offenen Türrahmen gelegt, während sein linkes Bein aus dem Fahrzeug hing und er sich mit einem kleinen Messer die Fingernägel säuberte. Seinen Spitznamen Coolie trug er nicht etwa wegen seiner chinesischen Abstammung, sondern weil er in Krisensituationen einen kühlen Kopf zu bewahren wusste. Der Soldat wirkte ansonsten beinahe weibisch, und normalerweise hätte ihn das in der Armee zu einem leichten Opfer für Spott gemacht, aber Coolies Vorsicht und seine schnelle Reaktionsfähigkeit hatten ihm den Ruf eines lautlosen kleinen Bastards eingebracht. Kein Soldat mit Verstand hätte es gewagt, sich von hinten an Coolie heranzuschleichen, nicht einmal im Spaß. Es sei denn, man wollte sich unbedingt den Schädel wegpusten lassen.

Coolie nahm seinen Fuß von der Tür, als Taine sich näherte.

»Haben Sie Ihren Auftrag erhalten?«, erkundigte sich Read. Der Neuling hatte an dem Fahrzeug gelehnt und sich gesonnt. Jetzt trat er vor und nahm die Ohrstöpsel aus seinen Ohren. »Dann starten wir jetzt?«

»Trommeln Sie die anderen zusammen, Read. Wir brechen um 0800 auf. Es geht aufs Land, in die Urewera-Region.«

Der Junge stopfte sich das Kopfhörerkabel in seine Tasche. »Wow! Wir springen über den Wäldern ab, Boss?« Taine musste über den Enthusiasmus des Jungen lächeln. Für Read glich jeder Tag einer Episode aus einem Marvel-Comic.

»Keine Hubschrauber diesmal, Private.«

»Aber das ist doch keine Trainingsübung, oder? Es ist ein richtiger Einsatz. Suchen wir nach einer Separatistenzelle oder so was?« Read blickte ihn hoffnungsfroh an.

»Wir fahren so weit hinein, wie es möglich ist, und durchqueren den Wald dann zu Fuß. Es ist eine richtige Operation, ja. Wir begleiten ein Forschungsteam. Und die Sache muss einigermaßen geheim bleiben, also versuchen Sie, nicht ganz so viel Aufhebens zu machen, wenn Sie die anderen zusammenrufen.«