Die Forelle

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Aus dem Wagen gestiegen schritt ich den Weg durch den Garten ab. Bärlapp und Bärlauch wuchsen bereits wie wild, satt und gesund machend in Wiesengrün, und ein orange gescheckter Kater huschte schnellstmöglich unter der ersten Latte des Zauns hindurch und war weg, verschwunden zwischen den Buchenstämmen außerhalb des Gartens, die jüngeren Brüder der Fassade, auf die ich zumarschierte. Jedes Astloch sah ich an diesem Morgen in dem hellen Holz und hörte fast die säuselnde Säge, die dem Wachstum ein Ende setzte, die fallenden Späne, die heiß werdenden Raspeln, die beinahe schmelzenden Feilen, den Feinschliff und das gemütliche Pfeifen des Meisters, das tumbe Kautabakausspucken des Holzknechts, und ich roch fast den Rauchausstoß, spürte die Lungenflügel der herumlümmelnden Hilfshackler, dann wieder Waldgeruch. Unsäglich klar trug ihn der Föhn heran. Ich blieb vor dem Windfang und den Holzstufen stehen, wandte mich von der Herberge ab und wartete wie so oft auf Ernstl, das Gesicht dem Weg durch den Garten, den auch er gehen würde, zugetan. Die Sonne setzte die jenseitigen Fichtennadeln ins Licht und warf ihren Schatten diesseits des Lattenzauns auf meine Brust. Dazwischen flimmerten gesiebte Sonnenstrahlen, jetzt in der gewöhnlichen und von keinerlei Rot mehr getrübten Farbe, auf meinem flanellenen Hemd. Die abstehenden Fussel leuchteten, zu welchen Fliegen man sie wohl veredeln könnte? Ich nahm den Stoff zwischen die Finger, er griff sich rau und gleichzeitig glatt. »Leg niemals Hand an dein schützend Gewand!«, Ernstls Stimme ließ mich hochschrecken, »Fliegen sind Wegwerfartikel, Hemden nicht.« – »Ich hab dich gar nicht kommen hören.« – »Was glaubst du«, und ging an mir vorbei, die Fliegenfischstange noch hoch erhoben, um den Korkgriff die zitternde Hand. Sie machte die Spitze wankend, als wollte er gerade auswerfen, »warum wir immer barfuß gehen.« – »Ja, warum eigentlich?« – »Wegen der langen Auswanderung nach dem Krieg. Als Südtiroler durften wir uns entscheiden. Entweder blieben wir ansässig. Innerhalb der neuen Grenzen würden wir Italiener. Oder wir gingen nach Österreich. Kontingentsflüchtlinge würden wir dann. Nirgends gehörten wir wirklich hin. Italien hatte gerade rechtzeitig kapituliert. Abgrundtief hassten sie die deutsche Sprache neuerdings. Die nette Nachbarschaft legte uns das Exil nahe. In Graz hatten wir wenigstens entfernte Verwandtschaft. Selbstverständlich spendierte uns der Staat kein Zugticket in die Steiermark. Fünfundvierzig wäre eh niemand freiwillig in einen Waggon gestiegen. Wir waren zu arm für ein Auto. Für Benzin erst recht, versteht sich. Also auch kein Moped. Wir gingen zu Fuß. Die Schuhe überlebten nicht. Es ging auch so. Die ganze Jugend sind wir barfuß gewesen. Und dann haben wir einfach nie angefangen, mit der Mode zu gehen. Außerdem, wer hungert schon und kauft sich Socken? Auf unserer Wanderung passierten wir Höfe. Keinen trockenen Kanten Brot hatten die Bauern für uns übrig. In Graz beäugten uns die Leute missgünstig. Wir lernten schnell, dass in dieser Zeit jeder zusätzliche Mensch ein Fressfeind war, sogar jedes unnütze Tier. Was meinst du, wie oft, barfuß in den rußigen Straßen. Auf den Mülldeponien der alliierten Kasernen. Streunende Katzen und wir. Immer wieder. Im Kampf um die Reste. Ein eh schon abgenagtes Fischskelett. Abschätzige Blicke, für das Tier, für uns, die machten keinen Unterschied, Passanten, genug Geld für Schuhe. Das Stigma wurde zu unserem Markenzeichen. Moralischer Reichtum, du verstehst?« – »Aber zu arm zum Fliegenfischen wart ihr nicht?« – »Seit jeher machen wir das nicht.« – »Sowas lernt man vom Vater oder gar nicht«, sagte ich. Auch mir hatte der Vater das Angeln beigebracht. Ernstl musterte mich, seine Augen blitzten im Frühlingslicht: »Hast du eh recht. Vom Himmelvater. Aber wirklich. Das Hungertuch wurde langsam, aber sicher zum Leichentuch. Hunderte Familien litten drunter. Davon hörte der Bischof. Und dann hörten wir ihn. Über das Radio erteilte er Absolution jedem Mann, der im Wald das Wild schoss. Oder wenn man die Kohlen von den Güterzügen nahm, die unnütz auf Rangierbahnhöfen standen. Schnalzt die Fische aus den Flüssen. Verziehen sei, in oberster, himmlischer Instanz. Doch was wuselte auf Irden herum, oberstes Fußvolk, neue Besatzer, keine Generalabsolution. Frage nicht, wie sie mit den Würmern unter ihren Soldatenstiefeln umsprangen. Vor ihren Augen, in Wilderer, Diebe und Schwarzfischer verwandelten wir uns. Der Fluss lag tief im Wald, weit abseits der Kasernen und Patrouillen, ungefährlicher. Unser Vater schickte uns also nach dem Fisch und ging selbst wegen der Kohlen. Ein Eschenast, biegsam, ein fadenscheiniger Zwirn, so fing das an, der Köder, aus Flicken zusammengetüftelt, ein Käfer voller Knoten und Knubbel. Die Fressfeinde, uneinsichtige Nazibauern von umliegenden Höfen, fett und fett, mit massenhaft Speck schmierten sie die Beamten, Mitläuferscheine für Höfe und Gesindel, Lizenz zum Töten, Fremdlinge wie wir, wen scherts, an schlechten Tagen, die guten, wenn wir hungerten, wenn Franzosen und Amis und Briten in den Auen keine Augen zudrückten. Aber die sicherten ja lieber Kohlen, im Sommer«, seine Hände zitterten noch stärker als sonst.

Die in die unterste Öse der Stange gehakte Fliege wackelte, als wollte sie sich freischlagen, die Flügel mit Luft vollpumpen, spreizen und davonzischen. Das transparente Vorfach band sie aber, hielt sie zurück, straff gespannt, im Sonnenlicht glänzend, noch nass vom Fischen rannen daran die Wassertropfen hinab. Jetzt, in Bewegung versetzt, schleuderte das Vorfach Regenbogenperlen ab und spritzte sie zu allen Seiten wie die vom Tau feuchte Kette eines morgendlich geweckten Wachhundes. Die neongrüne Kunststoffschnur verschwand in der vergoldeten Spule und die Karbonstange wippte wie wild, dahinter die Wipfel der Fichten und Buchen, dahinter die verkarsteten Felswände der Kalkalpen, dahinter die schroffen Grate des Dachsteinmassivs, dahinter erhoben sich im Salzburger Land die zeitlos verfrosteten Tauern, der Großvenediger, von dem man an wolkenlosen Föhntagen am Horizont ein Meer roter Punkte sehen konnte, die aufgespannten Sonnenschirme an der Adriaküste Italiens, und dazwischen Südtirol, die vergletscherten Gipfel, die Gailtaler Alpen, zu ihren Füßen die Täler, durch die Ernstl einst gegangen war, »dann nahm das Wirtschaftswachstum seinen Lauf. Inzwischen können wir uns leisten, die Fische entwischen und wieder freizulassen. Gewissermaßen Reparationszahlungen an die Wildnis, unsere Art, es wiedergutzumachen. Deswegen gehen wir auch so früh los. Wenn wir die Forellen nicht fangen, fangen sie diese geschichtsvergessenen Nichtswisser von Bauerntrottel. Schau sie dir an und ihre Präparate. Volki, Volki, Volki steht drunter. Ein Datum gehört da hin. Aber sie, von der Vergangenheit hinein in die ewige Volkiwart. Aber wir, der letzte Gegenschlag. Fünfundvierzig haben wir die Sauproleten schon in den Fluss gedümpfelt. Untergetunkt, bis ihre Schädel Wasser gegluckert haben statt Bier. Natürlich sind unsere Stangen derweil abgetrieben. Das hat dann die Forellen vertrieben. Wir haben vielleicht dumm aus der Wäsche geschaut. Mit leeren Taschen sind wir nach Haus. Unser Gewand ging zunehmend für neue Köder drauf. Irgendwann blieb nur noch der Lendenschurz. Hat sich niemand mehr umgedreht nach uns. Wir waren das nackte Elend. Die Bauern haben das verbrochen, unsere Stangen mit lachendem Gesicht überm Knie zerbrochen. Das Ergebnis wollten sie nicht sehen. Sie haben es auch schnell vergessen mit Messwein, Wodka und Whiskey. Und wir wie die Kirchenmaus, aus der ein Elefantengedächtnis wächst. Merke dir, wie wir uns merken, was gewesen ist, merken es sich auch die Fische. Keiner fällt zweimal auf denselben Trick rein. Heute hilft ihnen ein Bauernschinken nichts mehr. Da geht keine Maus in die Falle. Da schaut kein Richter weg. Kein Fisch schwimmt deswegen weg von uns. Die Zungen sind feiner geworden. Proletenköder, dieses Elend kennen alle schon. Die Tricks müssen besser, immer ausgefallener werden. Extravaganz, nicht aus Dekadenz, sondern als einziges Rezept, um überhaupt noch zu fangen. Es ist quasi eine Bildungsmaßnahme, die Fische wieder zurückzusetzen. Für uns und für sie. Lernen durch Schmerz. Der Bierblick ist stumpf. Damit hauen sie alles tot. Deswegen müssen wir schauen, dass alle auf uns schauen, weil wir auf sie schauen. In diesem Fluss fangen nur noch wir. Und der Volki, leider. Aber der wird sich auch noch anschauen. Entwicklung in der Köderwicklung. Wir dürfen niemals ruhen. Wir fischen anders, Siegi«, Ernstl war unter dem Windfang der Herberge während dieses Monologs in einem steten sich beschleunigenden Metrum eine Stufe nach der anderen hinaufgestiegen, immer beide Füße nebeneinander setzend, und ich hatte gestaunt, dass die Holzsplitter an seinen Sohlen abknickten, ich keinen darin steckend erblickte, ich hätte sie gesehen, so nah waren wir uns, so hart war er. Er blieb stehen und öffnete die Tür und verkündete: »Bitte«, und schwenkte seinen Handrücken dem Eingang entgegen mit einer Vehemenz, die keinen Widerspruch dulden würde, und es war, als blickte ich jenseits der Holzplanken einer Brücke auf den Fluss im Frühlingsvormittag.

Winternachmittags schmachtete ich in der Musikschule und der Sturm wetterte gegen die Fenster meiner Zelle, häufte Schnee auf den Fensterbänken. Er lag bis zur Querstrebe des Kreuzes schon, worüber in ständigem Vibrato die Scheibe zitterte, dass ich bereits wettete, ob die untere Hälfte vom stetig wachsenden Schneegewicht lawinenartig zu mir hereingepresst oder eher die obere Hälfte von den frostigen Böen zerfetzt und in Scherben zu mir klirrend hereingewichst würde zwischen meine und meines Schülers Schuhsohlen, die im Takt wippten. Ein Allegro assai tippten wir aus den Knöcheln, allerdings alla breve, nur auf die Halben, ansonsten wären uns die Füße abgefallen, nach wenigen Takten sicherlich, nur das Metronom tickte die Viertel, hingestellt auf die innere Fensterbank kontrollierte, es unser sachtes Fersenstampfen, das Hoch und Nieder meines Halbabsatzes, das Auf und Ab seiner Gummisohle, das Bibbern unserer frierenden Oberschenkel, mit dem wir das alla breve aufs Parkett brachten, während der Wind draußen in irgendwelchen Hohlkörpern tanzte und Flocken durch die Luft heulte. Auf der Scheibe spiegelte ich mich, die Kommode gegenüber auch, auf der noch haufenweise Noten lagen, aufgestapelt bis unter die Dachschräge, gelochte, schnellgeheftete Kopien, obenauf das kreisrunde, handflächengroße, von orangefarbenem Kunststoff eingefasste, bernsteinfarbene Stück Kolophonium. Als ich mich so sah, völlig weg von der Musik, hielt ich unser Zucken und Zappeln plötzlich für eine winterliche Zitterpartie. Scheißkalt war es hier drin, weil er sich weigerte, die Heizung weiter aufzudrehen, der Herr Kollege aus dem Untergeschoss, in dessen Klavierzimmer unangebrachterweise der Thermostat angebracht war. Unsachgemäß krass geheizte Zimmer verstimmten den Steinway sicherlich, sagte er immer, gewiss nicht die Kollegenschaft. Und wenn, was machte das schon, er war ja immer noch vom Direktor der Darling und Spion, der jedes Jahr die sogenannten Visionen, Erregungen und Kritzeleien der Eltern auf irgendwelchen Nachfragebogen auswertete, hin und wieder ein bisschen kritisch interpretierte oder Unerfreuliches hinzudichtete.

 

Da kam ich auch schon aus dem Takt über meinem ganzen Ärger auf dieses Unterlander Kaff, die Schicky-Micky-Mäuschen-Kleinstadt. Mein Oberschenkel zitterte, mein Knöchel erstarrte, mein Halbabsatz verharrte. Entlarvt wurde ich gleich doppelt und dreifach, vom Weitergeigen meines Schülers, vom exakt schlagenden Metronom, von einer mechanisch genau halb so schnell wippenden Turnschuhsohle. Durch den orangefarbenen Nylonsocken sah ich die Sehne arbeiten und den Knöchel vor mich hin rhythmisieren, alla breve wie vorher ausgemacht, allegro assai, wie ausgewiesen in der Partitur, die zwischen mir und meinem Schüler aufgeschlagen am Notenständer lag, der ebenfalls vibrierte, da der Junge zu fest stampfte, ein Auf und Ab der Ferse pro Doppelschlag vom Metronom, indes der Wind wie wild sein Spiel trieb. Schneechaos herrschte nun schon wochenlang, seit der Kleine eingetreten war, die Knöchel geklammert um die kopierten Seiten des Köchelverzeichnisses sechshundertsechsundzwanzig, »Mozarts Requiem«, sagte er, »Sisi«, sagte ich, »jaja, spielen wir im Kirchenorchester, zu Weihnacht«, und ich lachte. »Zweite Geige bin ich«, sagte er, ich lachte abermals, sagte, »erste wirst du sein«, und spielte ihm das Stück vor. Seither kann ich mich keiner Stunde Unterricht ohne Niederschlag entsinnen, ohne dass es schneite.

Die anderen Schüler nahmen sich Kältefrei, während der Kleine, mein Einziger derzeit, mit Ingrimm geigte vor den fallenden Flocken, die selbst aussahen wie das Negativ von Notenköpfen. Es verblieb bloß noch ein schmaler Schlitz Fenster, durch den ich hinaus ins Dezemberschwarz schielte, während darunter, gespiegelt vor den Schneewehen in mein Gesicht, der Aufstrich meines Schülers kam. Er spielte ihn genau wie ich, ein keckes Minimarcato mit Absetzen, starrte derweil wie eine Offenbarung die aufgeschlagene Partitur an. Einen Wimpernschlag verharrte seine Hand, schwebte frei, strich dann ab, nahm alle Töne legato auf einen Bogen, betete brav herunter. Das Metronom auf der Fensterbank verdeckte jetzt seine Knöchel, bis es die Hand mit wildem Schlagen in unerbittlichem Takt wieder nach oben trieb, in diesen mir so lieben Aufstrich. Wieder entfernte sich der mahagonifarbene Bogen von der Saite, ein My nur von Abfedern und Abheben vor dem Fall. Unter dem orangefarbenen Nylonsocken regte sich sein Knöchel, seine Ferse stampfte auf den Boden, schickte den Stoß durchs Parkett in die Füße des filigranen Silbernotenständers hinein, der erbebte und die Partitur bewegte, während die haselnussbraune Pupille eine Zeile nach unten rutschte, die Schulter sich regte, der Oberarm ebenfalls, der Ellenbogen und der Unterarm, daran die Hand, die Finger, Abstrich. Wieder erzeugte das kugelige Metronom das Bild auf der Scheibe, als wäre es des Jungen Hand, schickte dem Bogen den Puls ins Blut und hämmerte den Takt Schlag um Schlag übergelenk den Arm hinauf bis in den Kopf und zu den weit aufgerissenen, rotgeränderten, blau unterlaufenen Augen wieder hinaus, die in die aufgeschlagene Partitur stierten, die Notenköpfe anschauten wie jemand, der nach dem gesehenen Flügelaltar, bepinselt mit Tauben und Engelstrompeten und Jesus und Jungfrau, das geschehene Wunder vergisst. Zu Füßen des Fensterkreuzes glotzte das Metronom wie ein Totenkopf. Er spielte den letzten Aufstrich. Das Kolophonium hockte mitten auf den kopierten Seiten wie ein zwischen Schultern gesackter Schädel. Er strich ab. Der Schnee kleisterte die finalen Millimeter Scheibe. Mein Schüler stand, legte die Geige beiseite, auf die Kommode, nahm von den gestapelten Notenheften das kunststoffummantelte Stück Kolophonium. Mit der bernsteinenen Fläche strich er über das Bogenhaar, von oben herab. Trockenster Staub rieselte grau aufs Parkett. Der Schüler setzte unten ab und oben wieder an. Er ließ die Hand sinken und Partikel aufs Parkett stieben. Seine Finger strichen von der Spitze zum Frosch. Das Kolophonium kroch das Rosshaar runter wie ein Tropfen Harz, der bereits zu trocknen beginnt, eine Baumrinde hinab, bis er ein Insekt erfasst, von Kopf über Thorax bis Abdomen orange ummantelt, erstarrt samt Fühlern und Beinchen und hauchdünnen Hautflügelchen, eingeschlossen die Flügelscheide sowie die brillanten Augen der toten Köcherfliege. Köcheln hörte ich es. Nina hob den Deckel vom Topf. Wasserdampf stieg ihr zu Kopf. Rot wurden ihre Wangen. Ich roch ihren Puls. Die Note erhob sich von ihrem Handgelenk. Aus Parfumalkohol löste sich Duft wie aus Orchestern Klang. Er erfüllte die Herbergsküche. Lenas blonden Schopf umspielten Wolken. Über den Fliegenkopf strich ich einen Tropfen Lack. Das Schlurfen Ernstls, sein Knöchelknacken schlich an mein Ohr, ein Fingerschnipsen im Gehörgang. »Was hast du da getan?« – »Mit einer Violinsaite habe ich gerippt«, ich spannte die Köcherfliegenlarve aus, vernahm sie schon ins Wasser fliegen, spürte sie an meinen Fingern ziehen, gegen die brodelnde Strömung schwimmen, zur Oberfläche kommen, leben. Als die Forelle stieg, biss, fühlte ich meine Zunge zwischen den eigenen Zähnen beben. Du Holzklotz! Verflucht und zugenäht! Was ist denn das? Meiner Seel, das Requiem. Mittendrin im Komponieren hat es da geheißen Wolfgang Ade. Seine Adepten haben es fertig gemacht. Das kann man nicht nach Strich und Beistrich spielen. Du hast jeden Metronomschlag getroffen. Alles nach den Noten. Das ist doch Material. Interpretieren musst du. Und erst die Triolen. Wie sich bei dir drei Achtel aufs Viertel ausgehen. Kein Taschenrechner der Welt hätt genug Nachkommastellen. Bei dir Periodenscheißer geht ja sogar ein US-amerikanischer Supercomputer KO. Selbst der Herr Riemann oder wer auch immer gibt da w. o. So viele Dreien gibts gar nicht, wie dir ins Zeugnis gehören. Und erst die Triller. Immer dasselbe gespielt. Nach Punkt und Faden. Schon mal was gehört von Stuckstücken, von Schmuckierungen und Verzierratur? Wenn alle Zimmer in Wien den gleichen Plafond hätten, im Ohr jedes Strizzis das gleiche Flinserl wär und die Schlagobershaube am Eisbecher immer gleich aussähe, wo kommen wir denn da mit dir Korinthenreiter hin. Beispielsweise die Doppelschläge. Auf eine Viertel, da kommt der Grundton, dann der Ton drüber, dann der Grundton selbst, dann der Ton drunter und wieder der Grundton. Eine Girlande quasi, ein Kranz sozusagen, einen Reigen um den Grundton. Aus Grundton, drunter, Grundton, drüber machst du Erbsenhengst zweiunddreißigstel, und dann wieder den Grundton als Achtel, sodass sich alles ausgeht, voilà, wir haben eine Viertel. Vielleicht hast du einen Plan, und genau deswegen keine Ahnung, nicht den geringsten Schimmer. Du kannst den Doppelschlag verlangsamen, einbremsen und die gestohlene Geschwindigkeit zum Schluss erst, am Grundton wieder, abzwacken. Beschleunigen, geht auch, am Grundton kommst du dann früher wieder an, dann kannst du ihn länger halten, wirklich voll klingen lassen und diese Betonung auskosten, bevor du alsbald nach ausdrucksvollem Bogenstrich, der immer noch andauert, weiterspielst. Schon mal irgendwo im Köchelverzeichnis ein Wiederholungszeichen gefunden. Ebendrum. Ein bisschen Abweichung. Darauf kommt es an, jeden Doppelschlag anders. Wie, das überlegst du dir im Spiel. Nur eine Stütze ist die Partitur; interpunktieren musst du. Für Paragraphenkacker hab ich hier keine Zeit. Das werd ich dir schon beibringen. Hast du ein Glück, dass ich zart besaitet bin. Eine Engelsgeduld hab ich. Aber mit dir i-Tüpferl-Zähler komm ich zum Finis. Das Metronom pochte noch. Der Schüler stockte im Kolophonieren. Meine Hand war erhoben. Ich stand. Aber ich war ja schon abgemahnt seitens der Musikschuldirektion, also ließ ich meine Finger fallen auf die andere Handfläche, dass es schallte. Wie eine Watschen klang das, wenn man vor der Zimmertüre stand. Die Metronomschläge prügelten mich. »Well, pack ma zam, super war das.«

Die Türangeln ächzten zu Hause. Zuallererst suchte ich die Fibel. Dann roch ich gleich das Gas. Das Heft geriet an der blauen Flamme in Brand. Feuerzungen zuckten durch die Luft zum Dunstabzug. Lodernd flog es in die Spüle. Infernalisch flackernd verging das Köcherfliegenverzeichnis und mit ihm und in ihm die sechshundertsechsundzwanzig verkrusteten Muster. Ich lachte. In Schuhen und Mantel, Schnee auf den Schultern, in einer Lache stand ich, schlich ins Bad. Aus dem Abflusssieb fischte ich einen Haarkranz. Lena, Johannes, Lukas, ich wusste es nicht, penultimo. An der Garderobe harrte keine Faser meiner. Die finale Strähne beutelte ich aus dem Kopfpolster. Ich trat rückwärts bis zur Türschwelle, schwenkte den Blick, dachte die eine Betthälfte weg, überlegte, wohin den Bindetisch, an dem ich dann hockte, wie vor einem Schrein, Jahr um Jahr, bis alles Gold verwunden war im blonden Schein der Fliegenbindelampe, die ich umfunktionierte zum Schreibtischlicht.