Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue

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Der Argumentation Puppes kann auch aus einem anderen Grund nicht gefolgt werden: Bindet man die Obliegenheit der Kenntnis geltender Verhaltensnormen an die Zumutbarkeit ihrer Kenntnisnahme, die bei tiefverwurzelten Wertungen allgemein anerkannt ist,[79] überzeugt es nicht, dass die Konkretisierung eines unbestimmten Pflichtenprogramms wie der „Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“ durch § 30 GmbHG in der Konsequenz zu verschärften Vorsatzanforderungen führt. Das gegenteilige Ergebnis ist plausibler, denn die teilweise Auflösung des unbestimmten Pflichtenprogramms durch Konkretisierung führt im Ergebnis dazu, dass die Zumutbarkeit ihrer Kenntnisnahme, zumal vom Normadressaten (hier Geschäftsführer),[80] mit zunehmendem Konkretisierungsgrad der Pflicht steigen sollte.

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Die Substituierbarkeitsthese gilt folglich nicht nur bei Verweisungen auf Rechtvorschriften, sie findet ihre Berechtigung auch bei gesetzlichen Verweisen auf ungeschriebene, allgemein bekannte Pflichten und Verbote. Aus diesem Grund kann eine Unterscheidung eines Verweisungsmerkmals in die Kategorien tatbewertendes Merkmal einerseits, und Blankettmerkmal andererseits im Kontext des Vorsatzes unterbleiben. Der Begriffskategorie der (gesamt-)tatbewertenden Merkmalen verbleibt insoweit lediglich eine Kennzeichnungsfunktion von nicht-kodifizierten Wertungen und Verhaltensnormen, die im vorsatzrechtlichen Kontext gegenüber Blankettmerkmalen keine Besonderheiten aufweisen.[81]

Im Ergebnis ist der Gesetzgeber nicht gezwungen, die den Verweisungsobjekten zugrunde liegenden Merkmale in die Sanktionsnorm zu übernehmen, um die Rechtskenntnis als Vorsatzgegenstand zu vermeiden.[82]

3. Art der Verweisung

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Ein weiterer formaler Ansatz zur Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum könnte in der Art der Verweisung festzumachen sein. Im verfassungsrechtlichen Kontext werden Verweisungen häufig nach dem „Wie“ der Verweisung kategorisiert. „Echte“[83] bzw. „ausdrückliche“[84] Verweisungen (identifiziert als Blankette) werden von ihrem Pendant, den „unechten“ und „konkludenten“ Verweisungen (normative Tatbestandsmerkmale), unterschieden. Nun ist es nicht ohne Weiteres selbstverständlich, diese Differenzierungskriterien auch im vorsatzrechtlichen Zusammenhang zu verwenden. Gleichwohl soll nach teilweise vertretener Ansicht die Art der Verweisung maßgeblich für die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum sein.

a) Ausdrückliche und konkludente Verweisungen

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Lauer hält bei tatbestandsergänzenden Verweisungen (verstanden als Blankettmerkmale) den Grad der Verweisungsgenauigkeit für vorsatzrechtlich erheblich.[85] Präzise Verweisungen seien von konkludenten (bzw. unpräzisen) Verweisungen zu unterscheiden, wobei nur der Irrtum über erstere unbeachtlich sei.[86] Sie ist der Auffassung, dass die Grenze der dem Normadressaten zumutbaren Kenntnis des Inhalts von Ausfüllungsvorschriften bei unbestimmten Verweisungen erreicht sei.[87] Der Täter müsse daher in Fällen unbestimmter Verweisungen die Umstände der Ausfüllungsvorschrift und die Rechtsfolge kennen (3. Vorsatzmodell).[88]

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Überzeugend ist es, wenn Lauer ihren vorsatzrechtlichen Differenzierungsansatz unausgesprochen an das sog. Postulat der Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes knüpft. Sie kann sich dabei auf den Leitgedanken des geltenden Irrtumskonzepts der Schuldtheorie berufen.[89] Die Kenntnis der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände vermittelt danach einen Unrechtsappell an den Täter.[90] Da hierbei ein objektiver Maßstab angelegt wird, handelt der Täter in aller Regel schon dann vorsätzlich, wenn er die Tatsachen kennt, die eine Rechtsfolge auslösen. Die Kenntnis des Einzelnen vom Inhalt der Gesetze wird dadurch vorausgesetzt. Lauer gelingt es aber nicht zu begründen, warum der Grad der Verweisungsgenauigkeit Auswirkungen auf die zu erwartende Gesetzeskenntnis der Bürger haben soll. Die Annahme, der Normadressat kenne in Fällen unbestimmter Inbezugnahmen das Verweisungsobjekt nicht bzw. müsse es nicht kennen, erschöpft sich in einer bloßen Hypothese.[91] Die Obliegenheit des Bürgers, sich über den Anwendungsbereich auch „unpräziser“ Verweisungen zu informieren, erscheint jedenfalls nicht per se unbillig. Im Gegenteil: Richtigerweise kann die allgemeine Kenntnis des Verbots einer Handlung nicht von der zufälligen Gesetzesausgestaltung abhängig gemacht werden. Freilich lehnt Lauer die hier zum Ausdruck gebrachte Substituierbarkeitsthese insgeheim ab und weist dem Blankettmerkmal eine zweifache Funktion zu.[92] Neben der Verweisung auf Vorschriften komme dem Blankettmerkmal auch eine tatbestandliche Funktion zu.[93] Damit folgt Lauer der Argumentation von Puppe, die dem Blankettmerkmal seinerseits vorsatzrechtliche Bedeutung mit der Folge zuschreibt, dass der Täter im Ergebnis den Inhalt und die Existenz der Ausfüllungsvorschrift nachvollzogen haben müsse (der „Sinn“ des Merkmals – die Intension – sei Gegenstand des Vorsatzes).[94]

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Zudem ist das Kriterium der „präzisen“ bzw. „unpräzisen“ Verweisung unbestimmt. So darf mit Recht daran gezweifelt werden,[95] ob der Verweis auf eine Vorschrift mit 19 verschiedenen Tatvarianten (vgl. § 12 Abs. 4 auf § 12 Abs. 1 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit) tatsächlich als „präzise“ gelten darf, oder die dadurch verursachte Unübersichtlichkeit der Verweisung dieser Bezeichnung nicht entgegensteht.

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Auch Lüderssen scheint in diesem Zusammenhang anhand der Verweisungsart differenzieren zu wollen.[96] Unter ausdrücklicher Ablehnung der Lehre von den gesamttatbewertenden Merkmalen erkennt er in der Fehlvorstellung über die Pflichtwidrigkeit einen Tatbestandsirrtum.[97] Wisse der Täter aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht, dass er seine Vermögensbetreuungspflicht verletzt, kenne er nicht einmal die Umstände, die die erste Vermutung für ein Unrecht im Sinne des § 266 begründen.[98] Sollte Lüderssen die Irrtumsfolge tatsächlich in Abhängigkeit der Verweisungsart vornehmen wollen, muss dies überraschen, da er die im garantietatbestandlichen Kontext nach h.M. vorgenommene Differenzierung von Blankettmerkmalen (die er als ausdrückliche Verweisungen identifiziert) und normativen Tatbestandsmerkmalen (die er in konkludenten Verweisungen erkennt) kritisiert. Lüderssen befürwortet damit – entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[99] – den Bestimmtheitsgrundsatz auch auf Tatbestände mit normativen Tatbestandsmerkmalen Anwendung finden zu lassen. Das Argument, der „technische Standort der Norm“ dürfe nicht über die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG bestimmen,[100] ist aber auch irrtumsrechtlich zutreffend. Überdies bereitet auch hier der Differenzierungsbegriff („Konkludenz“) Subsumtionsschwierigkeiten. Lässt man für die „Konkludenz“ einer Verweisung genügen, dass das Verweisungsobjekt nicht ausdrücklich beschrieben wird, wird man der Verweisung des § 266 konkludenten Charakter bescheinigen können. Aber auch das gegenteilige Ergebnis wäre plausibel, immerhin gibt § 266 die Verweisungsquellen (Gesetz, Rechtsgeschäft usw.) zu erkennen. Der Begriff der „Konkludenz“ erweist sich so als unscharfes Abgrenzungskriterium.[101] Unklar bleibt vor allem auch hier, welche sachliche Berechtigung die Unterscheidung von konkludenten und ausdrücklichen Verweisungen für den Vorsatz haben soll.[102]

b) Statische und dynamische Verweisungen

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Kuhlen unterscheidet dynamische von statischen Verweisungen und erklärt nur den Irrtum über dynamische Verweisungen für beachtlich. Hierbei erkennt Kuhlen im Grundsatz an, dass eine Differenzierung nach der Art der Verweisung bzw. nach dem Verweisungsort für den Vorsatz ohne Bedeutung ist, soweit die Verweisung ohne Weiteres durch das Verweisungsobjekt ersetzt werden kann.[103] Dies ist nach dessen Auffassung der Fall, wenn der Gesetzgeber auf einen bestimmten Rechtszustand im Zeitpunkt des Erlasses der Verweisungsnorm verweise.[104] Der Irrtum über statische Verweisungen sei daher wie der Irrtum über den Inhalt des Strafgesetzes selbst zu behandeln. In Anerkennung der „allgemeinen strafrechtlichen Definitionsmacht“[105] sei ein solcher Irrtum unbeachtlich.

Die Zulässigkeit der Substituierbarkeit des Verweisungsmerkmals durch Ausfüllungsvorschrift verneint Kuhlen hingegen bei den sog. dynamischen Verweisungen. Als dynamisch begreift Kuhlen Verweisungen, die auf „die rechtlichen Regeln und sonstigen Beurteilungsmaßstäbe [Bezug nehmen], die jeweils zu dem Zeitpunkt bestehen, in dem eine zu beurteilende Handlung vorgenommen wird.“[106] Im Zeitpunkt des Erlasses der Sanktionsnorm könne der Gesetzgeber durch den Verweis einen bestimmten Inhalt festschreiben (statische Verweisung), oder aber auf den Inhalt des Verweisungsobjekts zum Zeitpunkt der zu beurteilenden Handlung anknüpfen (dynamische Verweisung). Beide Verweisungsarten unterschieden sich dabei in der zeitlichen Struktur von Verweisungs- und Ausfüllungsvorschrift. Statisch in Bezug genommene Ausfüllungsvorschriften teilten die Zeitstruktur der Sanktionsnorm, während dynamische Bezugnahmen von der Zeitstruktur der Verweisungsvorschrift abwichen.[107] Anders als bei statischen Verweisungen werde bei dynamischen Verweisungen im Zuge der Ersetzung der jeweils geltenden Regelung der Anwendungsbereich der Verweisungsvorschrift dadurch verändert, dass an die Stelle der in der Ausgangsvorschrift enthaltenen Variablen eine Konstante gesetzt werde.[108] In diesen Fällen sei die Substitution unzulässig und die Verweisung nicht mehr nur lediglich Ausdruck formaler Gesetzestechnik.[109] In Anknüpfung an die reichsgerichtliche Irrtumsunterscheidung von außerstrafrechtlichen und strafrechtlichen Rechtsirrtümern identifiziert Kuhlen den Irrtum über den Inhalt dynamischer Verweisungen als vorsatzausschließenden Irrtum über außerstrafrechtliche Rechtssätze.[110]

 

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Das Pflichtwidrigkeitsmerkmal in § 266 könnte sich als eine im Sinne Kuhlens dynamische Verweisung erweisen. § 266 verweist vermittels des Pflichtwidrigkeitsmerkmals auf die jeweils gültigen Vermögensbetreuungspflichten, deren Inhalt einem ständigen Wandel unterliegt. Als Beispiel mag das am 1. November 2008 in Kraft getretene „Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen“[111], kurz: MoMiG, dienen. Bis zur Reform des GmbH-Rechts war es dem Geschäftsführer einer GmbH gem. §§ 30, 31 GmbHG a. F. in der Krisensituation des §§ 32a, 32b GmbHG a. F. untersagt, sog. kapitalersetzende Gesellschafterdarlehen an den Gesellschafter zurückzuzahlen. Ein Handeln entgegen dem Gebot erfüllte den Tatbestand der Untreue, sofern durch die Rückzahlung das Stammkapital gefährdet oder beeinträchtigt wurde.[112] Nach Abschaffung der §§ 32a, 32b GmbHG a. F. ist die Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens ausweislich des Wortlautes des neu eingefügten § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG von dem Rückzahlungsverbot des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG ausgenommen. Das Verbot der Rückzahlung kapitalersetzender Darlehen bildet mithin keine Vermögensbetreuungspflichten mehr, eine Untreuestrafbarkeit scheidet – bis zu der Grenze des § 64 Satz 3 GmbHG – fortan aus.[113]

Auf der Grundlage von Kuhlens Zeitstruktur-Kriterium wäre es eigentlich folgerichtig, den Irrtum über die Pflichtwidrigkeit der Handlung als stets beachtlich einzustufen. Doch könnte im Zuge der Kuhlenschen Lehre auch das Gegenteil richtig sein. Dies offenbart erneut das Hunde-Beispiel[114]. Der Irrtum des Täters über die Sacheigenschaft des Hundes ist nach Kuhlen nur deshalb unbeachtlich, weil er ihn als strafrechtlich und den Verweis als statisch qualifiziert.[115] Begreift man den Sachenbegriff jedoch akzessorisch als Verweis auf § 90a BGB, dann läge es in der Konsequenz von Kuhlens Irrtumsabgrenzung, den Irrtum über die Sacheigenschaft des Hundes als beachtlich einzustufen.[116] Gleiches gilt für die Pflichtwidrigkeit in § 266: Einerseits erweist sie sich als eine „dynamische“ Verweisung, andererseits könnte sie als strafrechtlicher Begriff aufzufassen sein, den Kuhlen – vergleichbar dem Sachbegriff – für vorsatzrechtlich unbeachtlich erklären müsste.

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Es bleibt unklar, warum ein auch als dynamisch beschreibbarer Verweis wie die „Sache“ oder „Pflichtwidrigkeit“ bald als vorsatzrechtlich beachtlich, bald als unbeachtlich zu behandeln ist. Vor diesem Hintergrund wendet Schroth mit Recht ein, dass Kuhlen es im Ergebnis offen lässt, wann die Ausfüllungsvorschrift der Zeitstruktur der Ausgangsnorm entspricht und der Irrtum über die dann statische Ausfüllungsvorschrift unbeachtlich ist.[117]

Ohnehin ist ein Verweis, der den Rechtszustand des Verweisungsobjekts im Zeitpunkt des Normerlasses festschreibt, nur schwer vorstellbar und wird sinnvollerweise kaum existieren können.[118] Herzberg veranschaulicht dies anhand des Beispiels, dass es der Gesetzgeber wohl nicht anordnen würde, den Begriff der Fremdheit stets nur im Sinne der Rechtslage vom 15. Mai 1871 auszulegen.[119]

Neben den festgestellten Abgrenzungsunsicherheiten, die Kuhlens Theorie mit den Schwächen der reichsgerichtlichen Irrtumsrechtsprechung gemein hat, überzeugt die Abgrenzung auch inhaltlich nicht.[120] Kuhlen behauptet, der Gesetzgeber mache bei dynamischen Verweisungen im Unterschied zu statischen Verweisungen von seiner strafrechtlichen Definitionsmacht nur eingeschränkt, nämlich durch die Kodifizierung der Verweisungsvorschrift Gebrauch. Dies rechtfertige es, den Irrtum des Einzelnen ausnahmsweise über die Interessen der Allgemeinheit zu stellen und ihm vorsatzausschließende Wirkung beizumessen.[121] Dagegen spricht, dass – anders als Kuhlen suggeriert[122] – die Kenntnis des Inhalts auch dynamischer bzw. als dynamisch beschreibbarer Ausfüllungsvorschriften in zumutbarer Weise vom Normadressaten erlangt werden kann und deren Kenntnisnahme im Übrigen vom geltenden Irrtumskonzept der Schuldtheorie vorausgesetzt wird.[123] Daraus folgt, dass es im Hinblick auf das geltende Irrtumskonzept nicht überzeugen kann, wenn bei dynamischen Verweisungen vorsatzrechtlich die Belange des Einzelnen über diejenigen der Allgemeinheit gestellt werden.

4. Zwischenergebnis

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Neben den Subsumtionsschwierigkeiten, die die formalen Unterscheidungskriterien durch ihre fehlende Exaktheit verursachen, sind sie vor allem nicht mit der anzuerkennenden Substituierbarkeitsthese und dem Grundgedanken der Schuldtheorie vereinbar. Die Versuche, formal und damit umstandslos eine überzeugende Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum zu leisten, erweisen sich als untauglich.[124]

Teil 2 Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum › A › II. Materielle Abgrenzung der Vorsatzmodelle

II. Materielle Abgrenzung der Vorsatzmodelle

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Den formalen Abgrenzungsansätzen stehen die hier als materiell bezeichneten Unterscheidungsbemühungen gegenüber, die dem Verweisungsobjekt normative Bedeutung beimessen (auf „was“ wird verwiesen). Bei ihnen steht die zutreffende wie schlichte Erkenntnis im Mittelpunkt, dass Straftatbestände mit verweisenden Merkmalen in dem Umfang ihrer Verweisung unvollständig sind. Die Unvollständigkeit des Tatbestandes allein vermag aber keine Auskunft über die möglichen vorsatzrechtlichen Unterschiede zwischen den Verweisungen zu geben.[125] Gleichwohl wird sie zum Ausgangspunkt der Unterscheidung von Blankettmerkmalen (1. Vorsatzmodell) und normativen Tatbestandsmerkmalen (2. bzw. 3. Vorsatzmodell) erklärt, die vorsatzrechtlich erheblich werden könnte. Mithilfe materieller Abgrenzungskriterien wird versucht, jene wesensbestimmende Unvollständigkeit des Blankettstrafgesetzes herauszuarbeiten, die es von Tatbeständen mit normativen Tatbestandsmerkmalen unterscheidet.[126]

Dazu gehört die sog. Lehre vom Regelungseffekt, in deren Anwendung zu untersuchen ist, ob durch die Sanktionsnorm lediglich die einzelnen Merkmale oder auch die Rechtsfolge der Ausfüllungsvorschrift in Bezug genommen werden, die vom Vorsatz erfasst sein müssen.

1. Die Lehre vom Regelungseffekt

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Nach der von Jakobs begründeten Lehre vom Regelungseffekt sind Sanktionsnormen, die den bloßen Ungehorsam gegenüber ausfüllenden Vorschriften unter Strafe stellen, von solchen, bei denen die Rechtsfolge der ausfüllenden Vorschriften in ihrem Bestand gesichert werden soll, vorsatzrechtlich zu unterscheiden. Ausfüllungsvorschriften, durch die Rechte konstituiert und zugleich abgesichert werden würden (hier sog. Effektvorschriften), erzeugten das Angriffsobjekt, das durch die Sanktionsnorm in Bezug genommen werde. Hier müsse sich der Vorsatz wie im Fall der Fremdheit einer Sache gem. § 242 neben den zugrunde liegenden Tatsachen auch auf den Regelungseffekt der Ausfüllungsvorschrift beziehen (3. Vorsatzmodell).[127] Nur derjenige kenne die Tatbestandsverwirklichung, der den Effekt kennt. Dies treffe auch dann zu, wenn der Regelungseffekt der Bestand von Unrecht sei.[128]

Verweist die Sanktionsnorm auf die Ungehorsamsvorschriften, müsse der Täter lediglich die dem Tatbestand der Sanktionsnorm und dem Tatbestand der ausfüllenden Vorschrift zugehörigen Merkmale kennen (1. Vorsatzmodell). Ungehorsamsvorschriften werden von Jakobs dadurch gekennzeichnet, dass sie auf Verhaltenslenkung abzielten. Ein gesondertes Angriffsobjekt werde durch sie nicht geschaffen, sodass dieses auch nicht Gegenstand des Vorsatzes sein müsse.[129]

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In Anwendung dieser Grundsätze auf das Pflichtwidrigkeitsmerkmal des § 266 gelangt Jakobs zu dem Ergebnis, dass die Vermögensbetreuungspflichten in der Sache als Effektvorschriften einzuordnen seien. Die Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, begründe ein außerstrafrechtliches Rechtsverhältnis, an welches das Strafrecht wie bei den Merkmalen „fremde Sache“ der Eigentumsdelikte oder „zuständige Stelle“ der Aussagedelikte akzessorisch anknüpfe. Bei akzessorischen Bezugnahmen greift das Strafrecht auf einen anderweitig bereits begründeten Regelungseffekt zu, nicht nur auf die diesem Effekt zugrunde liegenden Tatsachen.[130]

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Diesem Ergebnis folgen Rönnau und Walter. Auch sie sind der Auffassung, dass zwischen solchen Ausfüllungsvorschriften unterschieden werden müsse, die ein vortatbestandliches Ge- oder Verbot übernehmen und höchstens um einige Tatbestandsmerkmale ergänzt würden, und solchen, die einen rechtlichen Umstand schafften (Eigenschaft, Recht) und damit mehr als ein Verbot bildeten.[131]

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Während Walter jedoch Zweifel anmeldet, ob die Pflichtwidrigkeit nach den Grundsätzen der Lehre von dem Regelungseffekt in der Sache stets nach der Rechtskenntnis verlangt,[132] stuft Rönnau die Pflichtwidrigkeit nunmehr[133] als ein normatives Tatbestandsmerkmal ein.[134] § 266 übernehme aus dem außerstrafrechtlichen Bereich den Effekt der Begründung eines Rechtsverhältnisses und gegebenenfalls sogar den der Feststellung einer Pflichtverletzung. Dieser Effekt werde dann nach strafrechtsdogmatischen Besonderheiten weiterverarbeitet, um die Pflicht etwa auf ihre Schutzzwecktauglichkeit oder ihre ausreichende Bestimmtheit hin zu überprüfen. Für Rönnau spricht gegen die Blanketteigenschaft und damit gegen das 1. Vorsatzmodell, dass bei den ebenfalls von § 266 erfassten faktischen Treueverhältnissen die außerstrafrechtlich begründete Pflicht fehlen könne.[135]

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Rönnaus letzter Einwand beruht anscheinend auf der – in der Rechtsprechung und Literatur verbreiteten[136] – Prämisse, dass Blankettmerkmale nur auf Verweisungsobjekte mit Rechtsqualität verwiesen. Diese Begriffsdefinition ist von einem verfassungsrechtlichen Vorverständnis geprägt, das Blankette traditionell als Verweisungen auf andere Rechtsvorschriften (z. B. Gesetz, Rechtsverordnung) kennzeichnet.[137] Vermutlich sprechen daher Teile der Literatur im Zusammenhang mit § 266 lediglich von einem „blankettartigen“ Tatbestand,[138] da neben „Gesetz“ und „behördlichem Auftrag“ auch auf „Rechtsgeschäft“ und „Treueverhältnis“ verwiesen wird.

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An dieser Stelle macht sich erneut das Problem bemerkbar, das entsteht, wenn mit einer im garantietatbestandlichen Kontext entwickelten Begriffskategorie Fragen des Vorsatzes beantwortet werden sollen.[139] Es ist nicht ausgeschlossen, dass die durch das Pflichtwidrigkeitsmerkmal in Bezug genommenen faktischen Vermögensbetreuungspflichten unter vorsatzrechtlichem Gesichtspunkt mit den Vermögensbetreuungspflichten aus Gesetz, behördlichem Auftrag und Rechtsgeschäft gleichzubehandeln sind. Bei isolierter Betrachtung von Rönnaus Einwand wird der Eindruck erweckt, man müsse bei Anerkennung der verhaltensnormenvermittelnden Eigenschaft des Pfichtwidrigkeitsmerkmals vorsatzrechtlich zwischen Vermögensbetreuungspflichten aus Treueverhältnis einerseits, und aus den übrigen Pflichtenquellen des § 266 andererseits unterscheiden. Eine solche Differenzierung wäre aber ohne sachlichen Grund[140] und wird im Übrigen von Rönnau ersichtlich nicht angestrebt.

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Besonders einsichtig ist die Lehre vom Regelungseffekt im Rahmen des § 266 dort, wo die Vermögensbetreuungspflichten rechtsgeschäftlich vereinbart werden.[141] Der Anspruch des Vermögensträgers aus einem schuldrechtlichen Vertrag, etwa mit dem Charakter eines Geschäftsbesorgungsvertrages, bildet die Kehrseite der Pflicht des Vermögensbetreuungspflichtigen. Mit dieser Pflicht wird ein Anspruch begründet bzw. „ein rechtlicher Umstand geschaffen, der über ein Verbot hinausreicht“ und damit als „Regelungseffekt“ eingestuft werden könnte. Auch in BGHSt 9, 359, 360 wird das Treueverhältnis des § 266 als ein Tatbestandsmerkmal beschrieben, das ein rechtliches Verhältnis oder eine rechtliche Beziehung ausdrückt, welche „ein selbstständiges Dasein außerhalb des Verbots“ des gesetzlichen Tatbestandes haben.

 

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Zumindest zweifelhaft wird die Einordnung der Pflichtwidrigkeit als normatives Tatbestandsmerkmal und damit die Forderung nach der Rechts- bzw. Rechtsfolgenkenntnis auf Grundlage der Lehre vom Regelungseffekt, wenn der Verweis des § 266 auf gesetzliche, z. B. öffentlich-rechtliche Pflichten (z. B. § 19 Abs. 2 HGrG; § 34 Abs. 2 1 BHO)[142] mit in die Betrachtung gezogen werden.[143] Es ist bereits fraglich, ob bei gesetzlich begründeten Vermögensbetreuungspflichten tatsächlich davon gesprochen werden kann, dass durch sie „ein über ein Verbot hinausgehender Umstand“ geschaffen wird. Genau besehen erschöpft sich dieser „Umstand“ in der bloßen Bezugnahme eines vom Bestehen des Treueverhältnisses gänzlich unabhängigen gesetzlichen Verbots. Außerdem kommen Zweifel auf, ob die Einordnung der Pflichtwidrigkeit als normatives Tatbestandsmerkmal bei gesetzlichen Vermögensbetreuungspflichten mit dem geltenden Irrtumskonzept in Einklang steht. Danach wird die Kenntnis vom Inhalt von Gesetzen, auf die sich ein Strafgesetz bezieht, erwartet. Kennt der Täter die Tatsachen, die die gesetzliche Rechtsfolge auslösen, handelt er nach h.M. vorsätzlich (Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes).[144] Erklärt man die Rechtsfolge gesetzlicher Vermögensbetreuungspflichten zum erforderlichen Vorsatzgegenstand, indem behauptet wird, § 266 knüpfe auch an deren Regelungseffekt an, droht ein Verstoß gegen das Postulat der Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes, nicht anders, als würde man das § 212 zugrunde liegende Tötungsverbot zum Vorsatzgegenstand erheben.

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Jakobs gewichtet auch nicht hinreichend die unterschiedliche Funktion, die das Merkmal „fremd“ in § 242 und das Pflichtwidrigkeitsmerkmal in § 266 übernehmen. Während die „Fremdheit“ das Tatobjekt näher beschreibt und dazu auf die Eigentumsvorschriften etwa des BGB Rückgriff nimmt, wird durch das Pflichtwidrigkeitsmerkmal das tatbestandliche Verhalten insgesamt konturiert. Dieser Unterschied könnte auch vorsatzrechtlich bedeutsam sein.[145] Wird zudem der verhaltensleitende Charakter von Jakobs Ungehorsamsdelikten betont, der anders als in seinem Beispiel von der „Fremdheit“ einer Sache bei Vermögensbetreuungspflichten unzweifelhaft sein dürfte, ist es auch auf dem Boden der Lehre vom Regelungseffekt plausibel, bei Verstößen gegen – übrigens auch rechtsgeschäftliche – Vermögensbetreuungspflichten Tatsachenkenntnis als hinreichenden Vorsatzgegenstand des Pflichtwidrigkeitsvorsatzes zu erachten.

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Jakobs räumt ein, dass die Abgrenzung zwischen den „Ungehorsamsvorschriften“ und den „Effektvorschriften“ in Grenzfällen zweifelhaft sei. Er bietet für diese Fälle eine Testfrage an: Maßgeblich ist, ob aus dem „Blankett“ auch bestraft werden soll, wenn der Täter die ausfüllenden Vorschriften kennt und weiß, dass deren Tatbestand verwirklicht ist, aber nicht begreift, was das Regelungsergebnis ist, wenn also der Ungehorsam als Unrecht hinreicht.[146] Vereinfacht formuliert: Soll der Täter bereits bei Tatsachen-, oder erst im Fall der Rechts- bzw. Rechtsfolgenkenntnis bestraft werden? Die Lehre vom Regelungseffekt führt im Zweifel zurück zur Ausgangsfrage. Das ist zunächst kein beklagenswerter Makel, vielmehr zeigt dies in erfrischender Offenheit, dass die Einordnung von Tatsachen- und Rechtskenntnis zuvörderst eine rechtspolitische Frage ist: Was soll der Vorsatzgegenstand sein, wann soll der Täter wegen vorsätzlichem Handeln bestraft werden? Die Lehre vom Regelungseffekt hilft jedoch nicht dabei, sie zu beantworten.[147] Denn offen bleibt, welche sachlichen Motive der Unterscheidung von Effekt- und Ungehorsamsvorschriften zugrunde liegen.[148] Begründet man sie in der Sache mit der sog. Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes,[149] ist es inkonsequent, bei gesetzlichen Vermögensbetreuungspflichten Rechts- bzw. Rechtsfolgenkenntnis für die Vermittlung des Unrechtsimpulses zu verlangen. Durch die Kategorisierungsbemühungen von Effekt- und Ungehorsamsvorschrift verdeckt die Lehre vom Regelungseffekt den Grundgedanken des geltenden Irrtumskonzepts und führt zu Ergebnissen, die ihm widersprechen.

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