Der erste Russe

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Der erste Russe
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Es ist die Zeit nach dem verheerenden Bürgerkrieg, mit Mangelwirtschaft, Korruption und Gemauschel. Die junge Generation hat genug von den alten Seilschaften, so auch der Protagonist, ein Schriftsteller, der soeben eine satirische Erzählung über die legendäre georgische Königin Tamar aus dem 13. Jh. veröffentlicht hat. Im Zentrum des Textes steht Tamars unglückliche Heirat mit dem Russen Juri Bogoljubski. Nachdem dieser in der Hochzeitsnacht seine eheliche Pflicht nicht erfüllt, wirft Königin Tamar ihn mit dem Segen der Kirche aus dem Land. Die Satire wird gründlich missverstanden. Der Patriarch, das Oberhaupt der georgisch-orthodoxen Kirche, verlangt einen öffentlichen Widerruf von dem überraschten Autor. Als sogar seine Familie und Freunde bedroht werden, steht er vor einer schwierigen Entscheidung.

Lasha Bugadze verarbeitet auf offenherzige und humorvolle Weise ein eigenes traumatisches Erlebnis als Schriftsteller, wagt einen Blick hinter die Kulissen der georgischen Politik und enthüllt deren tief greifende Verbandelung mit der Kirche. Der erste Russe ist ein brisantes, intelligentes und zugleich hoch amüsantes Gesellschaftsporträt.

»Ich erinnere mich an keinen anderen Autor, der die jüngste Vergangenheit und Literatur in eine solche Synthese gebracht hätte.« Dato Turaschwili



Inhalt

Vorspann

1 | Geschichtsbuch. Kindheitschronik

Meine Eltern gegen Georgien

Sündenliste. Der Weg der heiligen Nino

Schule. Der Zerfall der Sowjetunion

Das erste Jahr der Unabhängigkeit. Präsidenten

Eine Welt ohne Liebe. Durchsetzungswille im Chaos

Die Kriegsverlierer. Geld in der Tasche des Zugführers

Literarischer Abend. Die Rache am Geschichtsbuch

Der Priester im Flugzeug. Februar 2002

Perversionen. Februar 2002

2 | »Freie Epoche« – Angst vor der Revolution. 2001–2002

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3 | »Der erste Russe« – Die ersten Zensoren – Drohungen und Aufruhr. Januar 2002

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(–26) Erster Auftritt im Patriarchat

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4 | Revolution – Vierter Auftritt im Patriarchat

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Ich erinnere mich, wie der Mann, der am Eichentisch stand, zwei Dokumente aus der Schublade nahm und lächelnd zu mir sagte: »Das hier«, er legte den Finger auf das linke Dokument, »ist die Erklärung über den Ausschluss aus der orthodoxen Kirche. Wenn du dich nicht öffentlich beim Volk und der Kirche entschuldigst, ist die Heilige Synode gezwungen, dieses Schriftstück zu veröffentlichen, und danach beginnt dein Ausschlussverfahren. Hier steht: ›Er lehnt den lebendigen Gott und die Gesetze der Mutterkirche ab, verhöhnt die Gefühle der Gläubigen, beschimpft und beschmutzt den Glauben orthodoxer Menschen, die Gemeinschaft der orthodoxen Heiligen und das Vermächtnis der Vorfahren der Heiligen.‹ Und hiermit«, er legte den Finger auf das rechte, »bleibst du der Heiligen Synode als verlorener Sohn in Erinnerung, dem Volk und Mutterkirche vergeben haben.«

»Aber nur, wenn wir eine Entschuldigung bekommen«, bemerkte jemand in der Tiefe des Zimmers, der in der dunklen Ecke stehende Archimandrit, »wenn nicht, dann … Anathema.«

»Ist das euer Ernst?«, fragte jemand hinter mir.

»Die Leute sind aufgewühlt«, war die Antwort.

Ausschluss. Anathema. Verlorener Sohn.

Der mit dem Dokument blickte ab und zu verlegen lächelnd zu mir auf, und ich war nicht sicher, ob ihm seine Aussagen selbst unangenehm waren oder er nur einen Tick hatte.

Ich war zu müde und verwirrt, um mit ihm zu scherzen oder höfliche Antworten zu geben.

»Du musst dich öffentlich entschuldigen«, wiederholte der am Tisch ironisch lächelnd und unaufgeregt, »anderenfalls sind die empörten Leute nicht mehr zu beschwichtigen. Heutzutage werden Menschen doch so leicht umgebracht …«

 

1

Geschichtsbuch. Kindheitschronik

Meine Eltern gegen Georgien

Meine Eltern hatten von meiner Geburt an nicht mit Lob gegeizt, war ich doch ganze dreiundzwanzig Jahre lang – objektiv betrachtet – lobenswert gewesen. Jetzt jedoch tauchten völlig fremde Leute auf und sagten ihnen, dass dieser dreiundzwanzigjährige Mensch – objektiv betrachtet – nichts tauge und wenn er sich nicht so benähme, wie es sich gehöre, verdiene er nicht einmal die Bezeichnung »verlorener Sohn«.

»Heutzutage werden Menschen ja so leicht umgebracht …«

Auch das bekam mein Vater zu hören. Noch dazu an einem Ort, an dem normalerweise, wenn auch nur anstandshalber, über Tugend gesprochen werden sollte: neben dem Ruhezimmer des orthodoxen Patriarchen.

»Es ist deine Schuld«, sollte der Patriarch später zu meinem Vater sagen, »du hast das Kind nicht ordentlich erzogen.«

Dabei war ich in den Augen meiner Eltern (also auch in denen meines über die Bemerkung des Patriarchen zutiefst verletzten Vaters) – objektiv betrachtet – ein liebes, kluges, gutes, zweifellos ordentliches und begabtes dreiundzwanzigjähriges Kind, ungewöhnlich, schon als Junge allen bekannt als Schriftsteller und somit ein berühmter Jugendlicher, knapp zehn Jahre älter als das junge Land Georgien, ein Kind, dem eigentlich niemand etwas hätte vorwerfen können.

Das Kind meiner Eltern war nicht durch die 90er-Jahre gebrandmarkt: Es streifte nicht zusammen mit den nach Blut dürstenden Kindern der 90er durch die Straßen, sondern schrieb, malte oder sprach (was es seiner Großmutter zufolge schon mit acht Monaten konnte), war ein Karikaturist, konnte jeden beliebigen Menschen parodieren (ohne Rücksicht auf dessen Alter, Geschlecht und Gefühle), sang Opernarien, war in der frühen Kindheit dick (wodurch es nur noch vertrauenswürdiger und sympathischer erschien). Es war begabt, und sein Vater hätte – wenn er die Gelegenheit bekommen hätte oder vielmehr, wenn er sich die Freiheit genommen hätte – jedem, der an seinen Erziehungsmethoden etwas auszusetzen hatte, mit Vergnügen die positiven Eigenschaften des Kindes aufzählen können. Er hätte beispielsweise erzählt, dass es »mit elf Jahren, Eure Heiligkeit, jawohl, mit elf, Hochwürden, mit den Nachbarsmädchen (mit den Mädchen deshalb, weil niemand anderes mitmachen wollte) nichts Geringeres als Goethes ›Faust‹ aufgeführt hat! Versteht Ihr? Mit elf Jahren den ›Faust‹! Bloß eben im Garten, und er selbst spielte Mephisto, den Teufel, Eure Heiligkeit (Entschuldigung, dass ich hier einen der Namen des Teufels erwähnen muss), aber er spielte einen dicken und süßen Mephisto, weil er selbst sehr süß war, sogar beim Darstellen des Teufels, Eure Heiligkeit, wenn er Fausts Geliebter Serenaden vorsang. Übrigens gibt es als Beweis sogar Videoaufnahmen von der Veranstaltung: Es war 1989, Juni, im Hof des Hauses meiner Exfrau, der Mutter meines Kindes, und das Kind rezitiert mit elf Jahren die Texte des Mephisto; ein Scheidungskind, Eure Heiligkeit, aber trotzdem stets mit Aufmerksamkeit bedacht, besonders von den Großmüttern! Es ist ein von den Großmüttern aufgezogenes Kind, die ihm nie etwas Schlechtes und Wertloses beigebracht haben, wie Ihnen unbedacht herausgerutscht ist. Daher ist das etwas anderes – ich bitte um Entschuldigung, es geht hier um ein besonderes Kind. Den Kameramann habe ich, sein Vater, dazugeholt, weil ich merkte, dass da etwas Ungewöhnliches vor sich ging, jawohl, es ist ungewöhnlich, wenn ein elfjähriges Kind ein Theaterstück über eine Abmachung zwischen Gott und dem Teufel aufführt, noch dazu nur mit Unterstützung der Nachbarsmädchen, wenn er mit der Bedeutungsschwere des mit dem Teufel geschlossenen Paktes den ganzen Hof zusammentrommelt, einen von der Tante genähten Frack trägt und uns über die Bedeutung der Seelenrettung aufklärt: Wen sollen wir nicht ordentlich erzogen haben?«

»Schon von Kindesbeinen an ging er auf antisowjetische Treffen«, würden die Großmütter sagen, wenn man sie fragen würde, und eine, die sentimentalste und emotionalste von ihnen, würde sehr entschlossen die Kirchenvertreter angreifen, die das Verhalten des Enkels nun kritisierten: »Mein Enkel war ein durch und durch einzigartiges Kind, sittsam und ordentlich; während andere Kinder schon am ersten Tag ihr Spielzeug kaputt machen (manche können es ja kaum erwarten, dem Teddy oder der Giraffe den Bauch aufzuschlitzen), führte mein Enkel Tetralogien auf, mit den Teddys oder Giraffen, die es in den leer gefegten Spielzeugläden der Sowjetunion nicht zu kaufen gab und die der eine oder andere aus Ländern des sozialistischen Lagers besorgt hatte. Wo andere übermütig wurden und deren arme Eltern schon nicht mehr wussten, womit sie das Kind überschütten könnten, beschäftigte sich dieses Kind von Anfang an mit sich selbst: Es legte sich ein Zeichenbrett auf die Knie, ein Blatt Papier darauf und malte die kompliziertesten Karikaturen, da staunten die Leute! Allein wie seine Gemälde entstanden – bei Menschen (meistens malte er Politiker) begann er mit den Schuhabsätzen und füllte dermaßen schnell und gewitzt das Blatt, dass selbst berühmte Maler verblüfft gewesen wären. Einmal brachte er eine Lehrerin in Schwierigkeiten, vor deren Strenge die ganze Schule zitterte: Die Frau lehrte Deutsch, und als sie anfing, den Kindern irgendeinen Unsinn zu erzählen und die Nibelungen erwähnte, nannte mein neunjähriger Enkel sofort Siegfried, seinen Lieblingshelden, und noch viele andere, von denen die Deutschlehrerin noch nicht einmal gehört hatte. Als er noch ganz klein und noch nicht dick war, nahm ihn der Vater auf die Schultern, und sie hörten zusammen die alten, unter der Nadelberührung kratzenden, aber trotzdem dröhnenden (für mich ein bisschen zu pompösen) Wagner-Schallplatten, das Kind tanzte dem Vater im wahrsten Sinne des Wortes auf der Nase herum! Vater und Sohn waren nicht eine Minute getrennt! Bevor der Sohn selbst lesen konnte, lasen wir ihm Bücher vor, und später ließ er sich den Lesestoff kaum entreißen; er las nicht nur brav Seite für Seite, um zur Belohnung in den Hof gehen zu dürfen (wie die anderen Kinder das taten), und niemand brauchte sich darüber den Kopf zu zerbrechen, womit man ihn beschäftigen könnte. Hatte er sich als Neunjähriger noch einen Welpen gewünscht, kaufte er sich nun auf Kosten meiner Rente zu seinem elften Geburtstag Mozarts Flötenkonzert. Er war ein intellektuelles Kind, aber weder verschlossen noch melancholisch oder boshaft, sondern offen, humorvoll und schon als Kind unterhaltsam. Wir können uns an große Festtafeln erinnern, da saßen viele Leute am Tisch, und dieses Kind, das damit beschäftigt war, andere zu erfreuen, sprach mal mit der von Medikamenten abgestumpften Stimme Leonid Breschnews, mal mit der Stimme Eduard Schewardnadses, den wir alle zu jener Zeit für einen Vaterlandsverräter hielten. Der Vater hatte Verständnis für den Jungen, denn er war wie geschaffen für die Kunst, aber seine Mutter verstand ihn nicht und gab ihn, um den Mann in ihm zu wecken, erst in die Obhut von Skiläufern und Rugbyspielern, dann von Wasserballern, doch das Kind fand keinen Zugang zur kumpelhaften Grobheit der Trainer, denn derartige Ungezogenheit und ungehobeltes Benehmen waren für meinen Enkel noch nie erstrebenswert, und wenn jemand denkt, er habe jemanden beleidigen oder kränken wollen, da irrt derjenige sich gewaltig: Keiner kann behaupten, dieses Kind habe im Laufe seiner dreiundzwanzig Lebensjahre jemals irgendjemanden beleidigt. Das ist eine Ungerechtigkeit!«

Wer weiß, wie viel sie ihnen noch erzählen wollen würde, den Leuten, die uns beim Patriarchen Tbilissis in jenem Raum mit der vergilbten Tapete eingeschlossen hatten und mich mit vorgefertigten Dokumenten mit der Androhung des Kirchenausschlusses oder dem Angebot, als verlorener Sohn zurückzukehren, einschüchtern wollten.

An jenem Tag aber vernahm leider niemand jene Argumente, die meine Vortrefflichkeit bestätigt hätten, die nicht gesprochenen Worte der verzweifelten Großmütter gingen in den Drohungen des Patriarchats unter.

Das Wort »Sünde« war in aller Munde.

Sündenliste. Der Weg der heiligen Nino

Ende der 80er war ich – objektiv betrachtet – frei von Sünde.

Meine Mutter, die versuchte, mich zu körperlicher Aktivität zu mobilisieren (mit Rugby und Skifahren hatte sie bei mir keinen Erfolg gehabt – ich ging hauptsächlich zu den Sitzungen der in der Klasse gegründeten »Nationalen Freiheitspartei« oder widmete mich dem Fernsehen, das während Gorbatschows »Reformen« wiederbelebt worden war), machte mit mir ein eigenartiges, sportlich-religiöses Experiment: Sie schickte mich für drei Tage auf den »Weg der heiligen Nino«, unter Aufsicht meiner vierzehn Jahre älteren Tante.

Einer neuen Tradition folgend, die der Katholikos, Georgiens Patriarch, unter den Reformbedingungen eingeführt hatte, sollten die Leute, sollte die ganze neue Kirchgemeinde, jenen Weg gehen, den die christliche Missionarin der Georgier, die heilige Nino, im vierten Jahrhundert gegangen sein soll, vom Parawani-See in die alte Hauptstadt Mzcheta.

Das war eine große Strecke, ein großes Spektakel und ein großes Abenteuer, das mir weder gefiel noch mich reizte, aber damals hatte ich offenbar noch keine Ambitionen, mich gegen meine Mutter aufzulehnen, und konnte mich daher der dreitägigen Expedition nicht entziehen, zumal sie mich bat, diesen Gang auf dem Weg der heiligen Nino als kulturell-erkenntnisbringenden Spaziergang anzusehen und keinesfalls als sportlich-religiösen (weil ich das Wort »Sport« hasste). Sie belog mich und gaukelte mir vor, ich müsste nicht viel wandern (dabei war das Wandern der eigentliche Sinn der Sache), und falls ich dennoch viel wandern müsste (die Großmütter ereiferten sich, das Kind habe Plattfüße, ihm würden die Füße wehtun), würden sie mich mit dem Auto des Beichtvaters meiner Tante zurückholen (»der Beichtvater meiner Tante« – diese Worte wirkten therapeutisch auf mich). Meine Mutter erwähnte meinen Mitschüler (kein Mitglied unserer schulischen »Nationalen Freiheitspartei«, aber dennoch ein Klassenkamerad), der von seinem mit »Sünden beladenen« Vater auf den Weg der heiligen Nino mitgenommen worden war.

Aber es kam zur Katastrophe: Die Tante wandelte schon eine Woche lang auf dem Pfad, welchen die Heilige, zu der damaligen Zeit zwei Jahre älter als sie, gegangen war. Sie hatte sich unterwegs in Dorfschulen, Flüssen und Seen gewaschen (manchmal mit dem Wunsch oder Vorwand, sich erneut taufen zu lassen), aber dann hatte sie doch die Lust auf die heimische Dusche überkommen, sie hatte sich höflich bei ihrem Priester den Segen dafür geholt und war just in dem Moment nach Hause aufgebrochen, als ich mich – mich auf sie verlassend – zu ihr auf den Weg gemacht hatte.

Ich kam also an und kriegte zu hören: »Deine Tante ist fort. Hier ist nur die Kirchgemeinde.«

Ich war unter fremden Leuten und Geistlichen.

Natürlich weinte ich. Für meine elf Jahre unverhältnismäßig viel, und ich flehte den an, der mich hergebracht hatte (ebenjenen sündenbeladenen Vater meines Mitschülers), das Auto, mit dem wir gekommen waren, solle mich wieder mitnehmen, wenn es zurückführe. Es stellte sich aber heraus, dass dieses Auto (mitsamt seinem Fahrer) kein gewöhnliches Auto war, vielmehr musste es selbst eine Strecke auf dem Weg der heiligen Nino zurücklegen und würde erst dann zurückfahren (falls es den Segen bekäme, mit mir), wenn es mindestens um die zweihundert Kilometer zusammen mit den Betenden zurückgelegt hätte.

Aber wie sollte ich nun diese zweihundert Kilometer überleben und hinter mich bringen?

Das Angenehme war, dass alle mich beruhigten, auch mein Klassenkamerad, der mir unerwarteterweise gleich mitgeteilt hatte, er faste schon seit einem Monat und sei – was die Hauptsache war – noch nicht einmal in die Versuchung gekommen zu masturbieren.

Ich hatte sowieso nicht vermutet, dass er das überhaupt machte, denn ich selbst war in dieser Hinsicht vollkommen frei von Sünde. Wir waren elf, zwölf und ich hatte leichte Zweifel: War bei ihm etwa schon die Pubertät ausgebrochen? Weil ich zeichnen konnte, hatten mich meine Klassenkameraden manchmal gebeten, ich solle »Sex malen«, aber wie hätte ich denn etwas malen sollen, was ich nicht kannte? Ich versuchte es ein paarmal, aber alle bemängelten die Unglaubwürdigkeit meiner Bilder.

Jedenfalls stellte sich heraus, dass mein Klassenkamerad schon seine erste Beichte abgelegt und dem Geistlichen von seiner Hauptsünde erzählt hatte. Er hatte doch nicht etwa gelogen?

 

Über mangelnde Fürsorge konnte ich mich zumindest nicht beklagen – es schienen alle auf meiner Seite zu sein. Ich aß Fladenbrot, Käse und Tomaten, zeichnete Karikaturen, die mir beruhigende Aufmerksamkeit verschafften, und lauschte den fürsorglichen und rührenden Worten Vater Dawits, des Oberpriesters, was sich therapeutisch auf mein Selbstwertgefühl auswirkte. Ich war froh, dass dieser Mann, der hier die oberste Autorität darstellte, ausgesprochen viel Anteilnahme daran zeigte, dass meine Tante und ich uns so katastrophal verpasst hatten.

Er machte mir Mut genug, dass ich auf die Idee kam, im leeren, akustisch reizvollen Lehrerzimmer der Dorfschule, die von den Pilgern provisorisch als Nachtlager genutzt wurde, so etwas wie eine Arie zu singen (aus dem kürzlich im Hof aufgeführten »Faust«). Ich fühlte mich in dieser Umgebung schließlich sicher und überwand die Angst vor der Fremde, aber dass dies kein passender Ort für Unterhaltung war, darauf wies mich sofort ein junger rothaariger, unrasierter und pausbäckiger junger Mann hin (Vikarsanwärter nennt man solche Leute), indem er die Tür des Lehrerzimmers öffnete, mich aus trüben Augen anblickte und mit einer spröden, brüchigen Stimme einen Verweis aussprach, als wäre er gerade aufgewacht oder hätte lange nicht gesprochen: »Hier wird nicht gesungen, die Leute beten.«

Der rothaarige Mann (oder eher Junge, denn wie ein Erwachsener sah er nicht aus) hatte dunkle Augenringe, und man sah ihm an, dass er im Falle von Widerworten zu strengeren Ermahnungen fähig wäre. Genau wegen solchen »Fremden« wollte ich nicht bleiben. Scheinbar zurückhaltende, aber aggressive Unbekannte, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen.

Natürlich verstummte ich sofort. Der Rothaarige schloss die Tür.

Jetzt war ich wieder unerträglich einsam und schutzlos und wollte deshalb nicht mehr im Lehrerzimmer bleiben, ich öffnete die Tür und ging auf den Flur. Überall lagen Rucksäcke herum. An der Wand lehnten, die Schuhe ausgezogen, in sich selbst versunkene oder einfach nur müde Leute.

Unweit der Schule standen Hütten, die Dorffrauen saßen an den Zäunen und schauten mit einem Lächeln, das Unbehagen ausdrückt, zu dem Priester, der neben einem verrosteten Fußballtorpfosten hockte. Der arrogante Tonfall des Priesters schien den Provinzialismus der Frauen zu unterstreichen, salopp, aber gleichzeitig von oben herab machte er ihnen Vorwürfe: »Nun, wie oft habt ihr wohl eine Abtreibung machen lassen, habt ihr mitgezählt? Zwanzigmal? Vierzigmal?«

Ich wusste schon, was dieses Wort bedeutete, und hielt am Pfosten inne.

»Was gibt es da zu lachen? Ich frage euch ernsthaft!«

Es war noch zur Zeit der Sowjetunion, die Dorffrauen wussten noch nicht, dass Priester solche Fragen zu stellen pflegten. Sie fürchteten sich noch nicht vor deren Gott, hielten sich die schwieligen Finger vor die zahnlosen oder goldzahnbestückten Münder und lachten: »Was der Irre uns für Sachen fragt!«

Der Priester war für sie ein Verrückter.

Aber auch der Priester lächelte – er sprach mit Dorffrauen und wusste, dass er es mit der ungebildeten Sowjetmasse zu tun hatte, noch dazu in der Provinz, in einem meßchischen Dorf; ein Priester zählte zur Elite. So sah er sich selbst, besonders ihnen gegenüber.

»Ihr denkt, Abtreibung ist kein Mord? Marx und Engels können euch dann nicht helfen. Nun, welche von euch ist kirchlich getraut worden? Wer nur standesamtlich getraut ist, wird nicht als Ehefrau gelten, wisst ihr das nicht? So bleibt der Beischlaf sündhaft. Was, ihr glaubt, ich denke mir das aus? Was lacht ihr? Du da, hast du einen Mann?«, fragte er eine von ihnen. Die Frau lachte, winkte ab: »Mensch, lass mich doch in Ruhe.«

»Sag, hast du einen oder nicht?«

»Hat sie, hat sie!«, antworteten die anderen. »Sie hat zwei große Söhne.«

»Hat sie kirchlich geheiratet? Wenn man nicht kirchlich getraut worden ist, dann ist es Hurerei und Schluss. Ich traue dich, wenn du’s noch nicht bist.«

Die Frauen antworteten nicht mehr.

Schon zum zweiten Mal seit meiner Ankunft wurde ich Zeuge einer Geschlechterdiskussion: Erstens hatte mich mein Klassenkamerad wissen lassen, dass er einen Monat »nichts Schlechtes« getan hatte, nun sagte dieser Priester den Dorffrauen, sie seien Sünderinnen, weil sie Kinder geboren hatten, ohne kirchlich getraut worden zu sein. Mir war nicht klar, wer über wen lachte – die Frauen über den Priester oder der Priester über die Frauen?

»Das ist euch doch klar, oder?« Der Priester schaute in meine Richtung und dachte wahrscheinlich, er hätte viel Publikum, aber weil er außer mir niemanden sah, sagte er nur: »Wie soll man diese Leute nur aufklären, wohin soll das noch führen?« Und den Frauen rief er noch nach: »Glaubt ihr wenigstens an Gott?«

Seine Frage wurde vom Wind fortgetragen.

Der Priester stand seufzend auf, obwohl er eigentlich zu jung zum Seufzen war.

Mein Klassenkamerad, sein sündenbeladener Vater und ich übernachteten nicht in der Dorfschule, sondern in einem Bauernhaus, in dem für Gäste vorgesehenen, besonders gepflegten ersten Stock.

Nahezu alle Häuser in georgischen Dörfern haben einen solchen besonderen ersten Stock: Die Bauern selbst schlafen unten in einem kellerlochartigen Halbgeschoss, doch jeder fühlt sich verpflichtet, den ersten Stock möglichst wie einen Schlosssaal auszustatten. Unabdingbare Bestandteile dieses ersten Stocks sind ein muffiger Geruch, ein hohes Bett mit durchgelegenen dicken Matratzen und Schlummerrolle, ein glänzendes Klavier (mit Puppen darauf), auf dem niemand jemals spielt, ein ausziehbarer Tisch und Schwarz-Weiß-Fotos von den toten Eltern (oder Großeltern) an der Wand. Die Toten schauen üblicherweise vorwurfsvoll und finster von der Wand auf einen herab: Denen gefällt es nicht, wenn sich jemand auch nur für einen Tag im ersten Stock einquartiert.

In diesem Haus übernachtete auch mein Beschützer, der Oberpriester Vater Dawit; wenn er zum Abort auf dem Hof ging, übergab er mir ein an einer dicken Kette hängendes Kreuz und nahm es erst zurück, wenn er danach die vom Wasser nassen Hände am Bart abgewischt hatte.

»Sorgst du dich?«, fragte er, wartete jedoch meine Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: »Wir passen auf dich auf, keine Angst, du gehst nicht verloren.«

Ich sagte nichts, obwohl ich mir sehr wünschte, sie würden mir ein Auto organisieren und mich zurückbringen, nach Hause. Gut, dass ich nichts sagte, denn Vater Dawit teilte mir plötzlich eine wichtige Neuigkeit mit: »Morgen ist dein großer Tag, du sollst das Kreuz tragen und unserer Kirchgemeinde vorangehen.«

Ich sollte das Kreuz tragen?

Vater Dawit führte nicht näher aus, was er meinte, er ging zum Halbgeschoss, wo ihn ein Mädchenchor freudig erwartete.

»Vielleicht stellt er dich ganz vorn hin«, erklärte mir mein Klassenkamerad, »an die Spitze.«

Und tatsächlich, als sich die Menschen in Zehnergruppen zum Abmarsch bereit machten, überreichte mir Vater Dawit das ziemlich große hölzerne Andreaskreuz und sagte, ich solle langsamen Schrittes vorangehen.

»So wie du gehst, gehen auch wir«, sagte er.

Anscheinend gab es den Brauch, dass Kinder nach vorn gestellt wurden, auch wenn meine Mutter und meine Tante Vater Dawits Verhalten im Nachhinein mit seiner Beobachtungsgabe und seinen kinderpsychologischen Kenntnissen erklärten: Hätte er mich wie die anderen behandelt, hätte ich mich gelangweilt oder wäre müde geworden, so aber überwog die Begeisterung über die Verantwortung für das Kreuz.

Wie dem auch sei, mein Klassenkamerad hatte sich einen Monat lang zusammengerissen und keine Hand angelegt, und nun latschte er irgendwo hinten in der Masse mit, während mir die Ehre des Vorangehens zuteilwurde.

Es war unglaublich, aber mir folgten so viele Leute (den Weg wiesen mir natürlich die Priester, unter ihnen auch jener, der gestern die Dorffrauen belehren wollte), sogar der rothaarige Priesteranwärter, der mich im Lehrerzimmer wegen des Singens gerügt hatte. Nur wurde das Kreuz mit der Zeit ein bisschen schwer, und der Mönch hinter mir ermahnte mich ständig: »Halte es hoch, Junge, hoch. Dass es jeder sehen kann.« Ich begriff, dass Karikaturenzeichnen und lautes Singen völlig überflüssig gewesen waren, ich konnte anderweitig Aufmerksamkeit auf mich ziehen: Ich hatte das größte Kreuz und dachte, meine Eltern würden verblüfft sein, wenn sie davon erführen.

Das Kind trägt das Kreuz!

Den ganzen Weg hatte ich diese Vorstellung im Kopf, wie begeistert man in der Schule von meinem Auftritt sein würde, was die Mädchen aus der Klasse sagen würden, wie meiner superstrengen Deutschlehrerin der Mund offen stehen bliebe: »Wie, der hat mit dem Kreuz in der Hand das Heer der Gläubigen angeführt?!« Mit welchem Jubel mich die Leute in den nächstgelegenen Siedlungen, sagen wir, in Bordschomi, empfangen, wie mich unsere Führer der Nationalbewegung loben würden – Swiad Gamsachurdia und Merab Kostawa! Sicher hätte mich jener überhebliche Priester, der die Dorffrauen wegen der Abtreibungen beschämt hatte, aufgrund meiner hochmütigen Gedanken gescholten, aber eine Weile träumte ich davon, wie er zum Beispiel auf einer Demonstration einem als Nationalhelden geltenden Dissidenten bekannt gab, wir trügen jetzt aufs Neue das Christentum nach Georgien. »Schauen Sie sich diesen Jungen mit dem Kreuz an!« Ich stellte mir vor, welche Ovationen seiner lauten Verkündung folgen würden. Wir würden uns mit der Demonstration zusammenschließen, ich würde an in Decken eingewickelten Hungerstreikenden vorbei die Stufen emporsteigen und mich mit meinem Kreuz neben die Fahnenträger stellen, meinen Blick über den Pöbel nach hinten zu den Mädchen aus meiner Klasse schweifen lassen, die verliebt von unten zu mir aufschauen würden. Ganz besonders die eine, die ich stumm fragen würde: »Bestimmt bereust du jetzt, dass du mich nicht zum Geburtstag eingeladen hast, stimmt’s?«

Unterwegs tauften die Priester Leute im Mtkwari. In einem der Dörfer, schon kurz vor Bordschomi, hatten Mitglieder unserer Kirchgemeinde eine Diskussion mit irgendeinem bedeutenden Intellektuellen, und es fehlte nicht viel und ein beflissener Oberpriester hätte ihn geschnappt und mit Gewalt zum Fluss geschleppt. Der Heide stellte sich als Physiker heraus, der zusammen mit Frau und Kind in der Nähe von Bordschomi Urlaub machte. Mit ein wenig eigenartigem und blödem Trotz rief er, dass selbst wenn er an die Existenz von Göttern glauben würde, dann nur an die von altgeorgischen, und er behauptete allen Ernstes, das Bekenntnis zum Dali[1]-Kult sei wesentlich wichtiger für das Selbstverständnis der Georgier als der orthodoxe Glaube: »Gerade erwacht der Nationalismus in uns, und deshalb brauchen wir auch einen nationalen Glauben, das ist besser für unser Land!«

Der Heide trug eine Brille mit dicken Gläsern (so eine, die jeder Durchschnittsphysiker Ende der Sowjet-80er hatte) und ein abgetragenes weißes Hemd, unter dem ein lumpiges ärmelloses Unterhemd zu erkennen war. Neben ihm stand eine junge Frau, die Ehefrau, ein zwei- bis dreijähriges Kind auf dem Arm, die verängstigt den skandalösen, patriotischen Ausführungen ihres heidnischen Gatten lauschte. Die Frau merkte, dass ihr Mann möglicherweise bald Prügel beziehen würde.

»Wodurch sollte sich ein Georgier in der heutigen Welt von anderen Nationen abheben? Nur durch die Sprache? Die Schrift? Seine Traditionen?«, fragte der Heide den Oberpriester, der die Diskussion mit ihm vom Zaun gebrochen hatte. »Das reicht nicht. Die Georgier sollten ein vorzeigbares Pantheon der Götter haben, wie wir es schon mal hatten. Natürlich sollte es die Orthodoxie geben, aber warum nicht auch einen Dali-Tempel? Was ist falsch an Armasi[2] – und am Armasi-Kult?«

Der Heide spielte mit dem Feuer: Er diskutierte über den Armasi-Kult mit den Leuten, die einen Monat lang dem Weg jener Heiligen folgten, die ebendiesen Kult zerschlagen hatte.

»Er ist besessen«, sagte jemand.

»Das waren Götzen, sollen die Georgier etwa Satan preisen und ihrer eigenen Religion abschwören?«, schrie ihn der Oberpriester an.

»Man sollte preisen, wen man will, und Religionsfreiheit haben: Man kann in die Kirche gehen oder in die Armasi-Tempel. Für die Welt wäre das interessant zu sehen, sie würden sagen: Wie seltsam, diese historische Nation scheint einen eigenen alten Glauben zu haben.«