Unbestreitbare Wahrheit

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Und diese verrückte Lady gab nicht auf. Sie fasste durch das Fenster und zerkratzte mir mit ihren langen Nuttennägeln das Gesicht. Man fuhr uns zu der Wache im Stadtzentrum. Als wir wegfuhren, sah ich, wie uns die Typen aus Bed Stuy, die all diesen Scheiß angestellt hatten, von der Straße aus nachschauten. Ich war bereits viele Male festgenommen worden, und so war ich an das Ritual gewöhnt. Doch auf der Wache studierte man mein Strafregister; ich hatte entschieden zu viele Verhaftungen aufzuweisen. Somit wurde ich ohne Umschweife nach Spofford gebracht, ein Jugendgefängnis im Hunts-Point-Viertel der Bronx. Ich hatte Horrorgeschichten über Spofford gehört – wie Menschen von anderen Insassen oder von den Wärtern verprügelt wurden, also war ich nicht gerade begeistert von der Aussicht, dort zu landen. Ich bekam Kleider und eine Einzelzelle und legte mich schlafen. Am nächsten Morgen ergriff mich Panik, ich hatte keine Ahnung, was mich hier erwarten würde. Aber als ich die Cafeteria betrat, wo es Frühstück gab, war es wie ein Klassentreffen. Ich entdeckte meinen Freund Curtis, mit dem ich einen Bruch gemacht hatte und der vom Besitzer verprügelt worden war. Dann sah ich all meine verschiedenen Partner von Raubzügen.

„Entspann dich“, sprach ich zu mir selbst. „All deine Jungs sind hier.“

Nach diesem ersten Mal ging ich in Spofford ein und aus, als wäre es ein Spaziergang. Spofford wurde für mich zur Zweitwohnung. Bei einem meiner Aufenthalte dort sahen wir uns im Versammlungsraum einen Film an mit dem Titel Der Größte. Er handelte von Muhammad Ali. Danach klatschten wir alle, trauten aber dann unseren Augen nicht, als Ali höchstpersönlich auf die Bühne trat. Er sah in Wirklichkeit größer aus. Er brauchte noch nicht einmal den Mund zu öffnen – sobald er in Erscheinung trat, dachte ich: „Ich will dieser Typ sein.“ Er unterhielt sich mit uns, und es war sehr inspirierend. Ich hatte keine Vorstellung, was ich mit meinem Leben anstellen wollte, aber ich wusste, ich wollte so sein wie er. Es ist seltsam, aber heute sagen die Menschen so etwas nicht mehr. Wenn sie einen großen Boxer sehen, sagen sie vielleicht: „Ich will Boxer werden.“ Aber niemand sagt: „Ich will sein wie er.“ Es gibt nicht viele Alis. In diesem Augenblick beschloss ich, berühmt zu werden. Ich wusste nicht, was ich dafür tun musste, aber ich beschloss, die Menschen sollten mich so kämpfen sehen, genauso wie Ali.

Ganz so einfach war es dann aber doch nicht. Ich kam jetzt nicht aus Spofford raus und krempelte mein Leben nicht total um. Ich war immer noch eine kleine Kanalratte.

Meine Lage zu Hause verschlechterte sich immer mehr. Nach all diesen Festnahmen und Spezialschulen und Medikamenten hatte meine Mutter jegliche Hoffnung, was mich betraf, aufgegeben.

Ich erlebte nie, dass meine Mutter mit mir glücklich oder stolz auf mich war. Ich bekam nie die Chance, mit ihr zu reden oder mehr über sie zu erfahren. „Beruflich“ hatte dies keine Folgen für mich, aber emotional und psychisch war es vernichtend für mich. Wenn ich mit meinen Freunden zusammen war und deren Mütter vorbeischauten, bekamen sie einen Kuss von ihnen. Ich wurde von meiner Mutter nie geküsst. Da mich meine Mutter bis zum 15. Lebensjahr in ihrem Bett schlafen ließ, hätte man annehmen können, sie würde mich mögen, dabei war sie die ganze Zeit nur betrunken.

Da ich jetzt im Justizvollzugssystem eingebettet war, beschloss das Gericht, mich in eine Wohngruppe zu stecken, um mich auf den rechten Weg zu bringen. Man nahm einen Haufen fertiger Kids, missbrauchter Kids, böser Kids und Psychokids und steckte sie in irgendein Heim, dessen Personal von der Regierung dafür bezahlt wurde, uns hereinzulegen. Dort herrschte ein regelrechtes Gedränge. Ich hielt es da nie länger als zwei Tage aus und lief immer wieder weg. Einmal steckte man mich in ein Heim in Brentwood, Long Island. Ich rief zu Hause an, quengelte und jammerte meiner Mutter vor, dass ich kein Gras habe. Also beauftragte sie Rodney, mir welches zu besorgen. Sie war immer eine Vermittlerin.

Schließlich wurde ich nach Mount Loretto geschickt, einer Einrichtung auf Staten Island. Aber nichts und niemand konnte andere Menschen aus uns machen. Jetzt bestahlen wir halt die Jungs auf der Staten-Island-Fähre. Allerdings weiß man nie, wen man bestiehlt. Manchmal raubt man den Falschen aus, einen widerlichen Dreckskerl, der dann sein Geld zurückverlangt und alle verrückt macht.

„Wer hat mir mein verdammtes Geld geklaut?“, schrie er.

Er fing an, auf jeden einzuprügeln, sämtliche Passagiere mussten diesen Dreckskerl überwältigen. Mein Freund war derjenige, der ihn beklaut hatte, und der Kerl versetzte ihm einen Tritt in den Arsch, aber er wusste nicht, dass er der Täter war. Wir gingen von Bord und lachten uns ins Fäustchen, weil wir das Geld hatten. Sogar mein Freund lachte unter Tränen, denn er hatte immer noch Schmerzen. Hätte dieser Kerl gewusst, dass wir das Geld haben, hätte er uns vom Schiff geworfen. Wenn ich darüber nachdenke, was für ein Leben ich führte, wird mir heiß und kalt. Oh Gott, er hätte uns tatsächlich umgebracht, denn er war der Typ dafür.

Anfang 1978 wurde ich aus der Einrichtung auf Staten Island entlassen und kehrte nach Brownsville zurück. Immer wieder erfuhr ich, dass Freunde von mir wegen Banalitäten wie Schmuckraub oder wegen ein paar 100 Dollar getötet wurden. Das machte mich doch etwas nachdenklich, dennoch hörte ich nicht auf, Brüche zu machen und zu stehlen. Ich beobachtete die älteren Jungs, die meine Vorbilder waren, erlebte ihren Aufstieg, aber auch, wie sie auf der Straße lagen. Ich beobachtete, wie sie gnadenlos verprügelt wurden, denn diese Jungs waren ständig damit beschäftigt, andere zu beklauen. Aber sie hörten nie damit auf, es lag ihnen im Blut.

Mein Umfeld wurde immer bedrohlicher, und ich wurde immer mehr gehasst. Ich war gerade elf und schlenderte manchmal durch unsere Gegend, nur auf mich bedacht, und die Hausbesitzer oder Geschäftsinhaber entdeckten mich und warfen mit Steinen nach mir.

„Du verdammter dreckiger Dieb“, brüllten sie.

Sie sahen mich in meinen schicken Klamotten und wussten, dass ich der Nigga war, der sie bestahl. Eines Tages kam ich an einem Gebäude vorbei und blieb stehen, um mich mit einem Freund zu unterhalten, als ein Kerl namens Nicky mit einer Schrotflinte und ein Freund von ihm mit einer Pistole aus dem Haus stürmten. Sein Freund richtete die Pistole auf meinen Kopf und Nicky die Schrotflinte auf meinen Penis.

„Hör zu, du dreckiger kleiner Nigga, wenn ich höre, dass du wieder auf diesem verdammten Dach warst, blase ich dir das Licht aus. Und wenn ich dich je wieder hier sehe, schieß ich dir die Eier ab“, drohte er mir.

Ich hatte keine Ahnung, wer zum Teufel dieser Kerl war, aber anscheinend kannte er mich. Können Sie sich vorstellen, dass man mit einem Kind so spricht und es so behandelt?

Ein paar Monate vor meinem 13. Geburtstag, wurde ich erneut wegen des Besitzes von Diebesgut festgenommen. Inzwischen wusste man nicht mehr, wo man mich hinschicken sollte, da man alle Institutionen um New York City herum ausprobiert hatte. Ich weiß nicht, welchen wissenschaftlichen Diagnosetest sie anwandten, doch man beschloss, mich zur Tryon School for Boys zu schicken, einer Einrichtung im Hinterland von New York, etwa eine Stunde nordwestlich von Albany. Das war eine Einrichtung für jugendliche Straftäter.

Meine Mutter war froh, dass ich aus New York verschwand, denn zu der Zeit kreuzten jede Menge erwachsener Männer bei uns auf und suchten nach mir.

„Dein Bruder ist Abschaum, ich werde ihn umbringen“, erklärten sie meiner Schwester.

„Er ist doch noch ein Kind“, protestierte diese. „Er hat Ihnen ja nicht die Frau oder so weggenommen.“

Stellen Sie sich vor, erwachsene Männer kommen zu Ihnen nach Hause und suchen nach Ihnen, obwohl Sie erst 12 sind. Ist das nicht Scheiße? Kann man es meiner Mutter verübeln, dass sie in Bezug auf mich jegliche Hoffnung aufgegeben hatte?


Die Tatsache, dass man mich in eine staatliche Besserungsanstalt schickte, war keineswegs cool, denn dort war ich mit den großen Jungs zusammen. Sie waren weitaus abgefuckter als die Jungs in Spofford. Aber Tyron war gar nicht so übel. Es gab hier jede Menge Cottages, und man konnte draußen herumspazieren, Basketball spielen und in die Sporthalle gehen. Ich jedoch bekam mal wieder sofort Schwierigkeiten. Ich war die ganze Zeit über schlecht gelaunt und einfach mies drauf, war streitsüchtig und band jedem auf die Nase, dass ich aus Brooklyn stamme und keine Lust habe, mich mit irgendeinem Bullshit abzugeben.

Eines Tages spazierte ich zu einer Unterrichtsstunde, als mir ein fremder Kerl begegnete. Er gab sich ganz taff, als ob er ein Killer wäre. Als er an mir vorbeiging, sah er, dass ich meine Mütze in der Hand hielt. Im Vorbeigehen zerrte er daran. Ich kannte ihn nicht, aber er zollte mir keinen Respekt. Als ich im Unterricht saß, grübelte ich volle 45 Minuten darüber nach, wie ich diesem Kerl dafür, dass er an meiner Mütze herumgezerrt hatte, den Garaus machen könnte. Als der Unterricht zu Ende war, ging ich hinaus und entdeckte ihn und seine Freunde an der Tür.

Den Kerl kaufe ich mir, dachte ich, und trat auf ihn zu. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und sah mich an, als könne er kein Wässerchen trüben. Deshalb griff ich ihn nicht besonders heftig an.

Man legte mir dann Handschellen an und schickte mich nach Elmwood, einem abgeriegelten Cottage für unverbesserliche Kids. Elmwood war das Letzte, und die Wärter waren echte Schläger. Die Typen von Elmwood sah man nur in Handschellen und in Begleitung von zwei Männern.

 

An den Wochenenden verschwanden alle Kids von Elmwood, die sich einwandfrei verhalten hatten, für ein paar Stunden. Sie kehrten mit gebrochenen Nasen, kaputten Zähnen, geplatzten Lippen und gebrochenen Rippen heim – sie waren in einem erbärmlichen Zustand. Ich nahm an, sie seien vom diensthabenden Personal so vermöbelt worden, zu der Zeit kam niemand auf die Idee, sich an die Gesundheitsbehörde oder den Sozialdienst zu wenden. Aber je intensiver ich mich mit diesen schlimm zugerichteten Kids unterhielt, desto bewusster wurde mir, dass sie keineswegs unglücklich waren.

„Verdammt, fast hätten wir ihn drangekriegt“, lachten sie. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinten, und dann klärten sie mich auf. Sie kämpften gegen Mr. Stewart, einen der Gefängnisberater. Bobby Stewart war ein robuster Ire, ungefähr 77 Kilo schwer, ein ehemaliger Profiboxer und Amateurmeister.

Als ich im Loch saß, erzählte man mir, dass ein ehemaliger Box-Champion den Kids beibringe, wie man kämpfe. Die Mitarbeiter, die mir von ihm erzählten, waren sehr nett zu mir, und so wollte ich ihn kennenlernen, weil ich glaubte, er wäre es auch. Ein paar Wochen später, als ich wieder in meinem Zimmer war, klopfte es laut und kräftig an die Tür. Ich öffnete, und Mr. Stewart stand vor mir.

„Hi, Arschloch, du willst mich sprechen?“, brummte er.

„Ich will Boxer werden“, erwiderte ich.

„Das wollen die anderen Jungs auch. Aber sie haben nicht den Mumm, daran zu arbeiten“, erwiderte er. „Wenn du dein Strafregister in Ordnung bringst, dich nicht wie ein Arschloch aufführst und etwas mehr Respekt zeigst, arbeite ich vielleicht mit dir.“

Ich gab mir wirklich alle Mühe. Was schulische Leistungen betraf, war ich weit und breit die größte Niete, aber für einen ehrenvollen Platz auf der Liste sagte ich jetzt brav „Ja, Sir“ und „Nein, Ma’am“ und benahm mich wie ein Musterschüler, um mit Stewart trainieren zu dürfen. Ich benötigte einen Monat, um genug Pluspunkte zu sammeln, um boxen zu dürfen. Alle Kids versammelten sich, um zu sehen, ob es mir gelang, ihn zu besiegen. Ich war überaus zuversichtlich, dass ich ihn besiegen würde, und dann würden alle vor mir kriechen.

Sofort fing ich an, wild auf ihn einzuschlagen, ihn mit Hieben zu traktieren, und er ging in Deckung. Ich bearbeitete ihn mit Schlägen und Hieben. Doch plötzlich schlüpfte er an mir vorbei und rammte mir seine rechte Faust in den Magen.

Booosh, uggghh. Mir kam mein gesamtes Essen der letzten beiden Jahre hoch.

Zu der Zeit hatte ich noch keine Ahnung vom Boxen. Heute weiß ich, dass man ein paar Sekunden lang keine Luft bekommt und außer Gefecht gesetzt ist, wenn man einen Fausthieb in den Magen bekommt. Aber das legt sich, was ich damals noch nicht wusste. Ich dachte allen Ernstes, ich würde nie wieder atmen können und sterben. Ich versuchte verzweifelt, Luft zu holen, aber ich konnte lediglich kotzen. Es war grauenhaft.

„Steh auf und hör auf damit!“, bellte er.

Nachdem alle gegangen waren, näherte ich mich ihm in aller Demut. „Entschuldigen Sie, Sir, können Sie mir bitte beibringen, wie ich das richtig mache?“, fragte ich. Ich malte mir aus, dass ich irgendeinem Dreckskerl einen solchen Fausthieb in den Magen verpassen würde, wenn ich wieder in Brownsville wäre. Dieser würde dann zu Boden gehen, und ich hätte ihn besiegt. Genau das ging mir im Kopf rum.

Irgendwie mochte mich Mister Stewart, denn nach unserer zweiten Sitzung sagte er zu mir: „Willst du das wirklich ernsthaft betreiben?“ Also fingen wir an, regelmäßig zu trainieren. Nach unserem Training übte ich später in meinem Zimmer die ganze Nacht lang Schattenboxen. Ich wurde immer besser. Damals wusste ich es noch nicht, aber während einer unserer Sparring-Sessions verpasste ich Bobby einen Schlag, der ihm die Nase brach und ihn fast k.o. geschlagen hätte. Er pausierte eine Woche lang, um seine Nase ausheilen zu lassen.

Nach ein paar Monaten Training rief ich meine Mutter an und reichte ihm den Hörer. „Sag’s ihr, bitte“, drängte ich ihn. Ich wollte, dass er ihr erzählte, wie gut ich mich schlug. Ich wollte einfach, dass sie wusste, dass ich etwas auf die Beine stellte. Ich dachte mir, sie glaube mir eher, wenn ein Weißer es ihr sagt. Aber sie erklärte ihm lediglich, dass sie kaum glauben könne, dass ich mich geändert hätte, und fand, ich sei unverbesserlich.

Kurz danach kam Bobby zu mir, denn er hatte eine Idee. „Ich will dich mit dem legendären Boxtrainer Cus D’Amato zusammenbringen. Er kann dich ein Stück weiterbringen.“

„Was zum Teufel geht hier vor?“, fragte ich. Damals war Bobby Stewart der Einzige, dem ich traute. Und nun wollte er mich an jemand anderen weiterreichen?

„Vertrau diesem Mann“, erklärte er mir.

An einem Wochenende im März 1980 fuhren Bobby und ich nach Catskill, New York. Cus’ Trainingshalle war ein umgebauter Versammlungsraum und befand sich über der städtischen Polizeiwache. Da es keine Fenster gab, kam das Licht von ein paar altmodischen Lampen. An den Wänden hingen Poster und Zeitungsausschnitte von erfolgreichen Jungs aus der Umgebung.

Cus sah genauso aus, wie ein hartgesottener Boxtrainer aussehen sollte. Er war klein und stämmig, weißhaarig und strahlte Stärke aus. Aber er blickte sehr ernst und zeigte keinerlei Lächeln.

„Hallo, wie geht’s? Ich bin Cus“, stellte er sich mit starkem Bronx-Akzent vor. Teddy Atlas, ein jüngerer Trainer, war ebenfalls anwesend.

Bobby und ich gingen in den Ring und begannen mit dem Sparring. Ich ging gleich ins Volle, jagte Bobby durch den Ring. Gewöhnlich absolvierten wir drei Runden, aber mitten in der zweiten Runde versetzte mir Bobby ein paar rechte Haken auf die Nase, und ich fing an zu bluten. Es tat nicht wirklich weh, doch mein Gesicht war blutverschmiert.

„Das reicht“, meinte Atlas.

„Sir, bitte, lassen Sie mich die Runde beenden und noch eine weitere kämpfen. Das ist unser Ritual“, bettelte ich, denn ich wollte Cus beeindrucken.

Und ich glaube, es gelang mir. Als wir den Ring verließen, sagte Cus zu Bobby: „Er hat das Zeug zu einem Weltmeister im Schwergewichtsboxen.“

Nach dieser Sparring-Session gingen wir zu Cus nach Hause zum Lunch. Er wohnte in einem großen viktorianischen Haus auf einem vier Hektar großen Grundstück. Von der Veranda aus konnte man auf den Hudson River blicken. An der Seite des Hauses wuchsen große Ahornbäume und üppige Rosenbüsche. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie ein solches Haus gesehen.

Wir nahmen Platz, und Cus meinte, er könne kaum glauben, dass ich erst 13 sei. Und dann malte er mir meine Zukunft aus. Er hatte mich ja kaum sechs Minuten kämpfen sehen, aber alles klang ganz überzeugend aus seinem Mund.

„Du hast eine blendende Figur abgegeben“, sagte er. „Du bist ein großer Boxer.“ Und er überschüttete mich mit Komplimenten. „Wenn du auf mich hörst, kann ich aus dir den jüngsten Schwergewichts-Boxer aller Zeiten machen.“

Fuck, wie konnte er einen solchen Scheiß verzapfen? Ich hielt ihn für einen Perversen. In der Welt, aus der ich kam, geben die Leute solchen Bullshit von sich, wenn sie dir einen blasen wollen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Noch nie zuvor hatte jemand etwas Nettes über mich gesagt. Ich wollte gern bei dem alten Knaben bleiben, denn er vermittelte mir ein gutes Gefühl. Später erkannte ich, dass das Cus’ Masche war. Man redet einem schwachen Mann ein, stark zu sein, und dieser wird süchtig danach.

Auf der Rückfahrt nach Tyron konnte ich mich kaum beruhigen. Ich saß da mit einem Rosenstrauß von Cus auf dem Schoß. Ich hatte noch nie echte Rosen gesehen, immer nur im Fernsehen, aber ich wollte unbedingt welche haben, weil sie so exquisit aussahen. Ich hatte ihn gefragt, ob ich welche mitnehmen dürfe, weil ich etwas Schönes mit zurücknehmen wollte. Die Rosen dufteten wunderbar und Cus’ Worte klangen mir noch in den Ohren. Es kam mir vor, als ob sich die ganze Welt plötzlich verändert hätte, und in diesem Moment wusste ich, dass aus mir noch was werden würde.

„Ich glaub, er mag dich“, sagte Bobby. „Wenn du kein Scheißkerl und kein Arschloch bist, wird es gutgehen.“ Bobby freute sich offensichtlich für mich.

Ich kehrte in mein Cottage zurück und stellte die Rosen in eine Vase. Cus hatte mir eine riesige Box-Enzyklopädie mitgegeben, die ich mir anschauen sollte, und ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun, denn ich las das Buch in einem Zug durch. Ich erfuhr von Benny Leonard, Harry Greb und Jack Johnson. Das hat mich echt aufgeputscht. Ich wollte sein wie sie, sie schienen sich an keine Regeln zu halten. Sie arbeiteten hart, aber dann gab es auch Phasen, in denen sie es sich gutgehen ließen, und sie wurden wie Götter verehrt.

Ich fing an, jedes Wochenende zum Training zu Cus zu gehen. Erst trainierte ich mit Teddy in der Sporthalle, und dann ging ich zu Cus. Er lebte mit Camille Ewald, einer reizenden Ukrainerin, zusammen. In ihrem Haus wohnten auch noch andere Boxer. Als ich das erste Mal dorthin ging, klaute ich Geld aus Teddys Geldbörse. Solche Gewohnheiten gibt man nicht einfach auf, nur, weil sich etwas Gutes auftut. Ich brauchte schließlich Geld für Gras. Ich hörte, wie Teddy zu Cus sagte: „Er muss es gewesen sein.“

„Nein, er war es nicht“, widersprach Cus.

Der Boxsport törnte mich an, und nachdem ich bei Cus den ersten Kampf von Leonard gegen Durán im Fernsehen verfolgt hatte, war ich mir sicher, dass ich Boxer werden wollte. Wow, dieser Kampf war unglaublich aufregend, ich war ganz geschafft. Beide waren sehr elegant, aber auch gefährlich wie Raubtiere, und ihre Schläge erfolgten blitzschnell. Ihr Kampf wirkte fast so, als folgte er einer Choreografie. Ich war fasziniert.

Als ich Cus das erste Mal in seinem Haus besuchte, ließ er nicht zu, dass ich boxte. Nach meinem Training mit Teddy setzte sich Cus mit mir zusammen, und wir unterhielten uns. Er redete mit mir über meine Gefühle und Empfindungen und über die Boxpsychologie. Er wollte mein Innerstes erforschen. Wir sprachen viel über die spirituellen Gesichtspunkte des Sports. „Wenn du nicht den geistigen Krieger in dir spürst, wirst du nie ein Kämpfer werden. Mir ist egal, wie groß oder stark du bist“, erklärte er mir. Wir unterhielten uns über ziemlich abstrakte Vorstellungen, doch er drang zu mir durch. Cus sprach meine Sprache. Er war ein Straßenkind wie ich und auch in einem asozialen Milieu aufgewachsen.

Als Erstes sprach Cus mit mir über Angst, und wie man diese überwindet.

„Die Angst ist das größte Lernhindernis, ist aber auch dein bester Freund. Die Angst ist wie Feuer. Wenn du lernst, sie unter Kontrolle zu halten, lässt du sie für dich arbeiten. Wenn du nicht lernst, sie zu kontrollieren, wird sie dich und alles um dich herum zerstören. Du kannst auf einem Hügel einen Schneeball in die Hand nehmen und werfen oder sonst was damit machen, bevor er den Hügel hinunterrollt. Wenn er erst am Rollen ist und immer größer wird, wird er dich zu Tode quetschen. Genauso verhält es sich mit der Angst. Man darf nie zulassen, dass die Angst immer größer wird, man muss sie immer unter Kontrolle haben. Wenn es dir nicht gelingt, wirst du nicht in der Lage sein, dein Ziel zu erreichen oder dein Leben zu retten.“

„Stell dir ein Reh vor, das ein offenes Feld überquert. Als es sich dem Wald nähert, wittert es plötzlich Gefahr, vielleicht befindet sich ein Puma in der Nähe. Wenn das der Fall ist, tritt die natürliche Überlebensstrategie in Aktion, was bedeutet, dass Adrenalin ins Blut ausgeschüttet wird, sodass das Herz schneller schlägt. Dies hat zur Folge, dass der Körper zu außerordentlichen Leistungen an Beweglichkeit und Stärke fähig ist. Normalerweise kann ein Reh vier Meter weit springen, aber durch das Adrenalin schafft es das Drei- oder Vierfache, um der drohenden Gefahr zu entrinnen. Beim Menschen verhält es sich nicht anders. Wenn er Gefahr wittert oder Angst hat, beschleunigt das Adrenalin den Herzschlag und treibt den Menschen zu Höchstleistungen.“

„Mike, glaubst du, du kennst den Unterschied zwischen einem Helden und einem Feigling? Nun, bezüglich ihrer Empfindungen besteht kein Unterschied, sondern in dem, was sie tun. Der Held und der Feigling empfinden genau das Gleiche, aber du musst die Disziplin besitzen, das zu tun, was ein Held tut, und darfst nicht wie ein Feigling handeln.“

„Mike, dein Verstand ist nicht dein Freund, ich hoffe, du weißt das. Du musst trotzdem mit dem Kopf kämpfen, ihn kontrollieren, richtig einsetzen. Du musst auch deine Emotionen unter Kontrolle halten. Erschöpfung im Ring ist zu 90 Prozent psychologisch bedingt. Sie dient einem Mann, der aufgeben will, als Entschuldigung. Die Nacht vor einem Kampf tust du kein Auge zu. Denk dir nichts dabei, deinem Gegner geht es genauso. Du trittst zum Wiegen an, und er sieht viel größer aus als du, wirkt eiskalt, wird aber innerlich von Angst verzehrt. Deine Fantasie spricht ihm Fähigkeiten zu, die er gar nicht hat. Denk daran: Bewegung löst Spannung. Wenn dann der Gong ertönt und du deinem Gegner entgegentrittst, wirkt dieser plötzlich wie jeder andere auch, denn deine Fantasie ist ausgeschaltet. Der Kampf als solcher ist die einzige Wirklichkeit, die zählt. Du musst lernen, deinen Willen durchzusetzen und das alles unter Kontrolle zu haben.“

 

Ich konnte Cus stundenlang zuhören. Er erklärte mir, wie wichtig es sei, intuitiv und sachlich zu handeln, auf eine entspannte Art, und nicht zuzulassen, dass die Emotionen die Oberhand über die Intuition gewannen. Er berichtete mir, er habe einmal mit dem großen Schriftsteller Norman Mailer darüber gesprochen.

„Cus, ohne es zu wissen, praktizierst du Zen“, hatte dieser Cus erklärt und ihm ein Buch mit dem Titel Zen und die Kunst des Bogenschießens gegeben. Cus las mir häufig aus dem Buch vor. Er erzählte mir, dass er bei seinem ersten Kampf tatsächlich höchsten emotionalen Abstand erlebt habe. Er trainierte in einer Turnhalle in der Stadt, weil er Profiboxer werden wollte. Er hatte bereits ein oder zwei Wochen mit dem Sandsack trainiert, als der Manager ihn fragte, ob er einen Boxpartner haben wolle. Er trat in den Ring, und sein Herz schlug wie wild. Sein Gegner griff ihn sofort an, und er wurde mit Schlägen traktiert. Seine Nase schwoll an, sein Auge zu, und er blutete. Sein Gegner fragte ihn, ob er eine zweite Runde machen wolle, und Cus meinte, er werde es versuchen. Er trat in den Ring, und plötzlich war sein Geist von seinem Körper losgelöst. Er beobachtete alles aus der Distanz. Die Schläge, die ihn trafen, fühlten sich an, als kämen sie von weither. Er war sich wohl ihrer bewusst, aber sie schmerzten ihn kaum.

Cus erklärte mir, dass man, um ein großer Boxer zu sein, aus sich selbst heraustreten müsse. Er ließ mich Platz nehmen und sagte: „Transzendiere. Fokussiere. Entspann dich, bis du siehst, wie du dich selbst beobachtest. Sag mir, wenn du so weit bist.“ Das war sehr wichtig für mich. Im Allgemeinen neige ich dazu, zu emotional zu reagieren. Später erkannte ich, dass ich im Ring nur wild um mich schlagen würde, wenn ich mich dort nicht von meinen Gefühlen lösen könnte. Nachher würde ich einem Gegner noch einen harten Faustschlag verpassen, es dann aber mit der Angst zu tun bekommen, wenn er nicht zu Boden ging.

Cus trieb diesen Aus-dem-Körper-herausgehen-Scheiß noch einen Schritt weiter. Er trennte seinen Geist von seinem Körper und blickte dann in die Zukunft. „Alles wird ruhig, und ich befinde mich außerhalb meines Körpers und beobachte mich“, berichtete er. „Ich bin’s, aber bin’s auch wieder nicht, als ob mein Geist und mein Körper nicht miteinander verbunden wären. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie ein Film abläuft. Ich kann das alles wirklich sehen, kann einen Boxer am Anfang des Kampfes sehen und genau beobachten, wie er reagieren wird. Wenn das passiert, kann ich sehen, wie ein Typ boxt, und ich weiß alles über ihn, was man wissen muss, ich kann sogar seine Gedanken lesen. Es ist ein Gefühl, als sei ich dieser Typ, denn ich bin in seinen Körper geschlüpft.“

Er behauptete sogar, er könne mittels seines Geists Ereignisse kontrollieren. Cus hatte Rocky Graziano trainiert, als der noch Amateur war.

Einmal war Cus in Rockys Ecke, und Rocky erlitt eine Schlappe. Nachdem Rocky zweimal zu Boden gegangen war, kehrte er in die Ecke zurück und wollte aufgeben. Aber Cush drängte ihn, zur nächsten Runde anzutreten, und bevor Rocky aufgeben konnte, setzte Cus all seine Willenskraft ein, um Rockys Arm dazu zu bringen, einen Schlag zu landen, und es funktionierte, der Gegner ging zu Boden, und der Ringrichter beendete den Kampf. Das war also das Schwergewicht, das mich trainierte.

Cus glaubte fest an diese Einheit von Geist und Körper. Wenn man Schwergewichtsweltmeister im Boxen werden wollte, musste man anfangen, das Leben eines Schwergewichtschampions zu führen. Damals war ich erst 14, und noch ganz unten. Ständig trainieren, denken wie ein römischer Gladiator, sich geistig in einem ständigen Kriegszustand befinden, aber nach außen hin ruhig und entspannt wirken – darauf kam es an.

Cus war auch groß in Sachen Eigenmotivation. Er besaß ein Buch des französischen Apothekers und Psychologen Emile Coué: Autosuggestion: Wie man die Herrschaft über sich selbst gewinnt. Coué erklärte seinen Patienten, sich immer wieder vorzusagen: „Ich werde jeden Tag in jeder Beziehung besser und besser“ – immer wieder. Cus hatte an einem Auge den grauen Star, wiederholte sich diesen Satz immer wieder und behauptete, dies funktioniere.

Cus wollte, dass wir die Eigenmotivation unserer jeweiligen Situation anpassten. Also ließ er mich formulieren: „Ich bin der beste Boxer der Welt. Niemand kann mich schlagen. Der beste Boxer der Welt. Niemand kann mich schlagen“ – immer und immer wieder. Ich tat es gern und hörte mich gern über mich reden.

Das Ziel all dieser Techniken bestand darin, dem Boxer Selbstvertrauen einzuflößen. Aber um dieses Selbstvertrauen zu bekommen, musste man sich selbst testen und durfte sich nicht verstecken. Dieses Gefühl entsteht nicht durch Osmose und kommt nicht aus der Luft. Es entsteht, wenn man konsequent dieses Bild im Kopf visualisiert, um das Selbstvertrauen aufzubauen, das man anstrebt.

In den ersten Wochen mit Cus machte er mich mit all diesen Dingen vertraut und erläuterte mir seinen Plan. Er übertrug mir eine Aufgabe. Ich sollte der jüngste Box-Schwergewichtschampion der Welt werden. Damals hatte ich noch keine Ahnung, aber nach einer von vier langen Unterhaltungen vertraute Cus Camille an: „Camille, das ist der Boxer, auf den ich mein Leben lang gewartet habe.“

Ich stand kurz davor, nach Brooklyn zurückgebracht zu werden. Da tauchte Bobby Stewart bei mir auf.

„Ich will nicht, dass du nach Brooklyn zurückkehrst, denn ich habe Angst, du könntest etwas Dummes anstellen, getötet oder wieder eingebuchtet werden. Willst du zu Cus ziehen?“

Ich hatte auch keine Lust, zurückzukehren, und sehnte mich nach einer Veränderung in meinem Leben. Es gefiel mir, wie diese Leute redeten und mir ein gutes Gefühl gaben, mir vermittelten, Teil der Gesellschaft zu sein. Also teilte ich meiner Mutter mit, dass ich bei Cus wohnen wolle.

„Ma, ich will bei ihm wohnen und trainieren. Ich will Boxer werden, ich kann der Beste der Welt werden.“ Cus hatte mich mit all seinem Gesülze über den Geist völlig heiß gemacht, wie groß ich werden würde, wie ich mich Tag für Tag in jeder Beziehung verbessern würde. Dieser ganze Bullshit über Selbsthilfe. Meine Mom war wenig begeistert, doch sie erteilte mir schriftlich die Erlaubnis. Vielleicht dachte sie auch, als Mutter versagt zu haben.

Also zog ich bei Cus, Camille und den anderen Boxern ein. Ich erfuhr immer mehr über Cus, da wir nach dem Training immer lange Gespräche führten. Er mochte es, wenn ich ihm all die abgefuckten Geschichten über mein Leben erzählte. Er strahlte dann wie ein Christbaum: „Erzähl mir mehr.“ Ich war der ideale Kerl für seinen Plan – zerrüttete Familienverhältnisse, ungeliebt, bettelarm. Ich war taff und stark, aber auch hinterhältig, und trotzdem ein ungeschliffener Diamant. Cus wollte, dass ich meine Defizite akzeptierte. Er vermittelte mir nicht das Gefühl, dass ich mich wegen meines Backgrounds schämen müsste oder weniger wert war. Ihm gefiel es, dass ich eine große Begeisterungsfähigkeit besaß, ein Begriff, den mir Cus beibrachte.