Eiserner Wille

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Cus’ Erfindungsgabe war für die Familie auch während der großen Depression hilfreich. Er war fast zweiundzwanzig, als die Depression begann. Er erzählte mir, dass er in der Zeitung von alten Leuten gelesen hätte, die verhungert waren, weil es gegen ihren Stolz gegangen wäre, um Hilfe zu bitten. Aber ich glaube nicht, dass die Leute zu stolz waren. Es war Cus, der zu stolz war. Er behauptete zu wissen, wie diese Leute sich fühlten, aber ich glaube eher, er wollte die Menschen so sehen. Er kam aus einer altmodischen Familie. Cus lebte sein Leben wie ein galanter Ritter und projizierte seine Gefühle auf andere. Er hatte ein sehr starkes Moralbewusstsein.

Die Hungerrevolten in Lower Manhatten hatten bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Manchmal versammelten sich zwanzigtausend Menschen am Union Square, protestierten und randalierten, weil sie nichts zu essen hatten. Cus war einmal dort und sah einen Mann in einer Holzfällerjacke, der auf einer Ladeklappe eine Rede hielt. Irgendjemand erklärte ihm, dass dieser Typ ein Mitglied der kommunistischen Partei war. Cus sah, wie er mitten in seiner Rede von der berittenen Polizei fast zu Tode geprügelt wurde. Das Erstaunlichste für Cus war jedoch, dass sobald einer gnadenlos verprügelt wurde, sofort ein anderer auf die Ladeklappe sprang, obwohl er wusste, dass er in wenigen Minuten die schlimmsten Prügel seines Lebens beziehen würde. Cus bewunderte ihren Mut und ihren Einsatz. Sein Vater sagte ihm immer wieder, er solle sich von diesen Leuten fernhalten, sie würden ihn in Schwierigkeiten bringen. Aber ich bin sicher, das hat sie für Cus nur noch attraktiver gemacht.

Von einer Sache wich Cus niemals ab: Er hing bis zum Fanatismus an der italienischen Tradition. Beatrice, die Frau seines Bruders Tony, war Irin. Kurz nachdem deren gemeinsame Tochter Betty Zwillinge bekommen hatte, musste sie wieder ins Krankenhaus. Cus rief an, um zu hören, wie es ihr ginge, und die Krankenschwester erklärte ihm, Betty könne nicht ans Telefon kommen, weil sie eine Bluttransfusion bekäme. Cus machte sich sofort auf den Weg in die Klinik und stürmte ins Krankenzimmer: „Ich musste schnell zu dir kommen, um sicherzugehen, dass du kein Blut von den irischen Verwandten deiner Mutter bekommst“, sagte er ihr. „Ich will nicht, dass dein Blut noch mehr verdünnt wird.“

Mann, Cus dachte wirklich, die Italiener wären die Krone der Schöpfung. Als ich nach Catskill kam, meckerte er immer noch rum wegen der Hinrichtung dieser italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti. Sie hatten sich auf einen lausigen Deal eingelassen: Festgenommen wurden sie wegen bewaffneten Raubüberfalls und verurteilt wegen vorsätzlichen Mordes. Im August 1927 brutzelten sie auf dem elektrischen Stuhl. Erst 1977 gab der damalige Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, eine Erklärung ab, dass sie zu Unrecht verurteilt worden waren und „jede Schande für immer von ihren Namen genommen“ sei. Aber Cus lief immer noch durchs Haus und meckerte deswegen herum.

Als Cus aufwuchs, standen Italiener und Juden am Rande der Gesellschaft, und das Boxen war ihr Ventil. Cus kam aus einer Boxerfamilie – seine Brüder, seine Vettern, sie alle waren verrückt aufs Boxen. Seine älteren Brüder Tony und Gerry waren Kämpfer, die auf Züge aufsprangen, sich auf der Straße prügelten und ein wenig Geld mit Wetten verdienten, die man auf sie setzte. Cus geriet oft in Schwierigkeiten, und Gerry und Tony haute ihn dann heraus. Tony war ein harter Hund. Er saß mit Stricknadeln auf der Veranda ihres Hauses, strickte mit provozierenden Bewegungen und forderte jeden, der vorbeiging, auf, mit ihm zu ficken.

Gerry wurde schließlich von Bobby Melnick gemanagt, und Cus trug immer seine Tasche in die Sporthalle. Damals waren Boxer für alle Kinder Helden. Das Magazin National Police Gazette Magazin lag in jedem Friseurladen aus und hatte einen extra Boxteil. Jedes Viertel hatte seinen eigenen Boxhelden, und wann immer dieser das Haus verließ, um in den Ring zu steigen, folgten ihm die Kinder wie dem Rattenfänger von Hameln.

Cus war von der Atmosphäre der Boxsporthalle gefesselt. Oft erzählte er die Geschichte, dass er Jack Dempsey getroffen hätte, und als er wieder zurück in seinem Viertel war, hätten seine Freunde Schlange gestanden, um „die Hand zu schütteln, die Jack Dempseys Hand geschüttelt hatte“, aber das war vermutlich etwas übertrieben. Seine Nichte Betty erzählte, ihr Vater Tony hätte Dempsey in einem Boxclub kennengelernt, als er sechzehn war. Dempsey wollte Tony als Sparringspartner, aber als Tony sah, wie bösartig der „Manassa Mauler“ die Leute im Ring zusammenschlug, ging er nicht auf das Angebot ein, konnte Dempsey aber immerhin die Hand schütteln. Dann kam er nach Hause und erzählte jedem: „Mit dieser Hand habe ich die Hand von Jack Dempsey geschüttelt; nun werde ich sie nie wieder waschen.“

Cus erzählte einem Reporter, dass es sein Bruder Tony gewesen sei und nicht Tom Paine, der ihn von dem Gedanken abbrachte, Priester zu werden. Gerry nahm Cus unter seine Fittiche und brachte ihm bei, sich selbst zu verteidigen. Dann, als Cus sechzehn war, kam es zu einer Tragödie, die seine Familie bis ins Mark erschütterte: Gerry wurde von einem irischen Cop erschossen.

Sein ganzes Leben lang sprach Cus nie öffentlich über diesen Mord. Er erzählte mir, dass Gerry der Star der Familie gewesen war und dass sein Tod dem Vater das Herz brach. Cus war dabei, als Damiano von Gerrys Tod erfuhr, und er sagte, dass er das durchdringende Heulen seines Vater nie würde vergessen können. Er erzählte einem engen Freund, der eine Cus-Biografie vorbereitete, dass Gerry und seine Frau an einer gesellschaftlichen Veranstaltung teilnahmen, bei der ein Polizist außer Dienst begann, Gerrys Frau zu befummeln. Eine Schlägerei entbrannte, und die beiden brachen durch eine Fensterscheibe. Statt dass der Cop „seine gerechte Strafe erhielt“, erschoss er Gerry. Eine seltsame Art, eine Schlägerei zu beschreiben. Der offizielle Polizeibericht sieht anders aus.

„Gerald De Matto, ein weißer, verheirateter italienischer Barmann, wurde vom Streifenpolizisten George Dennerlein festgenommen und der schweren Körperverletzung beschuldigt … Während er sich der Verhaftung widersetzte, traf er den Polizisten mehrmals mit der Faust, bemächtigte sich seines Schlagstocks und drohte, ihn damit zu schlagen.“ Dann schoss Dennerlein auf Gerry. Dieser verstarb sechs Tage darauf, am 21. Oktober 1924, im Lincoln Hospital. Im Bericht stand weiter, dass Gerry betrunken auf dem Heimweg war, und als ihn der Polizist ermahnte, direkt nach Hause zu gehen und seinen Rausch auszuschlafen, habe Gerry ihn angegriffen. Daraufhin habe der Polizist ihn festnehmen wollen, sei dabei aber niergeschlagen worden und Gerry habe versucht, ihn mit seinem eigenen Schlagstock zu verprügeln. „Der Officer sah sein Leben in Gefahr, zog seine Dienstwaffe und gab einen Schuss ab. Die Kugel drang in De Mattos linke Leiste ein.“

In der Nacht, als auf Gerry geschossen worden war, trommelte sein Bruder Tony einige Freunde zusammen. Sie zogen mit Stöcken bewaffnet zum Polizeirevier in der Absicht, Rache zu nehmen. Glücklicherweise war Damiano sofort zur Stelle und beruhigte den Mob. Nach Gerrys Tod besuchte Cus die örtlichen Gemeinepfarrer und forderte Antworten, warum sein Bruder von einem „korrupten“ Cop getötet worden war. Aber die Priester sagten ihm nur, er solle „Vertrauen haben und keine weiteren Fragen stellen“. Das war der Moment, in dem Cus entschied, dass das Priestertum nicht das Richtige für ihn war, sondern dass er sich „als Kämpfer ausbilden und andere Männer ebenfalls zu Kämpfern machen“ musste.

Der Streifenpolizist Dennerlein wurde nach Staten Island versetzt. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Jahre später, als er das Geld dazu hatte, engagierte Cus Privatdetektive, die Nachforschungen in dieser Angelegenheit anstellen sollten. Er sagte mir, er wisse sogar, wo dieser Cop jetzt wohnte, und das machte mir ein wenig Angst. Aber er versuchte nie, sich an ihm zu rächen. Ich habe mich immer über diese Sache gewundert. Tonys Tochter Betty sagte, dass der Cop nicht auf Streife gewesen wäre, sondern außer Dienst. Gerry und er befanden sich in einer Bar, als die Auseinandersetzung stattfand. In ihrem Streit ging es um Gerrys Frau, die eine Affäre mit dem Cop gehabt hatte. Vielleicht meinte Cus das mit seiner kryptischen Aussage, dass der Cop lediglich „seine gerechte Strafe“ hätte bekommen sollen.

Cus glaubte an das Schicksal. Schon als Junge wusste er, dass er eines Tages berühmt werden würde. Er hatte immer das Gefühl, dass bei ihm „etwas anders war“. Ich hatte genau das gleiche Gefühl. Deshalb war es für mich richtig, bei Cus und Camille einzuziehen. Ich konnte allerdings nicht verstehen, warum dieser weiße Mann meinetwegen so glücklich war. Er sah mich an und lachte hysterisch. Dann nahm er das Telefon und erzählte den Leuten: „Der Blitz hat mich zweimal getroffen. Ich habe noch einen Schwergewichtschampion. Er ist erst dreizehn.“

Bei einem der ersten Besuche, an denen ich dort übernachtete, führte mich Cus ins Wohnzimmer, wo wir allein miteinander sprechen konnten.

„Du weißt, dass ich auf dich gewartet habe“, sagte er. „Seit 1969 denke ich an dich. Wenn du lange genug über eine Sache nachdenkst, bekommst du ein Bild davon. Und dieses Bild sagte mir, dass ich einen weiteren Champion hervorbringen werde. Ich habe dich mit meinem Geist heraufbeschworen, und jetzt bist du endlich da.“


Am 20. Juni 1980 änderte sich mein ganzen Leben. Eigentlich war es erst eine Woche darauf. Ich ging bereits seit ein paar Monaten rauf zu Cus und hörte mir seine Versprechungen von Ruhm und Reichtum an, aber ich war noch nicht so weit. Ich wusste nicht, wie ich der Kerl werden sollte, von dem Cus dauernd sprach. Aber dann, als ich wieder in Tryon war, sahen wir uns die Wiederholung des ersten Kampfes von Sugar Ray Leonard gegen Roberto Durán an. Und plötzlich war alles klar. Endlich verstand ich, was Kämpfen wirklich bedeutet. Diese beiden waren gleichermaßen aggressiv und ausweichend, und sie kämpften sich den Arsch ab. Es war atemberaubend.

 

Die Menschen applaudierten wie verrückt und mein Schwanz wurde hart. Ich wollte, dass die Menschen mir applaudierten. Die Energie meiner Gedanken verschmolz mit der Energie meines Körpers. Ich wusste, dass alles, was mit meinem Leben geschehen sollte, in diesem Ring geschehen würde, und ich dachte: „Ich werde mein Leben dem allem hier widmen. Wenn das nicht geht, dann sterbe ich lieber.“

Eigentlich sollte ich erst im Oktober aus Tryon entlassen werden, aber Cus traf sich mit Mrs. Coleman, meiner Sozialarbeiterin, und weil ich vierzehn und so groß war, entschieden sie, dass ich wie die anderen im September mit der Schule anfangen sollte. Sie war völlig vernarrt in Cus. Er war einer dieser Weißen, der wusste, wie man mit Minderheiten sprach. Eigentlich sollte ich die siebte Klasse besuchen, aber sie steckten mich in die achte, weil ich so verdammt groß und furchteinflößend war.

Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, mich anzupassen. Ich komme aus der Gosse, aus einer Strafanstalt, und auf einmal bin ich ein Mittelschichtskind in einem Weißenviertel. Du kommst aus der Hölle und findest dich im Himmel wieder, aber du bist noch immer der Teufel. Es ist kaum zu glauben, ich war vierzehn und hatte in meinem Leben noch nie eine Rose gesehen, außer im Fernsehen. Ich dachte, nur reiche Leute hätten Rosen. Das erste Mal, als ich mich bei Cus im Haus aufhielt, fragte ich Camille, ob ich ein paar Rosen haben dürfte. Ich schnitt sie ab und nahm sie mit in die Besserungsanstalt. Ist das irgend so eine Scheiße von armen schwarzen Wichsern, oder was? Ich wusste nicht, dass ich eine Rose für zwei Dollar kaufen konnte. Ich sah eine Rose und dachte, ich wäre in Fort Knox. Direkt nach meinem Einzug stahl ich Geld aus Teddy Atlas’ Geldbörse. Es war einfach ein Reflex. Teddy ging zu Cus und sagte: „Er hat das Geld gestohlen. Es kam noch nie etwas weg, bevor er hierherkam.“ Cus sagte: „Nein, er war es nicht.“ In Gedanken plante ich schon, Cus ebenfalls zu bestehlen. Aber als ich mich eingelebt und an Cus’ Mission gewöhnt hatte, war ich über diese Scheiße hinweg.

Die Schule war ziemlich unangenehm für mich. Ich war so viel größer als meine Klassenkameraden. Ich wog mittlerweile 95 Kilo. Als ich in meine neue Klasse kam, dachten alle, ich wäre der Lehrer. Ich fühlte mich scheiße. Ich wollte nicht zur Schule gehen, war nie Teil dieses Systems gewesen. Ich wollte immer nur ein Kämpfer sein. Ich kannte nicht sehr viele Schwarze in der Schule. Vielleicht zwanzig Prozent dort waren schwarz, und die lehnten mich ab, weil ich bei einer weißen Familie lebte. Sie nannten mich King Kong, weil ich so groß war. Ich kannte zwar ein paar Jungs von der Sporthalle, aber es war nicht einfach, neue Freunde zu finden, weil ich so schüchtern war. Ich freundete mich mit einigen der anderen Außenseiter an, den Kiffern. Ich hing in ihren Häusern rum und rauchte Pot. Dann fand ich heraus, dass mein Zimmergenosse Frankie auf Gras war, und wir rauchten zusammen.

Der Hauptgrund, warum ich die Schule hasste, war, dass sie mich vom Training abhiel. Ich wachte gegen vier Uhr morgens auf und ging joggen. Dann ging ich in mein Zimmer zurück und machte ungefähr fünfhundert Sit-ups und Push-ups. Danach lief ich manchmal noch zehn Runden über das Gelände, einfach hin und her. Und das alles vor der Schule.

Als Bobby Stewart das erste Mal, nachdem ich eingezogen war, zu uns kam, um mit mir zu sparren, sagte ihm Cus: „Unterschätz Mike nicht. Glaub mir, er hat sich immens verbessert.“ Später erst fand ich heraus, dass Bobby zweimal am Tag trainierte, um mit mir mithalten zu können. Wir begannen zu sparren, und weil er sehr viel besser war als ich, fing ich an zu weinen.

Ich war ein Perfektionist. Wenn das, was ich mir vorstelle, nicht klappt, dann ist mein Leben zu Ende, dann zieh den Stecker – das ist meine Mentalität. Ich wollte mein Ziel unbedingt erreichen. Und ich wollte es für Cus schaffen. Das erste Mal in meinem Leben sagte mir jemand, dass es keinen Besseren gäbe als mich.

Cus war vom Boxen genauso besessen wie ich. Er dachte an nichts anderes mehr. Er ging nie ins Kino und sah sich keine Fernsehshows an. Er wusste nicht, wer die berühmten Entertainer dieser Ära waren. Wenn dein Name nicht John Wayne, Judy Garland oder James Cagney lautete, kannte er dich nicht. Alles, worüber er sprechen wollte, war das Boxen. Und ich freute mich darüber, dass ich ihn mit Fragen zu all den Kämpfern löchern durfte, über die ich in der Box-Enzyklopädie gelesen hatte. Als ich ins Haus eingezogen war, begann Cus mir zu erzählen, wie er zum Boxen kam.

Im Jahr 1936, als er achtundzwanzig Jahre alt war, eröffnete Cus das Gramercy Gym an der 14. Straße in Manhattan. Er wollte die Erinnerung an seinen Bruder Gerry aufrechterhalten, aber er wollte auch einen Champion haben. Einer von Cus’ Helden war „Slapsie“ Maxie Rosenbloom, der damals weltweit beste Weiße im Halbschwergewicht. Er sah, dass Maxie im Rolls Royce mit Chauffeur durch die Stadt fuhr und die Menschen ihn wie einen König behandelten. „Wenn du erst Weltmeister bist, wirst du ebenfalls einen Rolls Royce mit Chauffeur haben“, sagte Cus zu mir. Plötzlich war mein Leben darauf festgelegt, es diesem Juden Maxie gleichzutun.

Cus fand ein großes Loft in der 14. Straße und begann zu überlegen, wie er die monatliche Miete von vierzig Dollar aufbringen konnte. Jahre zuvor hatte er einem seiner Freunde geholfen, nachdem er die Baupläne für eine große Schnellstraße in der Bronx namens Bruckner Express Way gesehen hatte. Er gab diesem Freund den Tipp, dass es dort bald ein hohes Verkehrsaufkommen geben würde, und der eröffnete vier Tankstellen an dieser Strecke. Damit hatte er einen Haufen Geld verdient, und jetzt erklärte er sich gern bereit, die monatliche Miete für Cus zu übernehmen. Es gab vielleicht schon zehn andere Sporthallen in der Stadt, aber Cus vertraute auf sein Wissen über den Boxsport, das erheblich größer war als das der anderen Trainer, und deshalb war er überzeugt davon, dass er Erfolg haben würde.

Cus bekam von einem alten Boxer einen gebrauchten Ring und seine Brüder halfen ihm, den Rest der Sporthalle auszubauen. Aber es war mitten in der Wirtschaftskrise, und anfangs verirrte sich niemand in die Halle. Dann, eines Tages, kam eine Abordnung von ungefähr sechs Müttern vorbei, um mit Cus zu sprechen. Sie baten ihn, ihre Kinder von der Straße und den Problemen wegzuholen. Lower Manhattan war damals ein raues Viertel, und es gab keine Sozialprogramme der Polizei oder irgendetwas anderes, was einen guten Einfluss auf diese Kinder ausgeübt hätte. Die Mütter hatten kein Geld, um Cus zu bezahlen, aber das machte ihm nichts aus. Tatsächlich verlangte er in den nächsten dreißig Jahren von niemandem einen Cent dafür, dass er in seiner Sporthalle sparren durfte. Einer der Gründe, warum Cus diesen Standort ausgewählt hatte, war, abgesehen von der günstigen Miete, sein Wissen, dass die besten Kämpfer aus gefährlichen Gegenden kamen. Und Cus hatte eine Regel: Wenn einer sich gut anstellte und ein Profi werden wollte, dann managte er ihn.

Die Sporthalle lag im dritten Stock des morschen Treppenhauses. Wenn du unten an der Treppe standest, konntest du bis ganz nach oben sehen. Es war, als würdest du eine Himmelsleiter emporklettern. Wenn du dann ganz oben angekommen warst, sahst du eine Tür mit einem großen Loch, das mit Maschendraht zusammengeflickt war, und einen riesigen Wachhund, der sich gegen den Maschendraht warf und dabei wie verrückt bellte. Cus sagte immer, dass die Art, wie ein Junge die Treppe hochkam, eine Menge über dessen Charakter aussagte. Er nannte diesen Weg „das Gericht“. Wenn ein Jugendlicher alleine dort hochkam, sich vom Hund nicht abschrecken ließ, die Tür aufstieß und sagte, dass er Boxer werden wollte, dann wusste Cus, dass er mit ihm arbeiten konnte. Doch wenn einer hergebracht wurde, war das eine andere Geschichte. „Denn wenn er von jemandem gebracht wurde, wusste ich, dass es keinen Sinn hatte. So einer besaß weder die Disziplin noch die Willensstärke, um aus freien Stücken hierherzukommen, die Tür zu öffnen und zu sagen: ‚Ich will Boxer werden‘“, sagte Cus.

Von Anfang an war Cus nicht damit zufrieden, nur Trainer zu sein. Er strebte auch danach, Manager zu werden. „Ein guter Manager muss jeden Aspekt des Boxens kennen. Er muss sich mit Gefühlen, mit Publicity und Management auskennen, und er muss wissen, wie man einen Boxer trainiert. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Ein Manager muss die Kontrolle über die Situation behalten, und wenn er die Angelegenheit nicht selbst regelt, muss er Anweisungen geben können, wie was zu machen ist“, sagte Cus einmal in einem Interview. Zu diesem Job gehört auch, die richtigen Gegner für einen Kampf auszuwählen. Cus war unglaublich vorsichtig mit seinen Boxern, denn eine hohe Niederlage kann sich verheerend auf die Psyche des Boxers auswirken. „Ich bin nicht in diesem Geschäft, um meine Schützlinge massakrieren zu lassen“, sagte er der New York Times.

Gegner auszusuchen war nicht immer einfach. Einmal wurde Cus hereingelegt und stimmte einem Kampf gegen einen Kerl aus Long Island zu, von dem er vorher noch nie gehört hatte. „Schon als die Glocke erklang, war mir klar, dass mein Junge nicht gegen einen Anfänger kämpfte. Er wurde regelrecht verdroschen und ging zehnmal zu Boden. Ich schrie den Ringrichter an: ‚Aufhören! Aufhören!‘, weil ich nicht wollte, dass mein Junge ruiniert wurde. Nach dem Kampf ging ich in die Kabine, und der Junge sah auf und sagte: ‚Cus, es tut mir leid, ich habe dich im Stich gelassen.‘ – ‚Du hast mich nicht im Stich gelassen, sondern ich dich. Ich habe dir einen zu starken Gegner gegeben‘. Danach ging ich rüber, um das Geld zu holen. Als ich das Telefon klingeln hörte und jemand sagte, es sei ein Ferngespräch, irgendwer wolle sich nach dem Ergebnis des Kampfes erkundigen, da wusste ich, dass dieser weiße Junge kein Amateur aus Long Island war; er war aus einem anderen Teil des Landes hergebracht worden.“ Cus war wütend und schlug seine recht Faust in seine linke Handfläche. „So etwas passiert mir nie wieder!“

Cus gab gerne Box-Unterricht. Einmal trainierte er sogar ein paar Showgirls und brachte ihnen für eine Show, die gerade zusammengestellt wurde, einige Moves im Boxen bei. Anfangs spezialisierte sich Cus darauf, taubstumme Boxer – oder „Dummies“, wie sie in jener politisch unkorrekten Zeit genannt wurden – zu trainieren, und hatte einen gewissen Ruf darin. Er hielt sie für großartige Kämpfer, weil ihre Sehfähigkeit außergewöhnlich gut war. „Die Fähigkeit zu sehen ist das größte Plus eines Boxers und Dummies sind so viel besser darin, die kleinen Anzeichen dafür, dass im nächsten Moment ein Schlag folgt, zu erkennen und sofort zu reagieren. Sie sind sehr schwer zu treffen“, sagte Cus. Um mit ihnen arbeiten zu können, lernte Cus Zeichensprache. Ich sah ihm dabei zu. Es war so seltsam, denn er reihte die Zeichen so verbissen und schnell aneinander, dass es fast brutal wirkte. Es sah aus, als würde er kämpfen. Er nutzte auch seine Fähigkeit, von den Lippen zu lesen. Das war praktisch, denn in der Zeit, in der ich mit Cus zusammen war, war er schon fast taub. Er sagte oft zu mir: „Lass mich dich erst ansehen. Jetzt kannst du mit mir reden.“ Er erzählte mir, dass er immer zwischen den Runden über den Ring geblickt hätte, und wenn der andere Trainer Cus nicht gerade den Rücken zugedreht hatte, konnte er erahnen, was der Typ zu seinem Kämpfer sagte.

Cus war so bekannt für seine Arbeit mit taubstummen Kämpfern, dass die Boxwelt anfing, ihn Dummy D’Amato zu nennen. Noch hatte er im Boxgeschäft nicht viel gerissen, als er nach sechs Jahren im Gramercy 1942 eingezogen wurde. Kaum war er in die Armee eingetreten, verordnete sich Cus eine strenge Form von Selbstdisziplin. Gay Talese erzählte er: „Ich ging auf den Tod vorbereitet zur Army.“ Aber ich bin sicher, er musste gewusst haben, dass ihn sein kaputtes Auge vor einem militärischen Kampfeinsatz bewahren würde. Dennoch begann er, Raubbau an seinem Körper zu treiben, nur um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Er fing damit an, auf dem Boden seiner Sporthalle zu schlafen. Die Hälfte der Zeit schlief er auf einem Klappbett im Büro, so war es nicht ganz so schlimm. Aber dann stellte er nachts zwischendurch immer seinen Wecker, um sich anzugewöhnen, immer frisch und munter aufzuwachen, egal zu welcher Uhrzeit. Er ging bei eiskaltem Wetter ohne Mantel nach draußen.

 

Als er dann in der Kaserne war, führte er seine Selbstkasteiung weiter fort. Er schlief auf dem Boden, was bei überraschenden Kontrollen sehr nützlich war. Er rasierte sich nur mit kaltem Wasser. Als Cus in der Army war, kannte er nur einen Gedanken: „Ich werde jeden Befehl ausführen!“, und das trieb er bis zum Äußersten. Manchmal stand er stundenlang in Habachtstellung und übte wie verrückt das Salutieren, bis es perfekt war. Als seine Truppe im Feldlager war, gab es dort so viele Fliegen, dass es unmöglich war, zu essen. Cus fasste den Entschluss, das nächste Insekt nicht mehr wegzuschlagen. Was dann kam, war eine Spinne, keine Fliege, und Cus legte ein Stück Brot über sie, schloss die Augen und aß die Spinne mitsamt dem Brot! Wegen dieses Typen bin ich heute ein so ein verrückter Kerl. Es ging ihm nur darum, sich selbst zu disziplinieren – bis hin zur Ablehnung sämtlicher Annehmlichkeiten.

Sein kaputtes Auge bewahrte Cus schließlich vor gefährlichen Einsätzen. Er sollte seinen Dienst drei Jahre lang als Officer der Militärpolizei daheim in den Staaten ableisten. Im wurde die Aufgabe zugewiesen, russische Deserteure zu bewachen, die für die Deutschen gekämpft hatten und nun Kriegsgefangene waren. Nach einigen Schichten verweigerte er den Dienst, weil er Mitleid mit den Russen hatte, die von amerikanischen Soldaten gequält wurden. Cus war der Mustersoldat schlechthin, und deshalb wurde er von dieser Aufgabe befreit.

Noch wütender war Cus jedoch darüber, wie schwarze amerikanische Soldaten sowohl von den Kameraden aus den Südstaaten als auch von den Zivilisten aus dem Norden behandelt wurden. Cus trainierte ein Box-Team, das hauptsächlich aus schwarzen GIs bestand. Einmal nahm er sie mit in ein Restaurant in Trenton, New Jersey, um mit ihnen einen Happen zu essen, bevor es nach Fort Dix ging, wo die Kämpfe stattfinden sollten. Cus fragte nach einem Tisch für zehn Personen. Sechs davon waren Schwarze. Der Kassierer nahm Cus zur Seite und sagte: „Wir können Sie bedienen, aber nicht die da“, und zeigte auf die schwarzen Boxer in Uniform. Cus rastete aus und fing an zu brüllen, die schwarzen Soldaten würden auch Menschen wie ihn beschützen, und er sollte sie gefälligst bedienen. Mittlerweile waren alle Blicke auf ihn gerichtet, und er musste von seinen Kämpfern zurückgehalten werden. Sie zogen ihn aus dem Restaurant, und Cus brüllte noch immer die Gäste an, die schon weiteraßen.

Als das Team zu Schaukämpfen in den Süden fuhr, wurde es noch schlimmer. Hotels weigerten sich, den schwarzen Boxern ein Zimmer zu geben, und Cus übernachtete mit ihnen in einem öffentlichen Park. Diese schwarzen Kämpfer vergaßen niemals, was Cus für sie getan hatte. Diese Art von Rassendiskriminierung war gang und gäbe, sogar bei Profiboxern. Wenn schwarze Box-Champions in eine Stadt kamen, in der sie niemanden kannten, dann mussten sie im Park schlafen und am darauffolgenden Abend ihren Titel verteidigen.

Cus war äußerst bestürzt über den Rassismus der Soldaten aus dem Süden. Er erzählte mir die Geschichte, wie er seinen Freund, einen Sergeant namens Murphy, der eigentlich Italiener war, vor einem Haufen Südstaatler rettete. Cus bekam für das Managen des Box-Teams ein wenig Geld und hatte somit genug, um sich mit Zigaretten und Keksen zu versorgen. Wenn diese Südstaatler zum Schnorren kamen, gab Cus ihnen immer etwas ab. Aber eines Tages zeigten sie ihr wahres Gesicht. Sie waren betrunken und sangen Lynchlieder. Cus war wütend darüber, dass sein Freund Murphy von den Südstaatlern umzingelt und in die Enge getrieben wurde. Deshalb schnappte er sich ein paar seiner schwarzen Boxer und plante, seinen Freund zu retten. „Hört ihr, was sie singen?“, fragte er. „Wir müssen Murphy da rausholen.“ Die schwarzen Soldaten hatten Angst, aber Cus überredete sie und sie „retteten“ Murphy. Cus war so stolz darauf. Es hörte sich an, als wäre er ein General gewesen, der seine Truppe versammelte und Murphy sicher zurück nach Hause brachte.

Cus behauptete, er hätte in der Army nichts gelernt, weil er die Selbstdisziplin bereits gehabt hatte. Während ich bei ihm wohnte, hatte ich einmal die absurde Idee, dass ich vielleicht zur Army gehen sollte.

„Bist du verrückt?“, schrie er. „Du willst, dass das Militär für dich denkt? Du willst alles tun, was sie sagen? Du willst zurück in die Sklaverei?“ Das war das letzte Mal, dass ich ihm gegenüber diese Idee erwähnte.

Cus galt stets als einer der ersten Trainer, die sich auf die Psychologie ihrer Boxer konzentrierten. Im Laufe seiner Karriere sagte er öfters, dass das Boxen zu fünfzig, sechzig und manchmal sogar fünfundachtzig Prozent eine mentale Angelegenheit sei. Er begann schon früh, psychologische Verhaltenstheorien zu entwickeln, die beim Boxen angewandt werden konnten. Zunächst beschäftigte er sich mit den Arbeiten von Sigmund Freud. „Die Leute sagten immer, ich würde Freud lesen, aber alles, was ich jemals von ihm gelesen habe, waren zehn Kapitel aus einem dieser Taschenbücher, das ich irgendwo fand“, sagte er Sports Illustrated. „Ich las diese zehn Kapitel, und dann wurde es immer technischer, deshalb legte ich das Buch weg.“ Freud „sagte mir nichts, was ich nicht schon wusste“, sagte er einem anderen Reporter.

Cus begann mit meinem psychologischen Training erst richtig, nachdem ich in das Haus eingezogen war. Als Erstes gab er mir ein Buch von Peter Heller mit dem Titel „In This Corner …!“ Es war ein großartiges Buch, weil es Interviews mit zeitlos vorbildlichen Kämpfern enthielt. Cus war der Meinung, man solle es unbedingt lesen, weil sich all die Unsterblichen in diesem Buch ihre Ängste eingestanden. Die Angst zu beherrschen und sie für dich arbeiten zu lassen, war ein Eckpfeiler von Cus’ Lebensphilosophie. Giganten wie Jack Dempsey waren ebenso ängstlich wie ich. Er war Krebs wie ich, sehr emotional. Aber wenn er in den Ring stieg, hättest du niemals geglaubt, dass er ein ängstlicher Kerl war. Tief im Inneren hielt er sich für einen Feigling, genauso, wie es mir geht. Aber wenn er in diesen Ring stieg, war er die Unbeugsamkeit in Person. Das ist doch was, oder?

Auch Henry Armstrong war, wie Dempsey, während der großen Wirtschaftskrise ein Vagabund gewesen. Sie sprangen auf Züge auf, kamen in eine andere Stadt, kämpften ums Überleben, wurden zusammengeschlagen, und so lernten sie zu kämpfen. Armstrong stand morgens auf und lief fünfzehn Meilen zur Arbeit und danach wieder fünfzehn Meilen zurück nach Hause, und dann trainierte er. Wisst ihr, was sein Job war? Nägel in Eisenbahnschienen schlagen, acht Stunden am Tag. Mann. Er war der Einzige, der drei Weltmeistertitel gleichzeitig hatte, drei von zwölf. Cus war der Meinung, er sei der Inbegriff der Entschlossenheit und Willenskraft gewesen und hätte so die Kampfmoral seiner Gegner zunichtegemacht.

Aber das beste Beispiel dafür, was Angst wirklich bedeutet, war die Geschichte von Willie Ritchie. Durch seine Geschichte bekam ich Nerven wie Drahtseile. Ritchie war ein polnisches Leichtgewicht, der 1912 die Meisterschaft gewann. Er kämpfte gegen einen Kerl, der etwas größer war. Der Kampf war hart und wurde als unentschieden gewertet. Der Veranstalter klatschte Willie auf den Rücken und sagte: „Hey, du hattest Glück heute Abend, Junge. In zwei Wochen gibt es eine Revanche.“ Ritchie war starr vor Schreck. Er war der Meinung, das Unentschieden wäre ein Geschenk gewesen, denn der Kerl hatte ihn richtig verprügelt. Von da an hatte er solche Angst, dass er eine Stunde brauchte, um seine Scheißschuhe zu binden, seine Shorts anzuziehen und in die Sporthalle zu gehen, um zu trainieren. Er schwitzte beim Wiegen. Er konnte nicht essen, er war krank vor Angst, umgebracht zu werden. Als er gerade beim Wiegen war, kam der Trainer seines Gegners an, klatschte ihm auf den Rücken und sagte: „Okay, letztes Mal haben wir es dir leicht gemacht, heute Abend schlagen wir dich im Nu k. o.“ Ritchie war ein emotionales Wrack, aber er ließ sich seine Furcht nicht anmerken. Er war drauf und dran, den Kampf abzusagen, aber er nahm sich zusammen und stellte sich auf die Waage. Dann wartete er auf den anderen Kerl. Nach ein paar Stunden war klar, dass sein Gegner sich nicht blicken lassen würde. Ritchie bekam das ganze Preisgeld. Er lernte eines daraus: Egal, wie viel Angst er gehabt hatte – und er hatte sich gefürchtet, als ob der Teufel hinter ihm her wäre –, sein Gegner hatte noch mehr Angst vor ihm gehabt. Als ich diese Geschichte las, wurde mir klar, dass ich den Vorteil hatte, zu wissen, wie sich die anderen fühlten – aber sie wussten nicht, wie es in mir aussah. Obwohl ich vor den Kämpfen Angst hatte, dachte ich immer: „Sie haben mehr Angst vor mir als ich vor ihnen.“