Kurt Tucholsky – Gesammelte Werke – Prosa, Reportagen, Gedichte

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Oh, man hat auch religiöse Filme. Da läuft zum Beispiel ein Bernadette-Film, der in seiner Herstellung, mit seinen Schauspielern und Dekorationen an die dunkeln Filme gemahnt, die man vor dem Kriege in Budapest herzustellen pflegte … Er ist über die Maßen schauerlich. Der Vortrag des jungen Abbé aber ist es gar nicht, und die Worte, die er zum Film spricht, stehen an Geschicklichkeit, berechneter Wirkung und Wirksamkeit tausendmal über dem Schund. (Man will übrigens einen neuen Bernadette-Film herstellen.) Der Abbé läßt es nicht an freundlichen Beschimpfungen derer fehlen, die nicht an Wunder glauben, und fordert jeden auf, ungestört seine gegnerische Meinung hier zum Ausdruck zu bringen. Kenner der Materie entsinnen sich des Geschreis, das es einmal gegeben hat, als die französischen Freimaurer als Demonstration einen ihrer Kongresse in Lourdes abhalten wollten. In solchen Fällen ist ja wohl der Staat nicht in der Lage, die öffentliche Ordnung zu garantieren.

Und wenn man diesen Film hinter sich hat, darf man das »Römische Museum« ansehen, ein Wachsfigurenkabinett mit wilden Löwen, zerrissenen Christen und einem herrlichen Erklärer. Er redete wie eine Gebetmühle. Der Bruder der seligen Bernadette sei zwar kein Römer, aber er kenne ihn gut: der Mann habe seine Schwester niemals richtig geschätzt, nein, nein. Da sagen sie, sie liege in Nevers begraben … Er, der Erklärer, wisse mehr – er dürfe nur noch nicht darüber reden. Schade.

Die einzig wirkliche Erholung sieht anders aus. Oben, auf einer Anhöhe, liegt das Schloß, darin das Pyrenäische Museum. Es ist das schönste Museum, das ich in den Bergen gesehen habe – weil es klug angelegt ist. Das französische Provinzmuseum steht auf keiner sehr hohen Stufe, es hat herrliche Kunstwerke, aber die Stücke werden nicht immer gut präsentiert. Hier aber in Lourdes hat ein kunst- und landeskundiger Mann, Herr Le Bondidier, die bäuerlichen Gerätschaften, die Bilder, gute Diapositive, Bücher und Kinderspielzeug, Pilgermünzen und Andenken so fein geordnet, mit einer solchen Liebe aufgebaut, daß einem das Herz im Leibe lacht. Ich konnte mich gar nicht trennen. Die kleinen Burgzimmerchen haben Nummern, die den Besucher ohne Katalog automatisch durch das ganze Schloß führen, und was man sieht, geht einen etwas an, steht hübsch da, langweilt nicht.

Herrn Le Bondidier habe ich in seinem Büro besucht. Er erinnert im Aussehen – o ihr Rassenphysiologen! – etwas an Wilhelm Raabe. Er darf sich rühmen, die schönste Aussicht von ganz Lourdes zu besitzen: sein Arbeitszimmer geht grade auf die Basilika – drei riesige große Fensterbögen zeigen ihm von hoch oben Kirche, Massen, Prozessionen und Fackelzüge. Die Wände sind mit hellbraun getöntem Holz getäfelt, bunte baskische Bilder hängen da … endlich, endlich einmal einer, der nicht in Directoire- Stil sitzt und nicht in Louis I-XVI. Als der hochgewachsene Mann, von dem im Museum eine lustige Karikatur als Bergsteiger, der alles bei sich hat, hängt – als er das Zimmer einen Augenblick verläßt, sehe ich auf die Bilder an den Wänden – – und finde etwas. Da reitet ein dunkler Reiter durch blutige Nacht, hinter ihm ballen sich erschreckte Massen, der Reiter hat etwas auf dem Kopf, das ist ein Kürassierhelm, und als ich genau hinsehe, entdecke ich die zwei Schnurrbartspitzen. »Kain« steht darunter. Es ist immer hübsch, wenn ein Volk durch seine Fürsten gut im Ausland repräsentiert wird.

Und wieder hinunter nach Lourdes.

Da rollt der Betrieb ab – der kirchliche und der kaufmännische. Bei Huysmans habe ich gelernt, daß es Ungläubige und Freimaurer aller Grade sind, die da ihre Geschäfte machen – es ist ganz schrecklich. Aber diese wilde Rotte nimmt den Pilger nicht einmal sehr hoch – die Preise sind nirgends unverschämt, wenn auch nicht niedrig. Selbst die Stadt will ihre Position nicht ausnutzen: sie beansprucht keine Beherbergungssteuer (taxe de séjour), verzichtet so auf Millionen und ist nur eine mäßig begüterte Gemeinde. Das hat seinen Grund:

Lourdes ist eine Stadt der kleinen Leute.

Der Tourist ist sofort kenntlich – er gehört meistens den »besser gekleideten Ständen« an, wie Tante Julia das nennt, in den Pilgerzügen aber dominieren Bauern und Küstenfischer der Bretagne und kleines und kleinstes Kleinbürgertum: Gärtner, Dienstmädchen, Portiers, kleine Beamte, Handwerker. Das sind nicht die Gesichter organisierter Industriearbeiter. Das nicht.

Und wenn die feinen Leute dabei sind, dann in einer so aufdringlich aufreizenden Form …

Nach dem Allerheiligsten in den Prozessionen gehen sie, da sah ich den Herrn Grafen und den Herrn Baron und dessen Söhne und so vornehme Herrschaften … Sie gingen in einer kleinen Gruppe, für sich, fromm erster Klasse. Vor Gott sind alle gleich, gewiß, aber man muß das nicht übertreiben.

Es sind nun Leute von so vielen Nationen da, aber es ist immer derselbe Typus, der bäuerliche und kleinbürgerliche. Besonders die Frauen erinnern an Klatsch im Schlächterladen, an kleine Schneiderinnen, an Hebammen … Jede Nation hat ihre Eigenart; jemand beklagt sich über die »Engländer, die alles für sich haben wollen, die besten Plätze, die Spitze bei den Prozessionen« – und die dann nach ein paar Tagen die ganze Geschichte satt bekommen und Ausflüge in die Umgebung machen. Polen, Italiener, Spanier, Belgier, Holländer, Franzosen vieler Provinzen … es ist alles da. Und alle aus derselben Schicht.

Es riecht nach Muff, nach unaufgeräumten Schlafzimmern, nach jenem Typus, der in Europa nicht leben und nicht sterben kann, nach kleinem Mittelstand, der nicht weiß, daß ers ist. – Der bestimmt die Atmosphäre in Lourdes, der gibt das Tempo an, auf ihn sind Vergnügungen, Hotels, Romantik, Prozessionen zugeschnitten. Es ist die Stadt der kleinen Leute. – Aber die Heilung –?

IV. Der Sardellenkopf

»Man kann auch zum Kopf einer Sardelle beten, es kommt nur auf den Glauben an.«
Japanisches Sprichwort

Durch eine Wallfahrt nach Lourdes kann man organische Krankheiten heilen. Das ist der Fundamentalsatz der Gläubigen.

Erklärt wird er nicht. Bewiesen werden soll er durch das Büro des Constatations Médicales.

Dieses Büro besteht aus einem Chefarzt sowie mehreren andern Ärzten, die in Kommissionssitzungen die Heilungen prüfen und späterhin beglaubigen. Fremde Ärzte werden mit der größten Bereitwilligkeit zugelassen; sie dürfen an allen Sitzungen teilnehmen und bekommen Einsicht in alle Akten.

Niemand wird gezwungen, sich dem Büro vorzustellen – wer sich geheilt glaubt, stellt sich selbst vor.

Das Büro des Constatations ist vorsichtig, die Presse ist es minder. Die klerikalen Blätter, deren Verkäufer auf den Straßen von Lourdes schreien wie die Zahnbrecher, sind mit einem Wunder schnell bei der Hand. Die »Annales de Lourdes« und »La Revue de Lourdes« sind ernster zu nehmen, beide strotzen von pseudowissenschaftlichem Ernst und zelotischem Eifer gegen die, so nicht glauben.

Sämtliche persönlichen Anwürfe gegen die Mitglieder des Büros halte ich für falsch. Der törichte Vorwurf, sie seien bestochen, wird ja heutzutage kaum noch erhoben. Ganz abgesehen davon, daß die Ärzte, die dort tätig sind, den Eindruck rechtlicher und anständiger Männer machen und es sicherlich auch sind: bestechen …! Die katholische Kirche ist viel zu klug dazu. Nur der Unbegabte stiehlt – der Kluge macht Geldgeschäfte.

Es darf auch nicht gesagt werden, daß diese Ärzte etwa zu gutgläubig wären – die sehr kluge Praxis des Büros ist: Skepsis. Mächtige Waffe der katholischen Kirche gegen die Zweifler: dieses Büro ist so streng in seiner Nachprüfung, daß die Kranken ihm den Spitznamen »Bureau des Contestations« gegeben haben: Bestreitungsbüro. Und hat nicht eine Frau nach langem ärztlichem Examen aufgeschrien: »Dieser Mensch, der mir da gegenübersitzt, ist sicherlich ein Freidenker – er glaubt nichts!« – Der Mann war der verstorbene Chef-Arzt, Herr Boissarie, ein frommer Katholik. Also die Praxis ist es nicht.

»Lourdes … wer glaubt denn das schon –!« Die Sache ist wohl nicht damit abgetan, daß man durch die Nase bläst, ein in Norddeutschland sehr beliebtes Argument. »Ich kenne keinen Menschen, der noch solches Zeug …« Du kennst keinen? Aber du vergißt, daß es nicht die andern sind, die die Ausnahme bilden, sondern du, du selbst, Freigeist oder Faulgeist oder wirklich Überlegner – du bist es, der auf einer großen Insel sitzt.

Nach Lourdes sind gewallfahrt:

● 1873: 140.000

● 1883: 213.000

● 1908: 40.100

nach dem Kriege jährlich etwa 500.000–800.000 Menschen.

Das sind die Zahlen der offiziellen Wallfahrer; Einzelpilger, Touristen, Neugierige sind nicht einbegriffen. Bisher mögen etwa zwölf Millionen Pilger dort gewesen sein. Das ist ein Welterfolg.

Kommen nun in Lourdes übernatürliche Heilungen vor –?

Ich behaupte:

Das Büro des Constatations ist in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht in der Lage, eine Heilung festzustellen.

Die Konstatierung einer Heilung ist eine Vergleichung: die des Zustandes vor dem Wunder mit dem Zustand nach dem Wunder.

Nun: das Büro kennt den Zustand vor dem Wunder gar nicht.

Da es undurchführbar wäre, die Hunderttausende von Kranken vor dem Bad in den »piscines« zu untersuchen, so stellt sich der angeblich Geheilte, den das Büro nun zum ersten Mal zu sehen bekommt, mit einem Attest vor. Der Geheilte kommt also mit dem Zeugnis fremder Ärzte, die besagen, was ihm gefehlt hat. Nun untersucht das Büro den Kranken nach der Heilung, kennt also nur die eine Seite des Waagebalkens.

Denn wer sind diese attestierenden Ärzte –? Professoren? Kleine Landdoktoren? Welchen wissenschaftlichen Wert haben sie –? Wann sind diese Atteste ausgestellt –?

Diese Atteste sind wochenlang vor der Heilung ausgestellt, in den seltensten Fällen eine Woche vorher. Aber jeder Kurpfuscher sieht seine Kranken vor und nach den Praktiken und ist wenigstens in den Zeitangaben gedeckt, wenn er sich bescheinigen läßt: »Nach Ihrer Behandlung fühle ich mich bedeutend besser.« Und die behandelnden Ärzte zu Hause sehen die Kranken erst nach Wochen wieder, frühestens nach einer – also auch sie vermögen wenig von der exakten und sofortigen Wirkung der Wallfahrt auszusagen.

 

Die Statistik ist so minutiös – sorgfältig gibt das Büro des Constatations an, wieviel fremde und wieviel französische Ärzte dort gewesen sind … Aber das besagt gar nichts – denn sie können ja nichts sehen. Man öffnet ihnen alle Türen – aber es gibt wenig zu beobachten. Was sie untersuchen, sind kranke Männer und Frauen in einem bestimmten Zustand – was vorher war, wissen sie nicht aus eigenem Augenschein.

Die populäre Literatur wimmelt von Fotografien der Geheilten – eine Beweisführung, die etwa an die plattdeutschen Märchen denken läßt, in denen jemand vom Gnomenfürsten träumt, der da auf dem morschen Ast ritt und dann herunterpurzelte. »Und zum Beweis dessen, daß die Geschichte wahr ist – hier ist der Ast.«

Natürlich kämpfen die Lourdes-Leute wie die Mamelucken für ihre Sache. Und das ist nun ausnahmsweise kein Wunder. »Ce que l’amoureux fait pour sa maîtresse«, sagt Sighele einmal, »l’artiste le fait pour son art, le savant pour sa science, le sectaire pour la secte.« Und sie passen auf –! Ein kleiner Irrtum des Zweifelnden, ein Versehen des Kritikers im winzigsten Nebenumstand, und es erfolgt ein allgemeines Schütteln des Kopfes. Da seht ihrs –! Der Mann ist nicht exakt, also nicht glaubwürdig, also haben wir recht. So wird hier gekämpft.

Worum wird gekämpft –?

Die offiziellen Zahlen der Heilungen sind verhältnismäßig klein.

● 1858: 27

● 1864: 3

● 1874: 31

● 1883: 145

(gänzlich unkontrolliert. Das Büro besteht erst seit 1884)

● 1893: 101

● 1903: 133

Die Zahl für 1924 wurde mit 22 angegeben. Im Jahre 1925 wird sie aller Voraussicht nach noch geringer sein.

Unter den Propagandaberichten finden sich ein paar besonders schöne Fälle.

Da ist Herr Gargam, der im Dezember 1899 bei einem Eisenbahnzusammenstoß böse verletzt wurde: Fleischwunden, Schlüsselbeinbruch, Lähmung und Muskelsteife des gesamten Unterkörpers vom Gürtel an. Man hat große Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu ernähren. Die Schadensersatzklage gegen die Eisenbahngesellschaft Paris – Orléans führt zum obsiegenden Urteil: 3000 Francs jährliche Rente, die später auf 6000 erhöht wurde, sowie eine einmalige Auszahlung von 6000 Francs. Am 12. August 1901 verzichtet die Gesellschaft auf weitere Rechtsmittel und erklärt sich bereit, zu zahlen. Acht Tage später, am 20. August, ist Herr Gargam in Lourdes unter den Geheilten.

Da ist Frau Rouchel aus Metz, einer der bösesten Fälle von Lourdes. Die alte Frau litt an einem Lupus, ihr Gesicht war entsetzlich entstellt, es bestand aus einer einzigen Wunde. Sie kam am 4. September 1903 nach Lourdes; eine grauenhafte Qual, sie anzusehen, eine Plage für die Nachbarn. Die Wunde roch stark und eiterte. Sie wußte, daß sie allen lästig fiel und wollte nicht im Menschengetümmel bleiben, das stets vor ihr zurückwich; sie flüchtete sich in eine kleine Seitenkapelle der Kirche. Als das heilige Sakrament an ihr vorbeikam, fiel ihr Verband, mit Blut und Eiter getränkt, auf ihr Gebetbuch. Als sie ins Hospital zurückkam, war sie geheilt. Mirakel –!

Nachschrift: Frau Rouchel starb im Krankenhaus zu Bondecours mit völlig zerfressenem Gesicht. Und das war kein Lupus. Es war das tertiäre Stadium der Syphilis, von der ihr Arzt in dem Attest aus Gefälligkeit nichts gesagt hatte. Sie hatte beide Krankheiten. Die Geschichte machte in Metz einen Höllenspektakel, der Arzt wurde von seinen Kollegen fallengelassen, die alle sehr wohl wußten: daß solche Erscheinungen des tertiären Stadiums oft ebenso rasch verschwinden, wie sie gekommen sind.

Und so gibt es noch viele.

Die Kirche verlangt nun von einem Wunder, damit sie es als Wunder ansehe:

Keine nervöse Erkrankung. Unmittelbarkeit der Heilung.

Der Ausschluß der Hysterischen … das ist nicht immer so gewesen. Denn es ist ja unzweifelhaft, daß der größte Teil der Wunderheilungen im Mittelalter Neurastheniker, Hysteriker, Hysterische, Nervöse betraf – gaben die sich für geheilt aus, so sah man sie als begnadet, ausersehen und durch Gott und die Jungfrau geheilt an. Seit die Wissenschaft dieses Feld besetzt hat, hat es die Kirche geräumt. Sehr früh schon – etwa um 1734 – hat der Kardinal Prospero Lambertini, der spätere Papst Benedict XIV., davor gewarnt, Nervöse in die Wundergeschichten einzubeziehen. Was aber wäre, wenn die Psychologie und die Psychiatrie den nervösen Krankheiten nicht so nah gerückt wäre –? Die Kirche nähme diese Kranken noch heute für sich in Anspruch.

Denn vorläufig schwerer angreifbar steht sie auf dem kleinern Feld, das ihr geblieben ist: auf der wunderbaren Heilung organisch Kranker. Da läßt sie sich nichts abhandeln. Sie verlangt nur Unmittelbarkeit der Heilung.

Von einer Unmittelbarkeit kann nun zunächst in keinem Fall die Rede sein. Bechterew sagt einmal, als er in seiner »Bedeutung der Suggestion für das soziale Leben« von Wunderheilungen spricht: »Der Boden für zukünftige Heilungen beginnt sich bereits in dem Augenblick vorzubereiten, sobald der Kranke zum erstenmal das Gerücht von der Wunderkraft des Heiligtums vernimmt und in seiner Seele der erste Hoffnungsfunke entfacht ist.« Reißt also ein aufgegebner und scheinbar unheilbarer Kranker sein letztes Willensreservoir zusammen und beschließt, nach Lourdes zu gehen, so beginnt der seelische Prozeß in diesem Augenblick, wochen-, vielleicht monatelang vor der Reise. Das später ausgestellte Attest besagt wenig.

Nun tagt die Kommission in Lourdes. Aber was sind denn das für Ärzte –! Ich habe mehr als hundert Befunde und Bescheinigungen dieser Leute gelesen, und ich muß sagen, daß mir so etwas noch niemals unter die Finger gekommen ist. Sie haben eine Heilung unter den Augen, sie sehen sie, sie können die neu funktionierenden Organe befühlen, radiographieren – – und sie setzen an den Schluß aller ihrer Zeugnisse: »Solche Heilungen kommen in der Medizin nicht vor – sie haben also übernatürlichen, keinen medizinischen Charakter.«

Das unglückselige Wort Richets von der Unwandelbarkeit der physikalisch-chemischen Gesetze, so recht ein Zeugnis von Kurzatmigkeit des Verstandes, flachstem Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft und leiser Überheblichkeit, das Wort, noch dazu aus seinem Zusammenhang gerissen, hat denen in Lourdes grade noch gefehlt.

Und hierin gleicht Richet zu seinem Nachteil gar nicht den Theologen, und Rousseau hat allen Mathematik-Orthodoxen dies ins Stammbuch geschrieben: »Tout au contraire des théologiens, les médecins et les philosophes n’admettent pour vrai que ce qu’ils peuvent expliquer, et font de leur intelligence la mesure des possibles.«

»Dieses Rückenmarksleiden wird niemals von uns geheilt – also ist es nicht heilbar. Ein Wunder! Ein Wunder!«

Ein Wunder von Ärzten.

Aber dann macht doch die Augen auf, wenn ihr dergleichen seht –! Ihr habt solche Heilungen noch nie beobachtet? Dann steckt die Nase in die Bücher, lernt etwas und denkt nach, warum doch geheilt worden ist, auf welchem Wege, durch welche Einwirkungen … Zu grobfingrig, um diese Gewebe aufzudröseln, transponieren sie Kräfte, die sie nicht kennen, nach außen, und die Mutter Maria steht in aller Pracht vor ihnen.

»Kräfte, die sie nicht kennen …« Ach, dieses Wort darf man in Lourdes gar nicht aussprechen, ohne daß man von einem Hohngeschrei überfallen wird. Es gibt keine Kräfte, die wir nicht kennen! Das wäre ja noch schöner! Schwatzt nicht von unbekannten Kräften! Eben die sind Gott. Nun habens ihnen die Gegner nicht so schwer gemacht. Das bis zur Erschlaffung dem Phänomen Lourdes entgegengeschleuderte Wort heißt: »Suggestion«.

Wundt: »Es hat keinen Sinn, alle seelischen Erscheinungen, von der normalen Assoziation und Assimilation an bis zu mehr oder minder phantastischen Illusionen und Sinnestäuschungen, unter den Begriff der Suggestion zu vereinigen, und diesen so zu einem Allerweltsbegriff zu machen, der, weil er alles bedeuten soll, in Wahrheit nichts mehr bedeutet. Das Wort ›Suggestion‹ erklärt ja überhaupt nichts. Es gewinnt erst einen psychologischen Wert, wenn man die elementaren psychischen Prozesse aufzeigt, deren besondre Verbindung in diesem Ort zusammengefaßt wird.« Und weil das die Gegner so oft schuldig bleiben – deshalb habens die Wundergläubigen so leicht.

Die katholische Wundererklärung, auch die durch die Ärzte, grade die durch die Ärzte, ist scholastisch durchgearbeitet. Bleibt zum Beispiel eine Narbe vom alten Leiden übrig, so scheut sich doch ein erwachsener Mann nicht, das als »Signatur Gottes« anzusehen, gewissermaßen ein Fabrikzeichen. »Nur echt mit…«

Die Anschauungen, denen man in dieser katholischen Ärzte-Literatur über Suggestion begegnet, sind zum Teil wahrhaft kindlich. Bertrin nimmt allen Ernstes das Diktum eines Laien-Hypnotiseurs auf, der ihm in Lourdes sagte: »In Lourdes gibt es überhaupt keine Suggestion. Die Priester, die die religiösen Beschwörungen vornehmen, denen die Menge respondiert, beten, anstatt zu befehlen. So suggeriert man nichts.« Ich weiß nicht, wo der betreffende Herr Hypnotisieren gelernt hat – aber ich möchte mich nicht von ihm behandeln lassen.

Eine der exaktesten Definitionen der Suggestion steht bei Bechterew. »Suggestion beruht auf unmittelbarer Überimpfung bestimmter Seelenzustände von Person auf Person mit Umgehung des Willens, ja, nicht selten auch des Bewußtseins des Aufnehmenden.« Und: »Nicht durch den Haupteingang, sondern sozusagen von der Hintertreppe aus, gelangt der Eindruck … unmittelbar in die innern Gemächer der Seele.« Die Definitionen von Liébault, Löwenfeld, Forel, Wundt, Binet und den großen Franzosen erreichen das nicht an Klarheit – wetteifern kann nur noch Moll, bei dem es etwa heißt: Suggestion sei der Fall, wo eine Wirkung dadurch bedingt wird, daß man die Vorstellung ihres Eintretens erweckt. Und das ist der Fall Lourdes.

Wird nun hier »ohne Mithilfe von Logik« suggeriert, wie Bechterew das als typisch angibt –? Viel klüger: es wird mit einer Scheinlogik gearbeitet. Die Legende der seligen Bernadette, die Geschichte der Wunderheilungen, ihre etwas mystische Theorie, die da auf Erklärung verzichtet, wo man Erklärungen wünscht, und so das schöne Halbdunkel erzeugt, in dem der Glaube gedeiht – das alles greift ineinander wie die Zähne eines Räderwerks, und diese Wissenschaft für die kleinen Leute geht denen ein wie Öl. Die Kleriker haben auf alle Angriffe einen Einwand, für jeden Beweis einen Gegenbeweis, und es ist wie mit den Juristen: folgt man ihnen einmal auf diesen Morastboden der Klopffechterei, ist alles verloren. Sie nennen das beide – Kirche und Rechtswissenschaft –: die Gesetze der Vernunft. Und vergessen nur, daß sie stets herausinterpretieren, was sie vorher stillschweigend hineininterpretiert haben.

Nun ist aber Suggestion kein krankhafter Vorgang, sondern etwas dem menschlichen Leben durchaus Natürliches, eine Sache, mit der die Gesellschaft steht und fällt; ohne Suggestion ist kein Zusammenleben denkbar. Diese Spezialsuggestion von Lourdes setzt zunächst die Behauptung in die Voraussetzung, supponiert den Gott, den sie ja grade beweisen will, und appelliert außerdem an viel tiefere Instinkte.

»Unser ganzes Bestreben geht darnach, geliebt, bewundert, beneidet oder wenigstens bemitleidet zu werden … die Gedankenwelt andrer zu bevölkern, die uns lieb sind oder die uns imponieren.« (Gleichen-Rußwurm.) Das ist es.

Ich habe im Büro des Constatations ein junges Mädchen gesehen, das wollte sich eine Wunderheilung attestieren lassen. Die Unterhaltung war der Typus eines Kuhhandels. »Tun Sies doch, Herr Doktor!« – »Eine gewöhnliche Besserung von Sodbrennen – das genügt nicht, Fräulein!« – Die Augen des Mädchens glänzten, es hatte einen puterroten Kopf und kämpfte um sein Leben. Draußen hatten sie eben eine scheinbar Geheilte vorbeigetragen, das Klatschen und die begeisterten Zurufe lagen noch in der Luft – Sie auch! sie auch! Eine Rolle spielen, bewundert werden, auserlesen sein unter Tausenden – sie auch. Sie entfernte sich, enttäuscht, gekränkt, in ihren tiefsten religiösen Gefühlen getroffen – wie nach einem verlornen Gefecht.

Aber suggeriert der behandelnde Arzt nicht auch –? Hypnotisiert er nicht –? Ist nicht ein Teil seiner Wirkung eingestandnermaßen in persönlicher Suggestion zu suchen –?

Und hier scheint mir Zola, der mitgedacht wird, wenn Lourdes gedacht wird (was nach einem Raabeschen Wort »Ruhm« bedeutet) – hier scheint mir dieser tapfere und wirkungsvollste Vorkämpfer, dessen Roman in Deutschland berühmter ist als bekannt, einen Schuß nicht abgefeuert zu haben. Wie haben sie ihn bespien – wer erinnert sich nicht noch des Unflats, der bei den Frommen aufdampfte, als er tödlich verunglückte! Sie haben ihm sogar vorgeworfen, er habe in »Lourdes« die Geistlichen beschimpft, wofür es keine Stelle als Beleg gibt … Nein, es sitzt anderswo. Das Wort »Suggestion« reicht in der Tat nicht aus.

 

Die Literatur über das Individuum in der Masse ist klein. Ganz zu schweigen von Experimentalpsychologen, deren lächerlichste Vertreter an Apparaten herumhantieren und Versuchsreihen aufstellen, die so lang sind wie ihr Instinkt kurz – es ist auch grundfalsch, die Natur der Massenerscheinungen am Individuum zu studieren und in verkehrter Gründlichkeit bei ihm anzufangen. Das Wesen des Meeres ist aus dem Tropfen nicht ersichtlich. Lourdes ist ein Massenphänomen und nichts als das.

»In eine Menge zu gehen, ist, wie in ein Choleradorf gehen«, hat ein englischer Soziologe gesagt. Und diese Ansteckungserscheinungen sind von den Regeln der Individualpsychologie grundlegend verschieden, die beiden sind gar nicht kommensurabel. Der Gedanke, daß eine Versammlungsrede in kleinem Kreise leicht komisch wirkt, ist nicht neu – aber viel zu wenig ausgearbeitet. Denn hier sitzt der Kern. Was tut nun Lourdes mit den Massen? Es versetzt zunächst die fernen Kranken durch seine Reputation, die künstlich genährt und gesteigert wird, in sanften Schwindel. Die Wallfahrten sind ja nicht spontan, sondern sorgfältig organisiert, ihre Beteiligung ist häufig unter mehr oder minder starker Beeinflussung erfolgt. Die Millionen strömen nicht zusammen, nur von individuellem Willensimpuls getrieben, die Reisen rühren nicht aus lauter von einander unabhängigen Einzelentschlüssen her, sondern sie sind kollektiv zustande gekommen. Die Disposition für die große Massensuggestion, die da einsetzt, ist also denkbar günstig. Kommt die manchmal ungenügende ärztliche Pflege hinzu, das Mißlingen von ärztlichen Kuren, die scheinbare oder wirkliche Unmöglichkeit, geheilt zu werden – so wird sich der Kranke um so eher dem neuen Hoffnungsstern hingeben.

Nun reist er nach Lourdes.

In dem Augenblick, wo der Patient den Zug betritt, kommt er aus der Masse nicht mehr heraus. Er ist nie mehr allein. In den Hospitälern liegen sie zu zwanzig, dreißig. Er ist fast ständig unter Tausenden, meist unter Hunderten, und Leidensgefährten sprechen miteinander. Die Ärzte unter meinen Lesern kennen die »Wartezimmer- Gespräche« in den Polikliniken, wo Frau Knautschke Fräulein Lindemüller von ihrem großen Ding am Knie erzählt, und was der Doktor gesagt hat, was man da tun müsse, und was man nicht tun dürfe… Jeder gibt seinen Senf dazu, Schauergeschichten steigen zur Decke, und alle sind schwere Fälle, und alle wollen bemitleidet und sehr ernst genommen werden. An guten Ratschlägen von allen Seiten fehlts nicht. Das, genau das, ist die Luft von Lourdes. Ich habe die Unterhaltungen alter Frauen auf dem großen Platz während der Prozession mit angehört: kein Komma war anders als in der Berliner Charité vor der allgemeinen Sprechstunde. »Un denn, Frau Millern, ick hab imma heiße Linsen mein’ Mann hinten ruffjepackt – das hat’n ja sehr jut jetan …« Auf die Art.

Gruppen sind ein Leib. Aber das ist überall so. Ein Soldat wurde bei einer Besichtigung gefragt: »Sie stehen im Feuergefecht mit dem Gegner, der energisch vordringt. Ein Schütze neben Ihnen ruft, daß man sich nicht mehr halten könne, man müsse zurückgehen. Was tun Sie?« – »Ich gehe zurück!« sagte der Soldat. – »Warum?« – »Weil wir uns nicht mehr halten können.« Ganz Lourdes in einem Satz.

Man betrachte ja nicht die Massen in Lourdes als einen Haufen Ekstatischer und religiös Verzückter. Im Gegenteil: die Atmosphäre ist recht kleinbürgerlich, es sind Bauern und kleine Bürger, die da zur Heilung kommen – und tobende Ausbrüche sind recht selten. Als Hellpach noch Nervenarzt war, hat er einmal davon gesprochen, daß »nicht jede Epidemie, in der ein paar Hysterische sich herumtreiben, eine hysterische Epidemie ist; von den wirklichen hysterischen Epidemien ist die große Menge der bloß mit hysterischen Zügen Geschmückten sorgfältig zu sondern.« So auch hier. Nein, es ist ganz etwas anderes als Hysterie.

Es ist das Beispiel. Es ist die Nachahmung. Es ist die Geste.

Man falte einer Hysterischen in der Hypnose die Hände – und ihr Gesicht nimmt einen flehenden Ausdruck an. Man versetze sich mit zornigen Gesten in einen zunächst fingierten Zustand der Raserei, und das Blut steigt langsam zu Kopf. (Der Schauspieler sei hier ausgenommen.) Espinas, der französische Tierpsychologe, erklärt mit Recht so die geistige Ansteckung unter Tieren. Vom Gesumm der Wespen: »Die andern Wespen hören dieses Geräusch, können es sich aber nur vorstellen, indem diejenigen Nervenfasern, die es gewöhnlich auslösen, gleichzeitig mehr oder minder erregt werden … Wir denken nicht nur mit unserm Gehirn, sondern mit unserm ganzen Nervensystem.« Nun – hier in Lourdes wird nicht gesummt. Hier wird der Heilwille angespannt.

»Die Wunden der Sieger schließen sich schneller als die der Besiegten«; das gilt auch körperlich. Die Seelenheiterkeit, die gute Stimmung, der Wille, gesund zu werden – wer kennt das nicht –! Und der wird hier aufgereizt, angespannt, hochgepeitscht…

Ein besonders schönes Beispiel von Massensuggestion sind die Lungenkranken aus der Heilanstalt zu Villepinte, deren Belegschaft jedes Jahr wiederkam. 1896 werden acht von vierzehn Personen geheilt, 1897 acht von zwanzig (darunter nur vorübergehende Besserungen), 1898 vierzehn von vierundzwanzig. Unnötig, auszumalen, was sich das ganze Jahr hindurch in der Lungenheilanstalt abgespielt hat – die Gespräche, die gegenseitigen Ermunterungen, die ununterbrochenen Wach-Suggestionen, die Reiseberichte… Einen günstigern Boden gibt es nicht.

Nun könnte man sagen: aber wie verhält es sich mit der Heilung von Kindern, die kaum oder noch gar nicht sprechen können, auf die also die Wirkung einer normalen Wort- und Bildsuggestion nicht in Frage kommen kann? Der Professor Bertrin führt eine große Anzahl an: 1897 ein Kind von knapp drei Jahren, 1896 ein Kind von zwei Jahren, er geht sogar bis auf das Jahr 1858 zurück … Aber grade bei Kindern erscheint mir die Sache besonders zweifelhaft: denn da sind es die Krankheitsberichte der Eltern, die färben, die ihr Kind geheilt haben wollen, und die nicht wissen, daß es gerade bei Kinderkrankheiten verblüffende Fälle von raschen Konstitutionsveränderungen gibt.

Liest man die kirchlichen Bücher, so hat man den Eindruck, wie wenn sich dergleichen noch nie ereignet hätte. Damals, als der Präfekt von Tarbes die Grotte schließen wollte, erhob sich die ganze Gegend. »Von dem Tage an, als die Gendarmen erschienen und die Leute von Strafe hörten, war die Aufregung so stark, daß sich die ganze Gemeinde und auch die Nachbargemeinden, wie vom Widerspruchsgeist getrieben, für diese Neuerung begeisterten.« Aber das ist nicht Lourdes, sondern stammt aus einer Wundergeschichte, die in Trennfeld im Jahre 1892 spielte. Es ist alles schon einmal dagewesen, und es kommt alles wieder, auch die Wunder. Grade die Wunder. Sie haben ihre Gesetze.

Dergleichen ist ja nicht neu. Der Doktor Vachet aus Paris, der übrigens eine sehr verdienstvolle Aufklärungsschrift über Lourdes geschrieben hat, zeigt genau dieselben Methoden bei einem Mann auf, der sogar in Paris einen Saal knüppeldick voller Menschen hatte: Herr Béziat, ein Landwirt, der die Leute durch Zuspruch heilte. Und der sagte offen, was es ist: der Wille. Wobei er die Bemerkung macht, daß der Kranke durch den fremden Appell an die »Lebensquelle«, die sich nun gegen die Krankheit aufbäumt, zunächst noch mehr leide – eine sehr feine und treffende Beobachtung.

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