Sachenrecht nach Anspruchsgrundlagen

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7. Fehlerfreier und fehlerhafter Besitz

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Fehlerhaft ist nach § 858 II 1 der durch verbotene Eigenmacht erlangte Besitz. Fehlerhaft besitzt nach § 858 II 2 auch der Erbe des Störers sowie jeder andere Besitznachfolger, wenn er bösgläubig ist. Die Rechtsfolge regelt § 861 I mit § 863: Der fehlerhafte Besitz ist dem früheren Besitzer zurückzugeben, ohne dass der fehlerhaft Besitzende sich mit einem Recht zum Besitz verteidigen darf. Fehlerhaft ist also auch der rechtmäßige Besitz, wenn er durch verbotene Eigenmacht erlangt ist. „Fehlerhaft“ und „rechtswidrig“ sind zwei verschiedene rechtliche Kategorien.

3. Kapitel Der unmittelbare Besitz

1. Die gesetzliche Definition

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Wenn § 854 I den Besitz als tatsächliche Gewalt über eine Sache definiert, meint er den unmittelbaren Besitz; von ihm handeln die §§ 854-864, während der mittelbare Besitz, der ohne tatsächliche Sachherrschaft auskommt, erst in den §§ 868-871 auftaucht. Tatsächlich beherrsche ich eine Sache stets dann, wenn ich ihr für eine gewisse Dauer räumlich so nahe bin, dass ich sie jederzeit ungehindert ergreifen kann, unabhängig davon, ob ich dazu berechtigt bin oder nicht.

Als tatsächliche Sachherrschaft[2] steht der unmittelbare Besitz im Gegensatz zur rechtlichen Sachherrschaft des Eigentums. Besitz ist tatsächliche Sachherrschaft mit und ohne Recht zum Besitz, Eigentum dagegen ist rechtliche Sachherrschaft mit und ohne Besitz. Besitzer ist nicht nur der Erbbauberechtigte, der Mieter und der Finder, sondern auch der Dieb, der die Sache dem Eigentümer gestohlen hat.

Tatsächliche und rechtliche Sachherrschaft sind nach geltendem Recht zwei verschiedene Herrschaften, die im Normalfall zwar in einer Hand liegen, aber unterschiedliche Rechtsfolgen haben. Besitzstörungen wehrt man nach §§ 859-864, Eigentumsstörungen dagegen nach §§ 985-1004 ab.

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Abgrenzen muss man den Besitz des BGB auch vom Gewahrsam der ZPO. Nach § 808 I ZPO pfändet der Gerichtsvollzieher, der einen Zahlungstitel vollstreckt, nur Sachen, die sich im Gewahrsam des Schuldners befinden. Diese Sachen darf er – vollstreckungsrechtlich – auch dann pfänden, wenn sie nicht dem Schuldner gehören. Umgekehrt darf er Sachen, die sich im Gewahrsam eines nicht herausgabewilligen Dritten befinden, nach § 809 ZPO auch dann nicht pfänden, wenn sie dem Schuldner gehören.

Da der Gerichtsvollzieher außer Stande ist, die unsichtbaren Eigentumsverhältnisse zu klären, hält er sich an den sichtbaren Gewahrsam des Schuldners. So wie § 1006 I materiellrechtlich vom unmittelbaren Besitz auf Eigentum schließt, so unterstellt § 808 ZPO vollstreckungsrechtlich, dass dem Schuldner alle Sachen, die sich in seinem Gewahrsam befinden, auch zu Eigentum gehören. Der Gewahrsam des § 808 ZPO deckt sich also mit dem unmittelbaren Besitz des § 854 I, während die Rechtsfigur des Besitzdieners nach § 855 und der ererbte Besitz nach § 857 auf den Gewahrsam des § 808 ZPO nicht übertragbar sind. Im Übrigen sehen BGB und ZPO im unmittelbaren Besitz des Eigentümers und im Eigentum des unmittelbaren Besitzers den augenscheinlichen Normalfall.

Aber auch die ZPO unterscheidet zwischen der tatsächlichen und der rechtlichen Sachherrschaft, zwischen Gewahrsam und Recht. Verfahrensrechtlich ermächtigt zwar § 808 I ZPO den Gerichtsvollzieher zur Pfändung aller Sachen im Gewahrsam des Schuldners. Materiellrechtlich hingegen darf der Gläubiger nur in das Vermögen des Schuldners vollstrecken; sein Zugriff auf schuldnerfremdes Vermögen ist nach materiellem Recht rechtswidrig. Der Dritte, dem die gepfändete Sache gehört, darf deshalb nach § 771 ZPO widersprechen und die Zwangsvollstreckung für unzulässig erklären lassen[3]. Kommt er damit zu spät, kann er vom Gläubiger nach § 812 I die Herausgabe des Versteigerungserlöses oder nach § 823 I gar Schadensersatz verlangen.

2. Die Funktion des unmittelbaren Besitzes im System des BGB

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Im System des BGB steht der unmittelbare Besitz für das Eigentum, das er verkörpert und publik macht, denn die tatsächliche Sachherrschaft des Besitzers kann man sehen, die rechtliche Sachherrschaft des Eigentümers nicht. Wem ein Fotoapparat, ein Fahrrad oder ein Auto von Rechts wegen gehört, sieht man mit bloßem Auge nicht, wohl aber, wer es besitzt, nämlich derjenige, der den Fotoapparat um den Hals hängen hat, der auf dem Fahrrad sitzt oder das Auto steuert. Es ist deshalb kein Zufall, dass das Gesetz vom sichtbaren Besitz auf das unsichtbare Eigentum schließt, denn die Gleichsetzung des unmittelbaren Besitzes mit dem Eigentum entspricht lebendiger Anschauung und bezeichnet deshalb, wenn auch nur für bewegliche Sachen, den gesetzlichen Normalfall.

So vermutet § 1006 I 1, dass der unmittelbare Besitzer mit dem Besitz zugleich Eigentum erworben habe. Zwar gilt dies nur für den Erwerb des unmittelbaren Eigenbesitzes nach § 872, aber auch er wird folgerichtig vermutet. Wer etwas anderes behauptet, muss es im Streitfall beweisen (RN 1174).

Da der unmittelbare Besitz im Regelfall auf Eigentum verweist, wird eine bewegliche Sache nach § 929 S. 1 durch Einigung und Übergabe übereignet (RN 1104). Übergabe bedeutet Übertragung des unmittelbaren Besitzes, was voraussetzt, dass der Veräußerer nicht nur Eigentümer, sondern auch unmittelbarer Besitzer ist. Zwar kann man eine bewegliche Sache nach §§ 930, 931 auch ohne Übergabe übereignen, aber das sind bereits atypische Fälle, die vom System abweichen. Folgerichtig verpflichtet der Kaufvertrag, wenn nichts anderes vereinbart ist, nach § 433 I zur Übergabe und zur Übereignung.

Schließlich rechtfertigt der unmittelbare Besitz des Veräußerers nach § 932 I 1 den gutgläubigen Erwerb vom Nichteigentümer. Auf den unmittelbaren Besitz des Veräußerers darf man im Regelfall bauen (RN 1137).

Im Liegenschaftsrecht ist es nur deshalb anders, weil das Grundbuch, deutlicher noch als der Besitz, das Eigentum an Grundstücken ausweist und deshalb die Aufgaben der Rechtsvermutung, der Übertragung und des Gutglaubensschutzes übernimmt (§§ 891, 873, 892). § 433 I 1 verpflichtet aber auch den Grundstücksverkäufer nicht nur zur Übereignung sondern auch zur Übergabe.

3. Der Erwerb des unmittelbaren Besitzes

3.1 Zwei Möglichkeiten

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Unmittelbaren Besitz erwirbt man nach § 854 I „durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache“. Jedoch genügt nach § 854 II die Einigung zwischen altem und neuem Besitzer, „wenn der Erwerber in der Lage ist, die Gewalt über die Sache auszuüben“. Die „Erlangung der tatsächlichen Gewalt“ ist ein rein tatsächlicher Vorgang ohne Rechtsfolgewillen (Realakt) und der gesetzliche Normalfall. Die Einigung über den Besitzwechsel hingegen ist ein Rechtsgeschäft und ein gesetzlicher Sonderfall.

3.2 Die tatsächliche Gewalt über eine Sache

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Die tatsächliche Gewalt über eine Sache hat vier Voraussetzungen:


- eine nahe räumliche Beziehung zu der Sache, die den direkten und ungehinderten Zugriff auf die Sache ermöglicht;
-
-
-

Abbildung 6: Unmittelbarer Besitz


[Bild vergrößern]

Da es sich durchweg um tatsächliche Verhältnisse und Vorgänge handelt, entscheidet letztlich die Verkehrsanschauung darüber, ob das, was man vor Augen hat, unmittelbarer Besitz sei oder nicht[7]. Dass auch noch andere Personen eine gewisse Zugriffsmöglichkeit haben, schließt alleinigen unmittelbaren Besitz erst aus, wenn Mitbesitz anzunehmen ist[8]. Noch keine reale Sachherrschaft begründet der Anspruch auf Übergabe, denn er muss erst noch erfüllt werden[9].

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Der Wille zum Besitzerwerb muss sich nicht gezielt auf eine bestimmte Sache richten, sondern kann schon allgemein durch konkrete Vorkehrungen (Briefkasten, Wildfalle, Anweisungen an Personal) ausgedrückt werden[10]. Dagegen begründet eine unbewusste Zugriffsmöglichkeit ohne jeglichen Besitzerwerbswillen noch keinen Besitz[11].

 

Beispiele


- Das niedersächsische Staatsbad auf der Insel Norderney kann zwar an einem Teil des Nordseestrandes unmittelbaren Besitz erlangen (§ 865), muss dies aber für jeden, der sich dafür interessiert, durch Absperrung, Hinweisschild oder Aufstellen von Strandkörben sichtbar machen (BGH 44, 27: verneint unmittelbaren Strandbesitz, weil dafür nichts vorgetragen sei).
- „Findet“ ein Kunde in einem Supermarkt zwischen ausgelegten Waren einen Fünfhunderteuroschein, erlangt er daran keinen Besitz, weil schon der Inhaber des Supermarkts alle Sachen in seinen Geschäftsräumen besitzt. Dass er von der Existenz des Geldscheins nichts weiß, ist solange unschädlich, als der Geldschein nicht an unzugänglicher Stelle seinem Zugriff entzogen ist. Denn für seinen Besitzerwerb genügt hier sein allgemeiner Wille, alle Sachen in Besitz zu nehmen, die in den Geschäftsräumen verloren gehen. Dieser allgemeine Besitzerwerbswille muss allerdings durch geeignete Vorkehrungen sichtbar gemacht werden. Dafür genügt jedoch die Anweisung an das Personal, Fundsachen bei der Geschäftsleitung abzuliefern. Dann aber ist der Kunde mangels Besitzerwerbs weder Finder des Geldscheins nach §§ 965, 973, noch kann er ihn dem Geschäftsinhaber nach § 688 in Verwahrung geben, um ihn später, wenn sich der Verlierer nicht meldet, herauszuverlangen (BGH 101, 186). Eigenen Besitz erlangt der Kunde erst, wenn er den Geldschein nicht abliefert, sondern einsteckt und mit nach Hause nimmt, aber damit bricht er den unmittelbaren Besitz des Geschäftsinhabers und begeht verbotene Eigenmacht nach § 858 I.

3.3 Der Erwerb der tatsächlichen Sachherrschaft

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Erlangt wird die tatsächliche Herrschaft entweder durch Übergabe des Vorbesitzers oder ohne Übergabe durch Ergreifen der Sache. Danach unterscheidet man den abgeleiteten vom originären Besitzerwerb, und diese Unterscheidung ist wichtig für den Erwerb des Eigentums vom Nichtberechtigten nach § 932 I 1, denn eine bewegliche Sache, die ohne Willen des Vorbesitzers in andere Hände gelangt, kommt dem Vorbesitzer abhanden und kann deshalb nach § 935 I nicht gutgläubig erworben werden. Originären Besitz ohne Übergabe erlangen der Finder und der Dieb.

Die Übergabe ist kein Rechtsgeschäft, sondern ein tatsächlicher Vorgang (Realakt), denn sie zielt nicht auf eine Rechtsfolge, sondern erschöpft sich darin, die tatsächliche Sachherrschaft vom alten auf den neuen Besitzer zu übertragen[12].

Die Vorschriften der §§ 104 ff. über Rechtsgeschäfte sind auch nicht entsprechend anwendbar. Die Übergabe erfordert keine Geschäftsfähigkeit, der natürliche Wille zum Besitzwechsel, verbunden mit dem erforderlichen Verständnis für diesen tatsächlichen Vorgang, genügt vollauf. Bei der Übergabe kann man sich nicht vertreten lassen, aber man kann den Besitz nach § 855 durch Besitzdiener übertragen und erwerben (RN 40). Man kann die Übergabe auch nicht wegen Irrtums, arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung anfechten; entweder ist die Sache übergeben oder sie ist es nicht. Auch darin unterscheidet sich der Besitz vom Eigentum: Besitz überträgt man nach § 854 I durch eine tatsächliche Handlung, Eigentum nach § 929 S. 1 durch ein Rechtsgeschäft, das freilich neben der dinglichen Einigung auch wieder eine Übergabe erfordert.

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Übergabe ist willentliches Geben und Nehmen von Hand zu Hand[13]. Alleinbesitz erwirbt man auf diese Weise nur, wenn der Vorbesitzer seinen unmittelbaren Besitz ersichtlich vollständig aufgibt[14]; andernfalls entsteht nur Mitbesitz[15].

Beispiele


- Eine Wohnung übergibt man durch Aushändigung aller Wohnungsschlüssel (BGH NJW 79, 714: Bilder in der Wohnung; LM § 854 Nr. 8). Behält man einen Schlüssel zurück, entsteht nur Mitbesitz (BGH NJW 79, 714: Besitzdiener hat Zweitschlüssel; ferner OLG Düsseldorf NJW-RR 96, 839).
- Bestellte Ware übergibt der Lieferant schon durch Abladen vor dem Ladengeschäft; der allgemeine Besitzerwerbswille des Erwerbers genügt (BGH JR 68, 106; ferner DB 71, 40: Warenlager auf Fabrikgelände).

Noch keine Übergabe ist:


- das Gestatten der Wegnahme; erst die erlaubte Wegnahme vollendet die Übergabe (BGH 67, 209; RG 153, 261);
- der Abschluss eines Treuhandvertrags, solange der Treuhänder das Treugut noch nicht in seiner Gewalt hat (RG 151, 186);
- das Verbringen der beweglichen Sache auf ein umzäuntes Gelände, zu dem der Adressat keinen Schlüssel hat (BGH JR 75, 214).
- Verneint wurde eine Übergabe auch in folgendem Fall: Die Aussteuer der Braut lagert, als die Verlobung in die Brüche geht, im Zimmer des Bräutigams, der im Hause seines Vaters wohnt. Die Herausgabeklage der Braut gegen den Vater des Bräutigams scheitert am fehlenden Besitz des Beklagten (RG 106, 135).

3.4 Die Einigung über den Besitzerwerb statt einer Übergabe

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Nach § 854 II geht der unmittelbare Besitz schon durch die bloße Einigung des Vorbesitzers mit dem Erwerber über, wenn dieser „in der Lage ist, die Gewalt über die Sache auszuüben“. Voraussetzung ist ein Besitz, der dem Zugriff des Erwerbers bereits offen steht. In diesem Sonderfall ersetzt die Einigung die normalerweise erforderliche Übergabe.

Anders als die Übergabe nach § 854 I ist die Einigung nach § 854 II ein Rechtsgeschäft nach §§ 104 ff., kann stillschweigend durch schlüssiges Verhalten und durch Vertreter geschlossen werden, wegen Geschäftsunfähigkeit nichtig sein und wegen eines Willensmangels angefochten werden. Die Einigung ist aber kein Verpflichtungsvertrag[16], sondern ein dinglicher Vertrag, der unmittelbaren Besitz überträgt, so wie die dinglichen Einigung nach § 929 S. 2 Eigentum überträgt[17].

Fraglich ist, ob die nichtige oder durch Anfechtung vernichtete Einigung aus der willentlichen Übergabe ein unfreiwilliges Abhandenkommen nach § 935 macht. Dagegen spricht, dass der Vorbesitzer mit dem Besitzverlust tatsächlich einverstanden war.

Der Vorbesitzer ist mit dem Besitzwechsel nach § 854 II aber nur dann einverstanden, wenn er seinen Besitz erkennbar vollständig aufgeben will[18]. Tatsächlich ergreifen muss der Erwerber die Sache nicht, es genügt, dass er dies jederzeit ohne Hilfe des Vorbesitzers ungehindert tun kann[19].

Beispiele


- Holz lagert abfuhrbereit im Wald, und der Erwerber hat bereits die Abfuhrerlaubnis des Vorbesitzers (BGH LM Nr. 1).
- Der Heizungsbauer schließt im Neubau Heizkörper noch ohne Anstrich probeweise an („Rohmontage“). Da er damit seinen Willen zur Besitzaufgabe ausdrückt, erlangt der Hausbesitzer unmittelbaren Besitz. Der Eigentumsvorbehalt des Lieferanten verhindert den Besitzwechsel nicht (BGH 58, 314: zu § 55 II ZVG).
- Gestattet der Hofpächter seinem Kreditgeber, die Ernte zu verwerten, so erlangt dieser unmittelbaren Besitz an der Ernte erst mit deren Trennung vom Grund und Boden. Für einen früheren Besitzwechsel nach § 854 II fehlt es an einem „offenen“ Besitz, solange der Pächter die Hofschlüssel behält und weiterhin – wenn auch nach Weisung des Kreditgebers – die Felder bestellt, denn so behält er zumindest unmittelbaren Mitbesitz (BGH 27, 362: auch kein Fall des § 855).
- Kurz vor seinem Tod „schenkt“ ein Rechtsanwalt im Krankenhaus seiner Nichte etliche Bilder, die in seiner Wohnung hängen; dort befindet sich auch seine Kanzlei. Damit die Nichte dort vorübergehend wohnen kann, händigt er ihr die Wohnungsschlüssel aus. Einen weiteren Schlüssel hat die Bürovorsteherin der Kanzlei. Da die Witwe und Alleinerbin mit der „Schenkung“ nicht einverstanden ist, klagt die Nichte auf Herausgabe der Bilder. Einzige Anspruchsgrundlage ist § 985. Nach §§ 929, 854 II ist die Nichte nicht Eigentümerin der Bilder geworden. Die Einigung nach § 854 II kann zwar mit der nach § 929 zusammenfallen. Die Nichte hatte aber nie die reale Möglichkeit, die alleinige Sachherrschaft über die Bilder ungehindert auszuüben, denn der Rechtsanwalt hatte seinen unmittelbaren Besitz noch nicht vollständig aufgegeben. Die Erlaubnis, die Bilder abzuholen, verschaffte der Nichte bestenfalls Mitbesitz, denn auch die Bürovorsteherin besaß noch einen Wohnungsschlüssel und vermittelte als Besitzdienerin nach § 855 dem Rechtsanwalt nach wie vor zumindest unmittelbaren Mitbesitz (BGH NJW 79, 714: aber vielleicht Übereignung nach § 930).

3.5 Besitzübertragung und Besitzerwerb durch Hilfspersonen

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Stellvertretung nach §§ 164 ff. gibt es nur für den Besitzerwerb nach § 854 II (und nach §§ 868, 870), nicht nach § 854 I. Nur die dingliche Einigung nach § 854 II ist ein Rechtsgeschäft, die Übergabe nach § 854 I hingegen eine tatsächliche Handlung ohne Rechtsfolgewillen[20].

Oft erfüllt die Rechtsfigur des Besitzdieners, der nach § 855 für seinen Besitzherrn besitzt, auf andere Weise den gleichen Zweck, denn die tatsächliche Sachherrschaft des Besitzdieners wird ohne weiteres dem Besitzherrn zugerechnet (RN 44 ff.). Hat der Besitzdiener auch noch Vertretungsmacht, kann er für seinen Herrn nach §§ 929, 164, 855 sowohl unmittelbaren Besitz als auch Eigentum übertragen und erwerben[21].

Beispiel

Der Prokurist kauft und erwirbt namens seines Prinzipals eine neue EDV-Ausstattung für sein Büro. Den Kaufvertrag und die dingliche Einigung nach § 929 S. 1 schließt er kraft Prokura, den Besitz erwirbt er nach § 855 als Besitzdiener. Käufer und Eigentümer wird nach §§ 433, 929 mit § 49 I HGB direkt der Prinzipal, den unmittelbaren Besitz erlangt er nach § 855 (RG 71, 252).

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Die juristische Person, die überhaupt nur durch ihre Organe (Vorstand, Geschäftsführer) handeln kann, erwirbt auch Besitz direkt durch ihre Organe, ohne dass man dafür § 855 bemühen muss, denn die tatsächliche Sachherrschaft, die das Organ für die juristische Person erlangt, wird, wie es sich für ein Organ gehört, ohne Umschweife der juristischen Person zugerechnet[22]. Wenn aber der Geschäftsführer der GmbH die Sache auch noch nach seiner Abberufung in seiner tatsächlichen Gewalt behält, erwirbt er selbst den unmittelbaren Besitz[23].

Das gilt auch für OHG und KG; sie sind zwar noch keine juristischen Personen, sondern Gesamthandsgemeinschaften, aber § 124 HGB verselbstständigt sie rechtlich weitgehend[24]. Der Kommanditist jedenfalls hat in aller Regel keinen Besitz an den Sachen der KG[25].

 

Im Unterschied zu OHG und KG wurden die Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft früher Mitbesitzer (§ 866), wenn nicht die Sachherrschaft nur einem oder einigen Gesellschaftern überlassen war[26]. Für die rechtsfähige Außengesellschaft[27] ist dies überholt, auch sie kann inzwischen wie OHG und KG selbst umittelbaren Besitz erwerben.

Insolvenz- und andere amtliche Verwalter sowie Testamentsvollstrecker sind weder Vertreter noch Besitzdiener, sondern besitzen selbst die Sachen, die zum verwalteten Sondervermögen gehören (Arg. § 80 I InsO; § 2205 S. 2).