Giftmord

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Wäre bei der Familie Vollenweider kein Geld vorhanden gewesen, wären die Mahlzeiten in dieser Familie anders ausgefallen, und Verena hätte das eine oder andere Mal vielleicht Hunger haben müssen. Eine Erfahrung, die Verena im kleinen Haus in Gränichen gemacht hatte. Bei Vollenweiders war der Tisch immer gut gedeckt. Suppe und Gemüse gab es fast jeden Tag und Fleisch mehrmals die Woche. Eine weitere Erfahrung, welche einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterliess, war ihre Feststellung, dass saubere Kleider immer eine gute Visitenkarte darstellten. Waren diese neu, umso besser. Die Familie trug am Sonntag immer ihre neuesten und besten Kleider, egal ob sie nur zu Hause waren, einen Spaziergang über die Felder und dem Waldrand entlang machten oder im Dorfe unterwegs waren. Immer waren sie gut gekleidet.

Herr Vollenweider arbeitete als Prokurist in einer Baumwollspinnerei in Zwillikon. Am Morgen verliess er um acht Uhr das Haus, nachdem er ausgiebig gefrühstückt hatte. Immer um zwölf Uhr musste die Familie um den Tisch im Esszimmer versammelt sein und das Mittagessen aufgetragen werden. Herr Vollenweider entfaltete seine Serviette, befestigte sie am Hemdkragen, und damit war das Zeichen gegeben, dass die Suppe geschöpft werden konnte. Gesprochen wurde nicht am Tisch und nur selten fragte der Vater ein Kind nach einem Ergebnis in der Schule. Am Sonntag aber, wenn der Nachtisch serviert wurde und ein Kind etwas wissen wollte und deshalb den Vater fragte, bekam es Antwort. Der Vater erklärte dann, unter welchem Buchstaben die Lösung zu finden sei. Der älteste Sohn holte eines der 15 dicken Bücher mit den dunkeln Rücken und der Goldschrift aus dem Bücherregal im Wohnzimmer. Der Vater las zu dem Stichwort die Erklärung aus dem Lexikon vor und erläuterte ausführlich den Sachverhalt. Stolz war Herr Vollenweider auf sein «Meyers Konversations-Lexikon». Seinen Kindern sagte er immer, dass sie zu diesen Büchern besondere Sorge tragen müssten, denn darin sei alles Wissen der Zeit aufgeschrieben und da gehe man nicht fehl. Damit könne man alle Fragen für sich und andere beantworten. An einem Abend brachte er noch einen weiteren Band nach Hause. Dies sei eine wichtige Ergänzung zu den anderen 15 Bänden, erklärte er den Kindern.

Nur wenn er etwas zu viel Wein getrunken hatte, und das geschah mindestens einmal die Woche, kam es vor, dass Herr Vollenweider ausfällig wurde. Der Anlass dazu war vielleicht eine kleine Ungeschicklichkeit der Frau oder ein lautes Lachen eines der drei Kinder. Dann war er ein anderer Mensch. Er konnte laut werden und schimpfen, sogar Fluchen war dann nichts aussergewöhnliches bei ihm. Manchmal geschah es sogar, dass er seine Frau oder eines seiner Kinder schlug. Auf der Strasse aber wurde der immer gepflegt aussehende Mann mit Hut, Stock und Schnurrbart von jedermann freundlich gegrüsst.

Die Frau Vollenweider war ruhig, aber bestimmt. Sie verteilte die Aufträge, ordnete an und kontrollierte alle Tätigkeiten der beiden Mägde in Haus, Küche und Garten sehr genau und fand oftmals auch neben dem normalen Tagesgeschäft noch Arbeiten oder Mängel, die sogleich behoben werden mussten. Wenn sie in der Woche alleine ausging, war sie immer modisch gekleidet und trug ihren Schmuck. Den beiden Dienstmägden hatte sie dann immer die Aufträge zugewiesen und mit ihnen das Nachtessen besprochen und sie konnte sicher sein, dass alle Arbeiten bis zum Abend zu ihrer Zufriedenheit erledigt waren.

Die Familie Vollenweider hatte ein markantes Haus an der Hauptstrasse mit einem schönen Blumen- und Gemüsegarten. Immer wieder schauten die vorbeigehenden Menschen in den gepflegten Garten, bewunderten die Blütenpracht und das heranwachsende Gemüse und lobten seinen Besitzer. Nur wäre ohne den unermüdlichen Einsatz der Dienstmagd und der Köchin dieser Garten nie so sehenswert gewesen.

Nach zwei Jahren in Affoltern zog es Verena wieder nach Gränichen zurück. Auf dem langen Weg von Affoltern zurück nach Gränichen, den sie diesmal alleine ging, fasste Verena den Vorsatz, von nun an bescheiden zu leben. Sie wollte etwas Geld auf die Seite legen können von dem kleinen Taschengeld, das ihr blieb, wenn sie ihr Kostgeld bei ihrer Mutter abgeliefert hatte. Arbeit fand sie wieder in der Schuhfabrik.

An einem Sonntag im Herbst, es war der letzte warme Tag Ende Oktober, traf sich Verena mit zwei Arbeitskolleginnen aus der Schuhfabrik. Sie waren zum Rütihof spaziert und hatten einen sauren Most in der Wirtschaft getrunken. Die drei jungen Frauen sassen vor dem Haus, an den ausgebleichten Tischen und Bänken im Garten und spürten die letzten warmen Strahlen der Sonne auf Wangen und Armen. Drei junge Männer vom Nebentisch sprachen die Frauen an. Bald sassen sie zu sechst an einem Tisch und redeten und scherzten. Auf dem Nachhauseweg legte einer der Männer – ein dunkelhaariger Luzerner – den Arm um Verenas Schulter und küsste sie, zuerst auf die Wange und dann auf den Mund. Fritz – so sein Name – wurde immer zudringlicher und strich mit seinen Händen zuerst über ihr Gesicht, dann über die Arme und später auch über die Brüste. Auf dem Weg durch den Wald nach Gränichen blieben Verena und Fritz ein wenig hinter den anderen zurück und verschwanden in einem günstigen Moment neben der Strasse in einer Anpflanzung von kleinen Tannen. Verena hatte Gefühle, langsam war es in ihr hochgestiegen, bis es ihren ganzen Körper durchflutete. Es waren schöne Gefühle, wie sie sie noch nie gespürt hatte. Von Kopf bis Fuss fühlte es sich angenehm an. Jetzt sollte die Zeit für sie stillstehen und Verena hätte schweben können.

Im Dorf verabschiedete sich Verena von Fritz. Er sagte noch etwas von später und sich wiedersehen. Dann drehte er sich und ging schnellen Schrittes Richtung Teufenthal. Sie sah ihn danach nie mehr.

Als sie nach acht Wochen immer noch keine Monatsblutung hatte, war ihr klar, dass sie schwanger war. Sie hatte immer noch gehofft, dass es nicht so sei. Eine Arbeitskollegin hatte es ihr schon lange vorhergesagt und gleichzeitig behauptet, sie sehe das den Frauen an, wenn sie ein Kind erwarten würden. Solange der Bauch nicht zu stark ausgeformt war, konnte Verena ihr Geheimnis vor der Mutter verstecken. Nur hatte die sich schon ihren Reim gemacht, denn sie beobachtete Verena genauer, als sie ahnte und ihr lieb war. Als sie den Bauch nicht mehr mit weiten Röcken verstecken konnte, wusste sie, dass sie mit der Mutter reden musste. Verena wartete auf einen günstigen Moment. An einem Sonntag, als sie in der Küche waren und sonst niemand mithören konnte, suchte sie nach den richtigen Worten. Ihre Mutter nickt nur, verzog das Gesicht und meinte zu Verena, dass sie schon lange bemerkt habe, dass sie in anderen Umständen sei. Susanne, ihre Mutter, schaute sie eindringlich an und sagte leise, sie müsse unbedingt besser aufpassen. Männern sei nämlich nie zu trauen, und den Balg hätten dann immer die Frauen am Hals.

Am 19. Juli 1884, Verena war erst 22 Jahre alt, gebar sie den Traugott. Nach der Geburt half ihr die Mutter und hütete den Kleinen, damit Verena weiter in der Schuhfabrik arbeiten konnte.

Als Frau mit einem unehelichen Kind könne man nicht mehr wählerisch sein, das hatten ihr die Arbeitskolleginnen in der Schuhfabrik gesagt. Die beiden Freundinnen, welche auch mit ihr auf den Rütihof gewandert waren, hatten Verena einmal gefragt, ob der Vater von Traugott die damalige Bekanntschaft sei oder ob es noch ein anderes Ereignis gegeben habe. Möglich sei ja vieles. Jedenfalls solle sie schauen, dass sie so schnell als möglich einen Mann finde und unter die Haube komme. Denn wenn ihr das nicht gelingen würde, ende sie als alte Jungfer mit Kind. Und das sei überhaupt nicht erstrebenswert, und lustig schon gar nicht. Man zerreisse sich jetzt schon den Mund wegen ihr und ihrem Bastard, wie die Leute auf der Strasse sagten.

Ein halbes Jahr später an einem kalten Tag, es war noch nicht Frühling, erschien beim kleinen Häuschen im Loch ein Mann, der sich als Ruedi Lehner vorstellte. Ruedi bat Verenas Vater, den Mauser, um etwas Gift, weil er die Ratten im Haus seiner Eltern weghaben wolle. Die Eltern Kaufmann, Verena mit dem kleinen Traugott und Lisette, die Frau eines Bruders ihres Vaters, sassen am Tisch in der Stube. Ruedi setzte sich dazu und erzählte von sich und seiner Arbeit. Beschäftigt war er in der Eisengiesserei Frei an der Hinteren Bahnhofstrasse in Aarau. Das bedeute für ihn, morgens um fünf Uhr aufzustehen, nach Aarau zu marschieren, um sieben Uhr mit der Arbeit zu beginnen, mit einer kurzen Mittagspause bis um sechs Uhr abends zu arbeiten. Es sei eine strenge Arbeit in der Giesserei, das Einformen der Holzmodelle in den unteren und oberen Kasten. Dabei müsse der schwarze Gusssand hart gestampft werden, damit beim Eingiessen des flüssigen Metalls in die Form nicht alles zerbrösle und ein brauchbares Gussstück entstehe. Besonders korrekt müsse das Zusammenbauen des oberen und unteren Formkastens ausgeführt werden. Das sei eine wichtige Arbeit, welche genau ausgeführt werden müsse. Diese beiden Formen im Sand müssten oben und unten übereinstimmen, daran führe kein Weg vorbei. Im anderen Falle, wenn der Übergang sichtbar sei, müssten sie nach dem Erkalten und Auspacken der Gussstücke aus dem Sand die Gräten stundenlang mit der Feile entfernen. Kein Schleck für den, der diese mühsame Arbeit ausführen müsse.

Mit Erstaunen stellte Ruedi fest, dass er noch nie so viel von seiner Arbeit erzählt hatte. Vor allem hatte er selber nicht gewusst, dass er so viel und so lange erzählen konnte. In der Regel interessierte es niemanden, was er den lieben langen Tag arbeitete. Sass er am Abend in der Beiz, spottete man über Männer, denen Hörner aufgesetzt worden waren, über junge Frauen und ihre Liebschaften oder über ungeschickte Bauern, denen ein Pferd durchgegangen und der Brückenwagen mit dem Heu umgekippt war. Es waren die Unannehmlichkeiten des täglichen Lebens, über die ausgiebig getratscht wurde. Hier in diesem kleinen Häuschen im Loch hatte er ein Publikum, und das hörte ihm erst noch interessiert zu.

 

Er erzählte den Leuten am Tisch weiter, dass er auch manchmal vom Meister zum Kohlenschaufeln abkommandiert werde. Denn ohne gutes Feuer unter der mit Schamottsteinen ausgekleideten eisernen Giesspfanne, in welcher der Eisenschrott flüssig gemacht wurde, gebe es keine gut fliessende Eisenmasse für den Abguss in die Sandform. Aber heiss sei es in der Giesserei – besonders an den Giesstagen –, das könne man sich fast nicht vorstellen, und das gebe Durst, unheimlichen Durst. Wenn er zum Heizen abkommandiert werde und den ganzen Tag Kohle schaufeln müsse, dann trinke er einige Flaschen Bier. Das sei bei allen Arbeitern in der Giesserei und auch beim Meister so. Sie alle schwitzten so stark, dass sie am Abend völlig ausgetrocknet wären und tot umfallen würden, wenn sie nichts tränken.

Nach einer Woche kam Ruedi Lehner wieder für ein langes Gespräch mit Vater Kaufmann. Nach dem dritten Besuch fragte er Verena, ob er sie am nächsten Sonntag zu einem kleinen Spaziergang einladen dürfe. Sie sagte ihm, dass sie den kleinen Traugott mitnehmen wolle. Eine Woche später gingen sie zu dritt bis zum Waldrand und kehrten wieder zum Haus im Loch zurück. Verena trug den einjährigen Buben auf dem Arm, er war hingefallen und weinte. Ruedi wollte ihn nicht tragen, überhaupt nicht anrühren. Er schaute den Kleinen nur misstrauisch von der Seite an, auch sprach er nicht mit ihm. Die Familie sass am Tisch unter dem Nussbaum vor dem Haus. Ruedi setzte sich zu ihnen. Die Grossmutter nahm den immer noch weinenden Buben in den Arm und schon bald hatte er sich beruhigt und schlief ein. Verena holte sauren Most aus dem grossen Holzfass im Keller. Als Ruedi ging, fragte er sie, ob sie sich wiedersehen könnten. Sie sagte nichts, nickte nur leicht mit dem Kopf.

Später einmal wollte Ruedi wissen, wer der Vater von Traugott sei. Verena erzählte ihm etwas von einem Ausrutscher, einem kleinen Missgeschick an einem Sonntagnachmittag. Sie nannte aber weder Namen noch nähere Umstände, sagte auch nichts von den Gefühlen, welche sie damals gehabt hatte. Das war und blieb Verenas Geheimnis. Es war nicht das letzte Mal, dass Ruedi sie wegen Traugott ausfragte und unbedingt wissen wollte, wer der Vater des Kindes sei. Immer erhielt er die gleiche nichtssagende Antwort von Verena. Sie verstand nicht, warum ihn das so beschäftigte, wusste ja selbst nicht einmal, ob der Fritz von damals tatsächlich auch Fritz hiess. Ruedi musste sich damit zufrieden geben. Ihre Geschichte vom Ausflug auf den Rütihof erzählte sie ihm nie. Viel zu spät stellte Verena mit Schrecken fest, dass ihn seine Eifersucht fast erwürgte und er dann nur noch rotsah und zum Wüterich werden konnte. Verena verstand das nicht. Bei Ruedi schien zuzutreffen, was ihre Tante Lisette immer gesagt hatte, dass Eifersucht eine Leidenschaft sei, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Deshalb dürfe man als Frau einem solchen Manne unter keinen Umständen einen Anlass geben, etwas Falsches zu hören, zu sehen oder erzählt zu bekommen, sonst sei Feuer im Dach, und das könne sehr bitter werden, vor allem, wenn noch Alkohol im Spiel sei. Dann könne sie gewiss sein, dass es Prügel absetzen werde.

Regelmässig besuchte nun Ruedi am Sonntag die Familie Kaufmann. Eines Abends beim Weggehen fragte er Verena, ob sie sich vorstellen könne, ihn zu heiraten. Sie war mehr als erstaunt und wusste im ersten Augenblick nichts zu sagen. Sie kannte Ruedi nicht und hatte nur im Dorf gehört, dass er öfters über den Durst trinke, nicht nur in der Giesserei bei seiner Arbeit, sondern auch nach Feierabend und vor allem an den Wochenenden. Verena vertröstete ihn auf nächsten Sonntag und sagte ihm noch, ein solch wichtiger Schritt müsse von ihr sehr gut überlegt sein, das könne man nicht einfach so schnell bereden zwischen Tür und Angel. Verena zog die Mutter zu Rate und fragte sie, was sie denn von Ruedi halte. Die Mutter meinte nur, dass er ein Anständiger sei. Mehr konnte oder wollte sie nicht sagen. Die Kolleginnen in der Schuhfabrik rieten Verena ab: Vor allem dann, wenn der Ruedi wieder etwas gar tief ins Glas geschaut habe – und das komme nicht selten vor –, sei er völlig ungehalten, aufbrausend und jähzornig. Schon einige Male sei er an Wirtshausraufereien beteiligt gewesen. Sie solle ihn doch einmal fragen, weshalb sein Eckzahn auf der linken Seite fehle. Auch solle sie nicht vergessen, dass er fünf Jahre jünger sei als sie – mit zunehmendem Alter werde das Saufen immer schlimmer. Die Aussagen ihrer Arbeitskolleginnen kamen nicht von ungefähr, denn auch sie hatten ihre Erfahrungen in ihren Familien gemacht. Auf der anderen Seite konnte und wollte sie ihnen auch nicht alles sagen. Was hätten sie von ihr gehalten, wenn sie gehört hätten, dass sie sich schon mit Ruedi eingelassen hatte. Nur hatte er sich am vorletzten Sonntag wirklich liebenswürdig gezeigt, und da sie alleine im Haus gewesen waren, waren sie sich sehr nahe gekommen. Sie hoffte fest, dass sie nicht wieder schwanger war.

Immer wieder fragte sich Verena, wer ihr einen guten Rat, einen ehrlichen guten Rat geben könnte? Ihr fehlte eine Freundin oder ein guter Freund, dem sie vertrauen konnte und mit dem sie die wichtigen Anliegen des Lebens besprechen konnte. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie dieses grosse Bedürfnis nach einer Vertrauensperson verspürte.

Vor allem wusste Verena nicht, wie sie zu den Heiratsplänen von Ruedi Lehner stehen sollte. Sie konnte ihn und seine Absichten nicht einschätzen. Manchmal hatte sie das Gefühl, er meine es gar nicht ernst und habe ihr nur aus einer Laune heraus den Heiratsantrag gemacht. Sie nahm sich deshalb vor, ihm abzusagen. Das war auch schon ihr Bauchgefühl gewesen, mit dem sie erwachte, am Morgen nachdem sie von Ruedi gefragt worden war. Vor allem seine Neigung zum Alkohol machte ihr Sorgen. Sie kannte es aus der eigenen Familie. Ihr Vater war dem Schnaps auch nicht abgeneigt. Hatte er genug vom Selbstgebrannten hinuntergeleert, konnte er schon beim kleinsten Anlass aus der Haut fahren. Ihre Mutter hatte schon manchen Schlag einstecken müssen. Aber auch Verena und die anderen Geschwister hatten Schläge abbekommen, wenn der «Ratzer», wie er im Dorf hiess, zu viel gesoffen hatte. Viele Fragen beschäftigten sie, Fragen, die sie gerne beantwortet gehabt hätte. Nur ob Ruedi sie ehrlich beantworten wollte, daran hatte sie ihre Zweifel.

Beim nächsten Mal brachte Ruedi Lehner eine Flasche selbstgebrannten Schnaps mit für den Vater, als er am Sonntag beim Häuschen im Loch auftauchte. Wahrscheinlich hatte sich Ruedi gedacht: Mit Speck fängt man Mäuse. Habe ich den Vater auf sicher, so wird auch der Rest der Familie mit meinem Plan, Verena zu heiraten, einverstanden sein. Er habe den Schnaps zu Hause mit seinem Bruder zusammen selbst gebrannt, sagte Ruedi und stellte die Flasche auf den Tisch. Die Familie Kaufmann hatte sich in der Stube versammelt. Es war etwas kühler und sah nach Regen aus. Ruedi fragte die Eltern, ob sie einverstanden seien mit einer Heirat zwischen Verena und ihm. Die Eltern nickten. Die Mutter fand das eine gute Lösung, denn sie glaubte zu wissen, dass wieder etwas unterwegs war im Bauch von Verena. Dann fragte Ruedi auch noch Verena. Sie sagte nichts und nickte nur leicht.

Am letzten Sonntag im Oktober 1885 heirateten sie. Es war ein trüber, kühler Tag mit Hochnebel. Die Schwestern und die Mutter von Verena hatten sich Mühe gegeben in der Küche, damit ein gutes Essen auf den Tisch kam. Weil nicht genug Geschirr für die 20 Personen der Hochzeitsgesellschaft vorhanden war, hatte die Mutter von Verena bei den Nachbarn Teller und Besteck ausgeliehen. Zuerst wurde eine Kartoffelsuppe aufgetragen, nachher gab es Kartoffeln und Bohnen und zum Erstaunen der Gäste Leberschnitzel. Möglich gemacht hatte dies die Notschlachtung einer Kuh auf einem Bauernhof im Refental, zu welcher der Vater von Verena am Donnerstag gerufen worden war. Getrunken wurde vergorener Most, und Ruedi hatte von seinem Selbstgebrannten ein paar Flaschen für die Hochzeit beigesteuert. Den Abschluss machte richtiger Kaffee, wofür die Mutter noch ein paar Rappen aus einem ihrer Verstecke holen konnte. Die Rüeblitorte, die dann aufgetragen wurde, war der krönende Abschluss und wurde von der Hochzeitsgesellschaft mit grossen Augen begutachtet und gelobt, auch wenn es nur kleine Kuchenstücke für jeden gab. Die Zubereitung der Torte habe viel Zeit in Anspruch genommen, erzählte Verenas Mutter, denn es war ihr erster Versuch gewesen. Mühe bereitete ihr vor allem das Reiben der Nüsse in der Kaffeemühle und das sehr feine Schneiden der Karotten. Die Hochzeitsgäste waren von der Torte begeistert, nicht zuletzt auch, weil sie noch nie in den Genuss eines solchen Kuchens gekommen waren. Sie war im Nu bis auf die letzte Krume aufgegessen.

Verena war nun verheiratet und hiess Verena Lehner-Kaufmann mit dem Zusatz «Mathysen» oder «Rudolfs-Mathysen», wie die Familie im Dorf genannt wurde, um die Familien mit dem Namen Lehner-Kaufmann besser auseinanderhalten zu können. Spät im Jahr kam das erste gemeinsame Kind, die Tochter Maria, zur Welt. Die junge Familie wohnte zur Untermiete im Haus von Verenas Eltern. Es war dort sehr eng und ungemütlich. Später ergab sich die Gelegenheit, ein kleines Bauernhaus in unmittelbarer Nähe des Elternhauses zu mieten. Verena arbeitete weiter in der Schuhfabrik, Ruedi in der Giesserei. Am Abend versuchte er, die kleine Landwirtschaft in Schwung zu halten. 1887 wurde das zweite gemeinsame Kind geboren. Getauft wurde es auf den Namen Rudolf. Verena gab nun die regelmässige Arbeit in der Schuhfabrik auf. Neben der Hausarbeit verdiente sie sich ein Zugeld als Tagelöhnerin mit Putzen, Waschen und Flicken. Auch die kleine Landwirtschaft und der Gemüsegarten forderten immer wieder ihren vollen Einsatz, denn ihr Mann war den ganzen Tag in der Giesserei, weshalb es am Abend oft nicht mehr für alle Arbeiten im Stall und auf dem Feld reichte. Deshalb gab es für Verena wenige Augenblicke, in denen nicht die nächste Arbeit schon hätte erledigt sein müssen, im eigenen Haushalt, für die Kinder, auf dem Acker, im Gemüsegarten, bei den Bauern im Dorf oder in der Bierbrauerei Lienhard. Ohne die Hilfe der Mutter, welche die Kinder beaufsichtigte, hätte es Verena nicht geschafft, so viele Stunden ausser Haus zu arbeiten. Oft musste sie zu später Stunde beim Schein der Petrollampe für die Kinder stricken oder die Flickarbeiten an den Kleidern der Familie nachholen. Diese Arbeiten waren manchmal erst gegen Morgen beendet, und dann musste schon wieder die Familie geweckt werden. Die Nacht war vorbei und ein neuer Tag mit all den vielfältigen Arbeiten begann. Ruedi weckte sie zuerst, musste er doch vor halbsechs Uhr aus dem Haus, damit er pünktlich um sieben Uhr in der Giesserei in Aarau an seinem Arbeitsplatz war. Danach weckte Verena die Kinder, goss ihnen Milchkaffee in die grossen henkellosen Tassen und legte jedem ein Stück Brot daneben – das Frühstück. Später arbeitete sie im Haus, in der kleinen Landwirtschaft oder im Gemüsegarten, oder sie machte die Wäsche für die vielköpfige Familie. Mussestunden hatte es bei ihr noch nie gegeben.

Einmal hatte sie bei einer Familie im Dorf, bei welcher sie als Tagelöhnerin gearbeitet hatte, alte Kleider mitgenommen, ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Frau des Hauses eingeholt zu haben. Obschon diese sich Verena gegenüber geäussert hatte, diese Kleider würden dem Lumpensammler mitgegeben, wurde Verena bei der Polizei angezeigt und nach einer kurzen Verhandlung vor dem Bezirksgericht Aarau wegen Diebstahl zu vier Tagen Gefängnis verurteilt. Ein andermal grub sie auf dem Heimweg von der Arbeit als Tagelöhnerin auf einem Acker, an dem sie vorbeikam, mit einem Stock Kartoffeln aus und trug sie in ihrer Schürze nach Hause. Sie freute sich schon auf eine Rösti aus frischen Kartoffeln, doch auch dieser Mundraub war nicht unbemerkt geblieben. Wieder gab es eine Anzeige, aber diesmal wurde Verena vom Bezirksgericht für nicht schuldig befunden.

Weil das Geld immer wieder fehlte, musste Verena mehr und mehr Taglohnarbeit machen. Während der Nacht, wenn die Familie schlief, mussten die vielen notwendigen Arbeiten im Haus von Verena besorgt werden. Sie hatte sich an das Arbeiten bei Petrollicht gewöhnt. Vor allem war es dann auch ruhig im Haus. Manchmal überlegte sie sich, während der langen Stunden alleine, wie sie zu mehr Geld kommen könnte. Mehr Arbeit konnte sie selbst nicht leisten, woher hätte sie die erforderliche Zeit auch nehmen sollen. Die Kinder brauchten ihre Hilfe, auch wenn die Grossmutter immer wieder bei der Betreuung mithalf. Ihr erstes Kind Traugott lebte eigentlich immer bei den Grosseltern. Der einzige, der etwas mehr hätte beitragen können, war ihr Mann, aber auf ihn konnte sich Verena nicht mehr verlassen. Vor allem seit er die Stelle in der Giesserei in Aarau verloren hatte. Nun arbeitete er als Taglöhner bei Bauern im Dorf oder im Wald für die Gemeinde. Der kleine Landwirtschaftsbetrieb gab für die vielköpfige Familie zu wenig her. Die Zeiten waren schlecht. Trotz Verenas vieler zusätzlichen Arbeiten gab es hin und wieder schmale Kost am Familientisch. Geld war, das wusste sie, ein wichtiges, aber immer noch ein seltenes Gut in der Familie Lehner. Verena bedauerte auch sehr, dass sie noch kein eigenes Sparbüchlein hatte. Daran erinnerte sie sich einige Male, wenn sie mit der Petrollampe sprach, spät in der Nacht. Dabei war das ein wichtiger Vorsatz gewesen, den sie sich als Dienstmagd bei den Vollenweiders fest vorgenommen hatte: Geld zu sparen für ein eigenes Haus mit Garten.

 

Als die Kartoffelernte bescheidener ausfiel als erhofft und auch der Pflanzgarten nicht mehr viel hergab, ein Gewitter mit Hagel viele Bohnenpflanzen zerschlug und die Karotten nicht wachsen wollten wie in anderen Jahren, sah es nicht gut aus mit dem Speiseplan für die nächsten Monate – vor allem im Hinblick auf den nächsten Winter. Das Essen würde immer eintöniger werden und Brot nur noch selten auf den Tisch kommen. Verena ahnte, dass magere Wochen auf ihre Familie zukommen würden, deshalb entschloss sie sich zu einer weiteren Verzweiflungstat. Sie hatte bemerkt, dass man bei der Mühle spät am Abend – wenn man sich nicht allzu ungeschickt anstellte – einen Sack Mehl mitnehmen konnte, ohne dass es gleich bemerkt würde. Vorsichtig und möglichst geräuschlos musste der Handel ablaufen. Es war schon lange dunkel, als sie sich den Mehlsack auf die Schultern hob und damit zum Haus im Loch schlich.

Wie konnte es auch anders sein, auch dieser Diebstahl flog auf. Ein Dorfbewohner – wer sie angezeigt hatte, erfuhr sie erst vor Gericht – meldete sie der Polizei. Diesmal verurteilte sie das Aarauer Bezirksgericht zu zehn Tagen Gefängnis – das war mehr als eine Woche, in der Verena kein Geld verdienen konnte. Dabei waren es vor allem ihre bescheidenen Einkünfte, welche die Familie über Wasser hielten und die Hungertage in der Runde am Familientisch zu reduzieren halfen.

Ihr Mann war als Taglöhner im Wald, auf dem Bau und manchmal auch bei anderen Bauern im Dorf tätig. Aber es gab nicht jeden Tag Arbeit für einen Taglöhner. Öfters kam er nun nicht mehr nach der Arbeit nach Hause. Sein Nachhauseweg führte ihn oftmals zuerst in die Wirtschaft. Wenn er danach spätabends endlich nach Hause kam, war er betrunken und konnte keine Arbeiten mehr erledigen im Stall oder auf dem Acker, wo ihn die Familie dringend gebraucht hätte. Verena hörte im Dorf, dass er an manchen Abenden zu seinem Bruder ging, der noch bei den Eltern wohnte, und mit ihm zusammen Schnaps brannte. Den Selbstgebrannten verkauften, verschenkten oder versoffen die beiden Brüder. Verena wusste nicht, ob es stimmte, erinnerte sich jedoch an die Zeit vor ihrer Hochzeit, als Ruedi ein paar Mal mit selbstgebranntem Schnaps bei ihnen im Loch aufgetaucht war. Von ihrem Schwiegervater bekam sie keine brauchbare Antwort, als sie ihn danach fragte. Wahrscheinlich wollte er sich seine Schnapsquelle nicht versiegen lassen. Als sie Ruedi auf das Schnapsbrennen ansprach, wich er aus und erzählte ihr, dass er seinen Eltern bei der Heuernte geholfen habe. Dabei roch sie es jedes Mal, wenn er wieder zu viel Schnaps getrunken hatte, und nur noch ins Bett fallen konnte, wenn er spät am Abend nach Hause kam.

Fast in jedem Jahr kam ein Kind zur Welt. Der Küchentisch musste verlängert werden, damit sich die Schar versammeln konnte und alle einen Platz fanden. Verena brachte insgesamt 16 Kinder zur Welt. Martha, im Jahr 1904 geboren, war die Jüngste. Sie kämpfte mit Leibeskräften dafür, dass alle genug zu essen hatten und anständig angezogen waren. Ihre Kleider mochten geflickt sein, wenn sie zur Schule gingen, aber sie sollten stets sauber sein, darauf legte die Mutter grossen Wert.

Eines Tages wurde Verena von der Gemeinde angefragt, ob sie bereit wäre, Kostgänger bei sich aufzunehmen. Dabei ging es um arme alte Personen, die Bürger von Gränichen waren und keine Familie mehr hatten. Sie überlegte es sich gründlich, bis sie sich zur Zusage entschloss. In der Möglichkeit, Kostgänger bei sich zu beherbergen, erblickte sie ein weiteres kleines Zusatzeinkommen für ihre vielköpfige Familie. Die Armenkasse der Gemeinde zahlte für das Essen und die Unterbringung ihrer Bürger einen bescheidenen Betrag von zwei bis drei Franken pro Tag. Auch wenn sie im Augenblick ihrer Zusage nicht wusste, wie sie noch ein zusätzliches Maul stopfen konnte, war sie fest entschlossen, allen Bewohnern in ihrem Haus ein Dach über dem Kopf zu geben und dafür zu sorgen, dass stets alle am Tisch satt wurden.

Verena war sehr sparsam in ihrer Haushaltsführung und drehte jeden Rappen mindestens zweimal um, bevor sie ihn ausgab. Trotzdem schaffte sie es, dass alle genug zu essen hatten. Aber alles Geld, das Verena nicht dringend für den täglichen Bedarf für sich, ihre Kinder oder in ihrer Landwirtschaft einsetzen musste, wurde von ihr in einem sicheren Versteck im Küchenschrank beiseitegelegt.

An einem Montagmorgen im Frühling – die Kinder waren in der Schule und die Grossmutter beaufsichtigte die Kleinen – machte sich Verena auf den Weg nach Aarau. Nicht einmal die Mutter weihte sie in ihr Vorhaben ein. Sie nahm alles in den letzten Wochen und Monaten zusammengesparte Geld aus dem Versteck im Küchenschrank hervor und steckte es ein. In der Stadt ging sie langsam über den Bahnhofplatz. Auf der breiten Strasse mit dem Kopfsteinpflaster schaute sie in Richtung der oberen Mühle, während sie sich überlegte, ob sie einfach nur so in die Bank eintreten könne. Sie drehte sich und musterte lange das Bankgebäude. Das mehrstöckige Haus wirkte abweisend, und als sie sah, wie fein gekleidet die ein- und ausgehenden Leute waren, fühlte sie sich noch mehr gehemmt. Sie schaute an sich hinunter, auf ihre fleckige Schürze, ihren dunklen Rock und die staubigen Schuhe. Jetzt hätte sie sich gewünscht, elegant wie die Frau Vollenweider, in modischer Kleidung und mit Schmuck behangen, daherzukommen. Vorsichtig tastete sie nach den vielen grossen und kleinen Münzen in ihrer Rocktasche und erinnerte sich an ihren vor Jahren gefassten Entschluss, den sie heute verwirklichen wollte: ihr gespartes Geld auf die Bank zu bringen, um endlich ein Sparbüchlein ihr Eigen nennen zu können.

Vor dem Eingang des Bankhauses blieb sie nochmals stehen. Verena atmete tief durch, und nach kurzem Überlegen nahm sie all ihren Mut zusammen, öffnete die schwere Holztür mit den schmiedeeisernen Beschlägen und ging in das Gebäude der Aargauischen Bank. Sie sah sich um in der hohen Halle mit der dunklen Holztäferung und den vielen Schaltern mit Glasscheiben, welche unten auf Tischhöhe eine schmale Durchreiche mit einer im Tisch eingelassenen Messingschale hatten. Sie ging zum nächsten Schalter und hoffte, dass es der richtige sei, legte alles Geld in die Schale vor dem Mann hinter der Glasscheibe, der sie kurz musterte und ihr einen guten Tag wünschte. Der Kassier erkundigte sich, wie viel Geld es denn sei. Verena wusste es nicht genau und sagte, dass es etwa 280 Franken seien und sie ein Sparbuch eröffnen möchte. Der Mann hinter der Brüstung nickte, nahm das Geld aus der Schale und begann es zu zählen. Er machte mit dem Metallgeld kleine Türme. Als alles Geld aufgeschichtet war, zählte er es, zeigte mit dem Bleistift auf die Münztürme und meinte, 280 Franken und 30 Rappen habe er gezählt. Verena nickte und meinte, dass es schon stimmen werde. Der Kassier nickte auch, nahm ein Büchlein mit dem aufgedruckten Schriftzug der Bank aus einer Schublade, schrieb mit Feder und Tinte ihren Namen, ihr Geburtsdatum und ihre Adresse hinein, sowie das Datum und den von ihm gezählten Betrag. Der Kassier hatte eine schöne, gleichmässige Schrift, fand Verena. Er drückte noch einen Stempel auf eine Seite und schob ihr dann das Büchlein über den Schaltertisch. Er nickte und wünschte ihr noch einmal einen schönen Tag. Verena nahm das Büchlein, schob es schnell in eine Tasche ihres Rocks und sagte auf Wiedersehen. Nun hatte Verena ihr eigenes Sparbüchlein von der Aargauischen Bank. Das erfüllte sie mit Stolz und liess ihr Herz höherschlagen. Als sie auf die Strasse hinaustrat, blieb Verena vor dem markanten Bau am Bahnhofplatz stehen und atmete tief durch. Sie hätte am liebsten laut herausgelacht und, das Büchlein mit weit ausgestreckter Hand hin und her schwenkend, allen Leuten zugerufen: «Ich habe ein eigenes Bankbüchlein! Eigenes Geld!» Jauchzen hätte sie wollen. Aber Verena lächelte nur für sich und in sich hinein. Sie ging zurück über den Platz und über die Geleise beim Bahnhof in Richtung Suhr dem Stadtbach entlang. Wieder war sie auf dem gleichen Weg unterwegs wie damals, als sie mit dem Viehhändler zu ihrer Stiefschwester Rosa in Wila unterwegs war, nur in der anderen Richtung, jetzt ging Verena überglücklich nach Hause.

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