Giftmord

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DER FRÜHE WEG DER
WAHRSAGERIN

Der Himmel war bedeckt, Schnee lag und ein kalter Wind wehte. An diesem trüben Tag roch es nach Neuschnee. Es war Mittwoch, der 12. Februar 1862. Die wenigen Häuser im Loch in Gränichen, einem kleinen Seitental auf der rechten Seite, wenn man den Weg zum Rütihof unter die Füsse nimmt, standen etwas abseits des Dorfes. Im kleinen Haus mit dem Walmdach, welches früher mit Stroh gedeckt war, rauchte der Kamin. Wenn man ins Haus eintrat, kam man zuerst in die Küche mit dem schwarzen Rauchfang, der unter das Dach reichte. Selten hingen dort oben an den geschwärzten Balken ein paar Würste zum Räuchern. Neben der Küche befand sich die Stube mit dem Kachelofen, dahinter lagen die hintere Stube, das Schlafzimmer der Eltern und darüber zwei kleine Zimmer für die Kinder, eines für die Mädchen und eines für die Knaben. In der Küche wurde den ganzen Tag Holz nachgelegt im Herd, damit der Kachelofen in der Stube warm blieb und die hintere Stube, der Schlafraum der Eltern, nicht noch mehr abkühlen konnte. Trotzdem waren die kleinen Fensterscheiben im Schlafraum mit Eisblumen belegt.

Die Hebamme, welche vor zwei Stunden von der ältesten Tochter gerufen worden war, wäre fast zu spät gekommen. Dem Mädchen, das sie gerufen hatte, sagte sie, es solle schnell zurück zur Mutter laufen und ihr ausrichten, dass sie bald nachkommen werde. Die Hebamme war nicht mehr die Jüngste und hatte Mühe beim Gehen. Sie schnaufte stark und rutschte bei jedem Schritt auf dem schneebedeckten Weg aus. Während ihres Gangs zum Häuschen hinauf überlegte sie, ob es ein Fehler gewesen war, das Mädchen nicht beim Doktor vorbeigeschickt zu haben. Es hätte ihm Mitteilung machen können, dass eine Geburt im Loch bevorstand, und ihn zugleich fragen, ob es nicht angezeigt wäre, wenn er auch vorbeikommen würde. So genau wusste man das nie bei einer Geburt. Die Hebamme spürte den schlechten Zustand ihrer Schuhe: Sie waren stark ausgetreten und in den Sohlen musste es ein Loch haben. Ihre Wollsocken, welche sie sich über die Strümpfe gezogen hatte, waren nass und sie fror an den Füssen. Ihr war aber klar, dass sie zurzeit nicht einen Franken für ein Paar Schuhe entbehren konnte. In anderen Jahren hatte sie vom Gemeinderat ein Paar Schuhe als Entlohnung für ihre Arbeit in der weitläufigen Gemeinde zugesprochen bekommen. Nur im letzten Jahr war sie anscheinend vergessen worden. Sie hatte keine Ahnung warum, und wenn sie sich erkundigte, wusste auch niemand eine Antwort. Sonst wurde über alles geschwatzt im Dorf, denn es gab einige Personen, die das Gras wachsen hörten. Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit beim Gemeinderat nachzufragen, warum sie im letzten Jahr für ihre Dienste nicht mehr entlohnt wurde. Vielleicht war man dort der Meinung, sie sei zu alt, und hatte sie deswegen nicht mehr berücksichtigt.

Endlich im Haus angekommen, waren die Wollsocken und Strümpfe der Hebamme durchnässt und ihre Füsse eiskalt. In der Küche roch es nach Kohlsuppe und gebratenen Kartoffeln. Beim Küchenherd zog sie sich die Socken aus, hängte sie über die Stange am Herd und schlüpfte in ein paar alte Filzpantoffeln, welche hinter der Tür lagen. Auch die Schuhe stellte sie in der Nähe des Herdes in der Küche zum Trocknen hin. Dem Vater am Tisch in der Stube sagte sie beim Vorbeigehen in die hintere Stube, wo die Mutter stöhnte, er solle schnell heisses Wasser und Tücher bereitlegen, denn das würde jetzt dringend gebraucht.

Als das Neugeborene endlich schrie, war die Hebamme erleichtert; es waren keine Komplikationen aufgetreten, die Unterstützung durch den Arzt war nicht nötig gewesen. Trotzdem, die Mutter hatte ziemlich viel Blut verloren und es dürfte einige Zeit gedauert haben, bis sie wieder auf den Beinen war. Die Hebamme reichte das noch blutige Menschlein in einem Stück Leintuch eingepackt der Mutter und sagte: «Es ist ein Mädchen.» Der Mutter war das recht. Ein Mädchen kann der Mutter schon bald einmal im Haushalt helfen, dachte sie. Morgen soll Jakob, der Vater, die Geburt des Kindes beim Pfarrer eintragen lassen, es soll Verena heissen.

Die Mutter atmete tief durch und wischte sich das verschwitzte Gesicht mit einem Stück des Bettlakens ab. Für sie war es die fünfte Geburt, und sie hatte das Gefühl, es sei die mühsamste und schmerzhafteste gewesen. Der Vater sass am Stubentisch und nickte. Habe ich mir gedacht, sagte er zu sich selbst, als er hörte, dass es ein Mädchen war. Er goss sich einen selbstgebrannten Schnaps aus der nur noch halbvollen Flasche ins Wasserglas und trank es in einem Zug leer. Die Hebamme stellte sich an den Tisch und schaute dem bärtigen Mann mit den zerzausten grauen Haaren in die wässrigen Augen. Sie stemmte ihre Hände zu Fäusten geballt in die Seite und erklärte ihm, dass seine Frau eben eine lange und schmerzhafte Geburt hinter sich gebracht und dabei auch noch viel Blut verloren habe. Weiter sagte sie dem Jakob, dass es nicht mehr als recht wäre, wenn er ihr in den nächsten Wochen helfen und etwas weniger saufen würde. Andernfalls könne es durchaus sein, dass die fünf Kinder ohne Mutter aufwachsen müssten, weil sie keinen guten Vater hatten! Der Mann am Tisch schaute an ihr vorbei zum Fenster und brummte etwas.

Die Eheleute Kaufmann im Loch in Gränichen hatten also schon bald wieder einen Esser mehr am Tisch. Und es sollten noch zwei Kinder geboren werden in den nächsten Jahren. Die Mutter, Susanne Kaufmann, war die Seele der Familie und bemühte sich redlich, dass an den meisten Tagen etwas zum Essen auf den Tisch kam, aber es gab auch schlechtere Tage. Oft waren die Mahlzeiten einfach: Eichelkaffee mit Brotbrocken, Kartoffeln, Suppe oder Habermus. Fleisch gab es nur, wenn der Vater etwas nach Hause brachte; nachdem er wieder einmal an einer Schlachtung auf einen Bauernhof als Störmetzger gerufen worden war. Als Lohn bekam er meist Stücke von der Leber oder von den Nieren und vielleicht noch ein Stück Siedfleisch. Manchmal eine oder zwei Würste, wenn sie es besonders gut mit ihm meinten. Leicht war es für die Mutter nicht, jeden Tag etwas Essbares bereit zu haben. Es konnte schon vorkommen, dass sie nur eine wässrige, salzige Suppe auf den Tisch stellen konnte. Das Gemüse darin und das Brot konnten sich die am Tisch versammelten Personen selber ausdenken. Vom Tisch gingen sie dann alle immer noch hungrig.

Einfach hatte es diese Familie nie gehabt. Jakob Kaufmann war als Mauser in der Gemeinde unterwegs. Wenn sich die Gelegenheit ergab, betätigte er sich als Störmetzger auf den Höfen in und um Gränichen. Gab es keine Schweine zum Schlachten und keine Mäuse zum Töten, sass er zu Hause und wartete. «Mit Arbeiten kann man nicht reich werden», pflegte er zu sagen. Deshalb ging er stets sehr bedächtig an jede Arbeit und war nicht enttäuscht, wenn sie schon gemacht war, als er endlich damit anfangen wollte. Musste etwas unbedingt erledigt werden, schickte er sich in das Unabwendbare und erledigte die Arbeit in gemächlichem Tempo. Nie überhasten, das war seine Devise.

Sie waren nicht gerne gesehen im Dorf, diese Leute aus dem kleinen Geländeeinschnitt westlich der Wyna in Richtung Rütihof. Hinter vorgehaltener Hand munkelten die braven Leute, dass einige Streifzüge, bei denen alles mitgenommen wurde, was nicht niet- und nagelfest war, im kleinen Haus im Loch ihren Ursprung hatten. Wurde ein Diebstahl im Dorf bekannt, so hatte man sofort die Leute aus dem Loch im Verdacht, auch wenn man den Dieb später auf der anderen Seite des Dorfes in der Vorstadt oder in der eigenen Familie fand.

Die braven Dorfleute beobachteten die Bewohner im Loch mit Argusaugen und meinten schon oft gesehen zu haben, wie ein hergelaufener Vagant bei ihnen Aufnahme gefunden habe. Lichtscheuem Gesindel, Gaunern und Tagedieben sei Unterschlupf gewährt worden. Diese Gäste blieben dann für einige Tage, manchmal auch nur für eine Nacht. Ältere Gränicher wollten sogar wissen, wie Bernhart Matter vom Schwabistal in der Gemeinde Muhen, wenn er über den Rütihof gekommen war, immer im Loch beim Jakob Kaufmann einen kurzen Halt eingelegt, mit ihm einen Schnaps getrunken und die letzten Neuigkeiten ausgetauscht habe. Der Matter sei danach auf seinen diebischen Streifzügen ins Wynental, oft sogar bis ins Seetal weitergezogen.

Verena wuchs in einer siebenköpfigen Kinderschar auf. Später, als sie in die Gemeindeschule musste, lernte sie, was nötig war. Nach der Schule ging sie mit den anderen Kindern, immer neugierig und in der Hoffnung, ein kleines Abenteuer zu erleben, selten auf dem direkten Weg nach Hause. Manchmal führte sie ihr Nachhauseweg beim Gasthof Löwen vorbei. Dort machte die Postkutsche auf dem Weg nach Beromünster oder in der anderen Richtung nach Aarau einen kurzen Halt. Das war für die Schulkinder die Gelegenheit, hin und wieder elegant gekleidete Frauen oder Männer zu sehen, welche aus der Postkutsche stiegen und zwei, drei Schritte gingen, bevor sie wieder einstiegen und weiterfuhren. Verena fühlte sich wohl, wenn sie nicht zur Schule musste und auch keine Arbeiten für die Mutter zu erledigen hatte. Sie konnte an solchen Tagen draussen unter freiem Himmel mit ihren Geschwistern und den Kindern der Nachbarn die Welt erkunden. Im Herbst suchten sie im Wald nach Eicheln, welche die Mutter später röstete und gemahlen als Kaffeeersatz zur Zubereitung des Milchkaffees zum Frühstück verwendete. Aus den gefundenen Bucheckern wurde Öl gepresst zum Kochen, es wurde aber auch als Lampenöl verwendet, wenn die Ernte ausgiebig ausfiel. Auch Nüsse wurden fleissig gesucht. Die Buben kletterten in den Haselbüschen herum, rüttelten und schüttelten die Äste, und die Mädchen suchten den Boden nach den heruntergefallenen Haselnüssen ab. Bei den Baumnüssen musste man vorsichtiger sein, diese Bäume hatten meistens einen Besitzer, der mit scharfem Blick über sein Eigentum wachte. Manchmal kam es vor, dass einer der Jungen allein auf dem Baum erwischt wurde und eine Tracht Prügel kassierte. Deshalb war es besser, wenn jemand unten aufpasste und ein Warnsignal gab. Das hatten die Kinder oft geübt, wenn sie Kirschen, Äpfel oder Birnen essen wollten.

 

Rief die Mutter nach den Kindern, dann war Arbeit angesagt. Auch Verena musste schon bald mithelfen: den Wasserkessel am Brunnen füllen und in die Küche schleppen, Kartoffeln im Keller holen oder im Hühnerhaus die wenigen Eier einsammeln. Manchmal, wenn etwas Geld vorhanden war, durfte sie zum Krämer im Dorf laufen und Salz, Zucker oder Mehl kaufen.

Nach fünf Jahren Gemeindeschule waren Verenas Eltern der Meinung, dass es gut wäre, wenn ein Esser vom Tisch verschwinden würde. Sie hatten sich mit Rosa verständigt, einer Stiefschwester von Verena im Dorf Wila im Zürcher Oberland. Sie könne das Mädchen für ein paar Jahre bei sich aufnehmen. Nicht, dass sie zu viel hätte, aber für einen Esser mehr würde es noch reichen, hatte sie gemeint. Verena könne auch in der Weberei im Ort arbeiten, sie kenne dort den Meister und werde bei ihm ein gutes Wort einlegen.

So kam eines Morgens der Viehhändler aus Suhr beim Häuschen im Loch in Gränichen vorbei und holte Verena ab. Er habe im Tösstal zu tun und könne das Mädchen in Wila abliefern, hatte er dem Vater gesagt, als dieser ihn vor einigen Tagen bei einem Schnaps im Restaurant Vorstadt gefragt hatte. Verena schluchzte und hielt sich an der Mutter fest. Diese aber schob ihre Tochter in Richtung des Viehhändlers.

In ihren groben Schuhen mit den Holzsohlen ging sie hinter dem grossen Mann, den sie nicht kannte. Die Leute im Dorf schauten sich kopfschüttelnd nach dem ungleichen Paar um und fragten sich, was das wohl zu bedeuten habe. Später wurde auf der Strasse erzählt, die erst elfjährige Verena sei verkauft worden und der reiche Viehhändler aus Suhr habe am meisten geboten.

In Suhr gingen der Viehhändler und das Mädchen vom Gasthof Kreuz in Richtung Kirche und dann dem Bach entlang bis zum Bahnhof in Aarau. Dort bestiegen sie die Eisenbahn und fuhren nach Zürich, wo sie umsteigen mussten für die Weiterfahrt nach Winterthur. In Winterthur wurde zum zweiten Mal der Zug gewechselt. Diesmal setzten sie sich in einen Wagen der neu eröffneten Tösstalbahn, die sie nach Turbental brachte. Weiter nach Wila mussten sie zu Fuss gehen, denn die Bahnstrecke Tösstal aufwärts befand sich noch im Bau. Geredet hatte der Viehhändler auf der ganzen Reise nicht viel, nur einen Stumpen nach dem anderen geraucht und den Wagen der dritten Klasse mit Rauch gefüllt. Verena stand die meiste Zeit am Fenster, betrachtete die sich wechselnde Landschaft und versuchte zu begreifen, wie ihr geschah. Musste sie jetzt für immer in Wila bleiben? Was sollte sie dort tun? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man an einem anderen Ort als in Gränichen leben konnte. Sie wollte wieder nach Hause ins kleine Häuschen im Loch. Auch die Leute, zu denen sie musste, kannte sie nicht. Diese Stiefschwester hatte sie nur einmal gesehen, an einem Sonntag war sie in Gränichen zu Besuch gewesen. Sie hatte vor dem Haus unter dem Nussbaum gesessen und lange mit ihren Eltern geredet. Dann war Rosa wieder gegangen. Warum ausgerechnet sie von zu Hause weg musste, verstand Verena nicht. Die ältere Schwester hätte auch gehen können. Nur liebte die Mutter ihre ältere Schwester mehr als sie, davon war sie überzeugt. Sie war es auch, welche mit der Mutter im Frühling auf den Markt in Kulm gehen durfte.

Am späten Nachmittag kamen sie in Wila an. Der Viehhändler erkundigte sich bei der Postablage nach Rosas Haus. Als er die Auskunft bekommen hatte, mussten sie wieder etwas zurückgehen auf der gleichen Strasse, auf welcher sie ins Dorf gekommen waren. Bei einem kleinen Haus blieb er stehen und schaute sich um. Als sich die Tür öffnete, kam Rosa heraus. Sie begrüsste das ungleiche Paar aus dem Aargau. Der Viehhändler murmelte etwas, nickte und verabschiedete sich. Rosa nahm Verena an der Hand und ging mit ihr ins Haus. Sie zeigte ihr das Zimmer, welches sie mit zwei weiteren Mädchen teilen musste. Verena bekam ein eigenes Bett. Dann wurde sie den Kindern vorgestellt. Jetzt habe sie drei Mädchen und zwei Buben am Tisch, meinte Rosa lächelnd. Ihre vier Kinder musterten das fremde Mädchen, redeten aber kein Wort mit ihr. Ihr Mann kam erst spät nach Hause, schaute sich Verena an, nickte und ging in die Küche, wo Rosa mit Pfannen und Töpfen hantierte. Sie stellte einen Teller auf den Tisch und schöpfte ihrem Mann aus der Bratpfanne die Kartoffeln. Er trank aus einer grossen henkellosen Tasse Zichorienkaffee mit Milch.

Am nächsten Tag ging Rosa mit Verena zum Schulhaus und übergab sie dem Lehrer der Repetierschule, die Verena zweimal die Woche einen halben Tag besuchen musste. Einen Tag später ging sie mit Verena um halb sieben aus dem Haus, den kleinen Hügel hinauf zur Fabrik. Der Meister wartete bereits am Eingang zu der Fabrikhalle. Das war also die Fabrik, von der Rosa erzählt hatte: die Seidenweberei Rosenberg.

Eindringlich ermahnte der Meister Verena, während er ihr die Regeln in der Fabrik erklärte, und schaute das Mädchen dabei streng an: «Erstens – und das ist das Wichtigste –, beiden Fabrikherren, den Herrn Furrer und den Herrn Schoch, musst du immer freundlich grüssen, wenn diese in die Weberei kommen. Zweitens musst du den Anweisungen der beiden Weberinnen gehorchen, sonst sind wir geschiedene Leute. – Das habe ich auch Rosa gesagt. – Ich habe dich der Frida und der Hanna zugeteilt. Diese beiden Frauen sagen dir genau, was du den ganzen Tag tun musst. Ich zeige dir nachher, wo die Frida und die Hanna ihre Webstühle stehen haben.»

Verena war als Laufmädchen zwischen den Webstühlen unterwegs, musste die Spulen hin und her tragen und Webschiffchen aufwickeln, wobei der Faden nicht reissen durfte. Den beiden Weberinnen beim Einziehen der Kettfäden helfen, Garn holen oder wegbringen waren weitere Aufgaben. Verena empfand die Arbeit als langweilig und ermüdend. Am Ende der Woche bekam sie zehn Franken Lohn, den sie am Abend der Rosa abgab.

Jedes Mal, wenn sie wieder für einen halben Tag in die Repetierschule gehen konnte, fühlte sie sich etwas freier. Lernen konnte sie nicht viel, das meiste hatte sie schon einmal gehört und geübt in der Dorfschule in Gränichen. Die Dorfkinder aus Wila, ihre Mitschüler, hänselten oft die drei Fabrikkinder in der Klasse. Einmal waren es ihre Schuhe und Kleider oder die von der Arbeit schmutzigen Hände, die Anlass zu Spott gaben, ein andermal wurden sie ausgelacht, weil Verena oder einer der beiden Fabriklehrknaben im Unterricht einschliefen und vom Lehrer mit der Rute geweckt wurden. Dabei war jedes Kind in der Klasse froh, wenn es nicht selbst der Pechvogel war. Verena fand ihre Mitschüler auch blöd, nur konnte sie das nicht laut sagen, ohne gestossen, geklemmt oder sogar geschlagen zu werden. Vor allem hatten die Dorfkinder eine komische Sprache. Sie sprachen nicht so, wie man es in Gränichen tat. In der Familie von Rosa fühlte sie sich fremd. Man beachtete sie nicht besonders, sie war einfach auch noch da. Man sprach wenig und wenn, wurde nur das Nötigste gesagt. Manchmal musste Verena auch der Rosa helfen. Damit hatte sie keine Mühe, denn sie war es gewohnt, dass die Mutter Hilfe brauchte. Nur spielen mit den beiden Kleinen wollte Verena nicht. Dazu verspürte sie überhaupt keine Lust. Sie war auch oft nach den langen Tagen in der Fabrik sehr müde, deshalb liess man sie meistens in Ruhe. Es gab aber auch Abende, an denen sie sich an den Tisch in der Stube setzte und im immer gleichen Kalender blätterte, der auf dem Tisch lag. Manchmal begann sie, bei einer Geschichte auf einer Seite die Überschrift und die ersten drei vier Zeilen halblaut buchstabierend zu lesen, legte den Kalender aber bald wieder weg, weil sie schläfrig wurde. Verena ging immer zeitig ins Bett. Sie brauchte den Schlaf. Manchmal lag sie trotz der bleiernen Müdigkeit wach im Bett. Einige Male weinte sie leise und fühlte sich verloren und alleine gelassen. Ihr fehlten die Mutter und ihre Geschwister und sie hörte auch nie etwas von ihrer Familie während ihrer Zeit in Wila. In solchen Momenten wünschte sie sich zurück ins kleine Haus im Loch in Gränichen, träumte von der Familie, den anderen Kindern aus ihrer letzten Schulklasse und den Leuten aus dem Dorf, der Aussicht vom Loch hinunter ins Dorf und auf die bewaldeten Hügel der Umgebung. Ihr fehlten die Streifzüge durch die Wälder, manchmal bis auf den Rütihof oder an die Wyna, wo sie oftmals im Sommer im Wasser geplanscht hatte. Auch möchte sie wieder einmal beim Gasthaus Löwen stehen und die Leute mit den schönen Kleidern sehen, welche aus der Postkutsche stiegen.

In der Fabrik, in die Verena vier ganze und zwei halbe Tage zur Arbeit musste, war nur wichtig, dass die Webarbeit der beiden Weberinnen ohne Fehler gemacht wurde, die Stoffbahnen oder Bänder in Meter stimmten, die richtigen Garne eingesetzt wurden und keine Verknotungen oder andere Fehler aus der Spinnerei im Gewebe sichtbar waren. Weil die Webkinder sogar Lohn bekamen, wie der Meister oft deutlich betonte, mussten sie sich dem Tempo in der Weberei anpassen und ihre Arbeit schnell und richtig machen. Wurde einmal etwas zu laut gelacht, kam der Meister vorbei und schrie die Webkinder an. Wenn der Meister das Gefühl hatte, es seien genug «Cheibereien» von den Webkindern gemacht worden, dann schrie er nicht nur, sondern verteilte wahllos Ohrfeigen und Kopfnüsse. Einmal entliess er eines der Webkinder fristlos und gab ihm noch einen Tritt in den Hintern. Der Meister konnte sehr laut werden, er war ein ungehobelter Mann. Meistens sass er aber in seinem erhöhten Büro mit vielen Fenstern, von wo aus er den grossen Webereisaal gut überblickte. Musste man zu ihm, stieg man die Treppe hoch bis zu seiner Bürotür, die immer offenstand. Nur gingen die wenigsten der im Webereisaal Beschäftigten gerne diese Stufen hoch. Die meisten beschlich ein schlechtes Gefühl, wenn sie ihn holen mussten, weil man etwas brauchte, ein Fehler an einer Maschine vorlag oder man von ihm gerufen wurde. Oftmals endete das mit einem seiner Wutausbrüche. Die beiden Weberinnen, die Frieda und die Hanna, denen Verena unterstellt war, behandelten sie meistens freundlich. Oft waren sie aber auch sehr müde. Mussten sie doch zu Hause auch noch für ihre Familien kochen, waschen und putzen, wenn sie nach dem Elfstundenarbeitstag Feierabend in der Fabrik hatten. Wenn dann ein Webstuhl bockte, wie sie sagten, und der Meister gerufen werden musste, war Feuer im Dach. Denn nur der Meister kannte die Mechanik des Webstuhles und die korrekten Anschläge, Zahnrad- und Hebelstellungen, damit das Seidentuch oder die Bänder wieder richtig gewoben werden konnten. Der Meister war immer missmutig, wenn er sein Büro verlassen musste, die Frauen schlecht gelaunt, weil sie vom Meister als unnützer, dummer und unbrauchbarer Hühnerhaufen bezeichnet wurden. An solchen Tagen konnte Verena jede Tätigkeit richtig machen, trotzdem war alles falsch.

Einmal folgte ihr ein bärtiger Mann in den Garnkeller. Verena fiel es erst auf, als es schon zu spät war. Später schlich sie mit gesenktem Blick in den Websaal zurück. Was Verena im Garnkeller hätte holen sollen, wusste sie nicht mehr. Mit leeren Händen stand sie vor der Weberin, welche sie in den Keller geschickt hatte. Die anderen Mädchen und Frauen schauten Verena von der Seite an und lächelten gezwungen. Allen war klar, was eben geschehen war, denn sie hatten gesehen, wie der Mann aus dem Keller gekommen war. Verena verstand das alles nicht, schämte sich und fühlte sich schlecht und alleingelassen. Keinen Laut brachte sie heraus. Auch später sprach sie mit niemandem über den Übergriff des Mannes im Garnkeller. Aus Gesprächen der anderen Mädchen und Frauen aber hörte Verena im Laufe der Zeit, dass einigen von ihnen dasselbe widerfahren war. Alle wussten es, aber niemand sagte etwas, denn die meisten mussten dankbar sein, dass sie in der Weberei arbeiten konnten. Wer zu laut ein Unrecht beklagte, konnte schnell beim Meister in Ungnade fallen, weil er es nicht duldete, wenn «Gerüchte verbreitet werden», wie er es nannte. Meistens schimpfte er dann und bläute allen Anwesenden mit Nachdruck ein, wie sehr er Gerüchte hasse, und in Kürze war die betreffende Person ihre Arbeit los und stand auf der Strasse.

Verena war seit dem Vorfall im Garnkeller sehr vorsichtig geworden. Aus Angst, noch einmal belästigt zu werden, war sie immer darauf bedacht, zu kontrollieren, ob ihr jemand folgte, wenn sie sich ausserhalb des Websaales bewegte. Es gab aber auch Momente, in welchen sie auf Rache sann. Rache an dem Manne, den sie jeden Tag zu sehen bekam. Nur hatte sie keine Idee, wie sie ihm seine Untat heimzahlen könnte. Sie wusste einzig, dass wenn es brennen sollte in der Weberei, sie bestimmt keinen Finger rühren würde, um den Mann aus den Flammen zu retten.

 

Zwei Jahre später an einem Sonntag brachte Verenas Stiefschwester sie nach Gränichen zurück. Verena war froh, wieder im Loch wohnen zu können, auch wenn sie jetzt kein eigenes Bett mehr hatte. Im April konnte sie in die zweite Klasse der Fortbildungsschule im Dorf eintreten. Nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte, arbeitete sie in der neu eröffneten Schuhfabrik Bally in Gränichen, einem Zweigbetrieb des Stammhauses in Schönenwerd.

Verena hatte schon zwei Jahre in der Schuhfabrik gearbeitet, als sie nach Feierabend von einer Frau aus dem Dorf angesprochen wurde. Verena war müde und verspürte überhaupt keine Lust zum Schwatzen auf ihrem Nachhauseweg. Auch war sie erstaunt, dass diese Frau sie ansprach, und es machte sie zugleich misstrauisch. Sie wusste, dass die Frau mit dem Viehhändler aus dem Dorf verwandt war, kannte sie vom Namen, nur gesprochen hatten sie noch nie zusammen. Die Frau erkundigte sich bei Verena nach ihrem Arbeitstag in der Fabrik und wollte wissen, welche Arbeiten sie den ganzen Tag verrichten musste. Immer wieder nickte sie und erzählte ihr danach von einer Bekannten, die dringend eine Dienstmagd suche. Sie, Verena, wäre doch bestimmt eine gute Mithilfe im Haushalt, davon sei sie überzeugt, sagte sie noch mit einem aufmunternden Lächeln. Verena hatte ihr zugehört und sagte zu der Frau, dass sie sich ihren Vorschlag genau überlegen wolle. Sie brauche ein, zwei Tage Bedenkzeit.

Verena wusste nicht, was sie von dem Angebot halten sollte. Sie überlegte hin und her, befragte auch ihre Mutter und hoffte, dass diese ihr einen guten Rat geben könne. Die machte aber eine abweisende Handbewegung und meinte, sie verstehe nicht, warum Verena auf einmal als Dienstmädchen arbeiten wolle. Es gehe ihr doch gut in der Fabrik. Und einen grossen Lohn könne sie auch nicht erwarten, bestimmt viel weniger, als sie jetzt in der Fabrik verdiene. Fabrikarbeit sei besser, sie habe eine regelmässige Arbeitszeit und immer am Samstag den Wochenlohn. Verena dachte sich aber, dass ein Wechsel für sie nicht schlecht wäre. Dadurch würde sie die Möglichkeit bekommen, wieder etwas anderes, Neues kennenzulernen. Andere Leute, andere Umstände. Nicht mehr jeden Tag von morgens sieben Uhr bis abends sechs Uhr Lederteile zusammennähen: immer zehn genähte Teile nach links und zehn Teile nach rechts in die Transportkiste legen und an die nächste Arbeitsposition tragen.

Als sie am Morgen zur Arbeit marschierte, hatte sie einen Entschluss gefasst, auch wenn es sie traurig stimmte, dass sie sich alleine zu diesem Entscheid hatte durchringen müssen, denn sicher ob ihr Entschluss richtig sei, war sie sich trotz allem nicht. Ihre Zweifel wuchsen und wurden stärker mit jedem Schritt, den sie in Richtung der Fabrik machte. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie auf sich alleine gestellt einen wichtigen Entscheid fällen musste.

Am Abend, nachdem die Fabrikglocke geläutet hatte, trat Verena aus der Fabrik und sah die Frau von gestern Abend, die auf sie zu warten schien. Verena dachte bei sich, dass die Frau es aber eilig mit der Antwort habe. Fragte sich zugleich, ob etwas faul war an ihrem Angebot. Verena grüsste sie und fragte, wann sie die Stelle antreten könne, denn davon sei gestern Abend nicht die Rede gewesen. Auch habe sie dem Meister noch nichts gesagt und ihre Arbeit in der Fabrik noch nicht gekündigt. Die Frau meinte, sie könne die Stelle gleich antreten. Verena nickte und sagte ihr zu – schon nach einem Tag Bedenkzeit. Nach dem Lohn, den sie als Dienstmädchen erwarte könne, getraute sie sich nicht zu fragen.

An einem der nächsten Sonntage marschierte Verena in Begleitung der Frau, welche ihr die Arbeitsstelle vermittelt hatte, ins Seetal hinüber und danach weiter ins Freiamt. In Muri nahmen sie den Weg über den nächsten Hügel an die Reuss hinunter und überquerten den Fluss auf der Brücke nach Ottenbach. Die staubige Landstrasse führte sie weiter aufwärts nach Affoltern am Albis. Verena vernahm auf dem langen Fussmarsch, dass die Frau aus Gränichen die Schwester der zukünftigen Hausherrin war.

Am Abend wurde Verena der Familie Vollenweider als Haushaltshilfe vorgestellt. Sie musste nun putzen, waschen, Kleider bügeln und flicken, nähen und manchmal auch stricken. Aber auch andere Arbeiten, welche im und ums Haus zu erledigen waren, oblagen Verena oder der Köchin. Die Köchin war eine freundliche ältere Frau, die schon viele Jahre für die Familie arbeitete und sehr genau wusste, was wichtig war und wo sich heikle Situationen ergeben konnten, der Hausherr oder die Hausherrin empfindlich reagieren könnten, was unbedingt zu vermeiden war. Die Köchin machte es Verena leicht und verhalf ihr zu einem guten Einstieg in den Haushalt der Familie. Ihr war schnell klar, dass sie sich an die Köchin halten musste, wenn sie nicht stolpern wollte. Damit fuhr sie gut, und die beiden Frauen ergänzten sich zur Zufriedenheit der Dame des Hauses.

Die beiden Frauen, welche das Haus mit seinen Bewohnern bedienten, wohnten unter dem Dach, jede in einer kleinen Kammer mit Bett, Kasten und einer Kommode, auf der ein Keramikbecken mit Krug stand. Freizeit gab es wenig. Der Lohn war bescheiden, trotzdem konnte Verena etwas Geld sparen. Denn ohne Geld ging nichts, das wurde ihr im Haushalt der Familie Vollenweider bewusst. In ihrem bisherigen Leben war ihr das nie besonders aufgefallen. Geld war zu Hause im Loch in Gränichen, so lange sie klein war, wenig bis gar keines vorhanden gewesen. Musste das eine oder andere Mal etwas gekauft werden, konnte man nur hoffen, dass die Mutter noch irgendwo ein paar Rappen in einem Versteck gehortet hatte. Anschreiben konnte man nicht bei jedem Krämer im Dorf, denn sie kannten die Leute, welche im Loch wohnten. Von denen bekam man das Geld nicht so schnell wieder und lange wollte niemand warten. Man hatte sich wegen des fehlenden Geldes im Häuschen im Loch keine grossen Gedanken gemacht. War kein Geld vorhanden, war es so, und daran konnte nichts geändert werden, das war Schicksal. Alle in der Familie streckten sich nach der Decke. Im schlimmsten Fall hatte man Hunger, weil weder Brot noch Mehl gekauft werden konnte und die im Keller eingelagerten Kartoffeln oder Äpfel schon lange gegessen waren. Später in Wila hatte Verena ihren Wochenlohn von der Seidenweberei Rosa abgegeben. Verena hatte dort alles, was sie brauchte, und kam ohne Geld zurecht. Den Lohn aus der Schuhfabrik in Gränichen gab Verena der Mutter ab und bekam ein kleines Taschengeld. Wenn sie etwas brauchte, musste sie mit der Mutter reden und sie um Geld bitten. Vielleicht beim vierten Anlauf konnte sie ein Stück Stoff, Wolle oder einmal auch eine Jacke kaufen. Ihre Röcke und Schürzen nähte sie sich selber. Einmal hatte Verena in der Fabrik ein Paar schöne Schuhe für den Sonntag gekauft. Sie konnte sie günstiger kaufen und der Betrag wurde ihr vom Lohn abgezogen. Trotzdem war sie erstaunt am Ende der Woche, als sie keinen Lohn bekam, nur die Bestätigung, dass mit dem Betrag des Wochenlohnes von dieser und der nächsten Woche die Schuhe bezahlt seien. Die Mutter hatte sie von der Seite angeschaut, weil sie nun während zwei Wochen kein Geld abliefern konnte, den Kopf geschüttelt und gemeint, ob diese Schuhe wirklich nötig seien? Bei der Familie Vollenweider sah sie, dass Geld viel wichtiger war, als sie bisher gedacht hatte. Verena bemerkte, dass eine gewisse Unabhängigkeit nur erreicht werden konnte, wenn das eigene Bankbüchlein gut gefüllt war, und dass man sich dadurch Freiraum verschaffen konnte. Auch wurde man nie schief angeschaut von den anderen Leuten im Laden, denn man musste den Krämer nie bitten, anzuschreiben, weil man im Augenblick zu wenig oder gar kein Geld hatte. Die Möglichkeit, später einmal ein Haus mit einem grossen Garten zu kaufen, verlangte einen grossen Sparbatzen, das wurde ihr bewusst. Das mit dem eigenen Ersparten gekaufte Haus wurde ihr grösster Wunsch und wichtigstes Ziel.