Das war ich nicht

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Meike

Da ich nicht kellnern konnte, hatte ich während des Studiums angefangen, Groschenromane zu übersetzen, die von Frauen handelten, die erst unglücklich waren und dann dem Werben von Baronen beziehungsweise Chefärzten nachgaben. Aufgrund des drastischen Vokabulars, mit dem dieses Nachgeben geschildert wurde, nannte ich sie Hausfrauenpornos.

Nach dem Examen hatte ich diesen Studentenjob zu meinem Beruf gemacht. Ich war gerade mit Arthur zusammengezogen, wir tranken morgens gemeinsam Kaffee im Bett, dann fuhr er in sein Atelier, ich übersetzte bis in den späten Nachmittag hinein und kochte uns Abendessen – verbrachte meine Tage zwischen Hausfrauenpornos und Hausfrauentätigkeiten. Immer wenn jemand fragte, was ich nach dieser, wie alle annahmen, Übergangslösung machen wollte, zuckte ich mit den Schultern.

Dann zogen auch Gösta und Regine zusammen und gaben eine Einweihungsparty, auf der ich Thorsten Fricke kennenlernte, der als Lektor beim Farnsdorff Verlag vor den Toren Hamburgs arbeitete. Leute, die sich viel mit Literatur beschäftigten, fragte ich gern, wer ihr Lieblingsschriftsteller sei. Es amüsierte mich, wie anscheinend niemand darauf antworten konnte, ohne mindestens fünf Namen zu nennen, doch Thorsten Fricke zögerte keine Sekunde und sagte:

»Henry LaMarck.«

»Habe ich mal gehört«, sagte ich.

»Aber nie was gelesen?«

»Nein.«

»Das sagen alle. Niemand in Deutschland liest Henry La-Marck. Dabei ist er im Rest der Welt ein Star. Der verkauft Millionen und ist seit Jahren für den Nobelpreis im Gespräch.«

»Geht das beides zusammen?«

»Bei Henry LaMarck offensichtlich schon.« Dann gab er mir ein Buch, das er aus irgendeinem Grund dabeihatte. »Wird dir gefallen.«

Ich wollte eigentlich nur den Klappentext lesen, las dann den letzten Satz, den ersten, den zweiten, den dritten, während Thorsten Fricke einem Kunstgeschichte-Studenten in die Küche folgte. Regine hatte gerade mit Gösta, Sabine und Lars ihren ersten Salsakurs gemacht, und sie fingen an zu tanzen; lateinamerikanisches Lebensgefühl klingelte durch das Wohnzimmer, doch ich stand da und las. Als immer mehr Partygäste anfingen zu tanzen, ging ich in die Küche zu Thorsten Fricke, der dem Kunstgeschichte-Studenten in die Augen sah und fragte: »Und wo bist du in Padua abends so hingegangen?«, wollte nicht weiter stören, ging nach Hause, ohne mich zu verabschieden, und las die ganze Nacht.

Das Buch hieß Unterm Ahorn. Es erzählt die Geschichte von Graham Santos. Mitten im Winter sitzt er auf einer Bank, um ihn herum fällt Schnee, doch er sitzt unter Palmen. Das klingt surreal, klärt sich aber bald auf, denn er sitzt in einem Palmenhaus im Lincoln Park in Chicago. Dort erzählt dieser Graham Santos, wie es dazu kam, dass er nie geboren wurde. Seine Eltern laufen durch den Roman, begegnen sich zwar, kommen aber nie zusammen. Die Mutter ist in den Vater verliebt, geht aber im entscheidenden Moment immer an ihm vorbei, schreibt ihm, ignoriert seine Antworten, verabredet sich mit ihm in einem Café und versetzt ihn, weil sie sich lieber in sexuelle Abenteuer mit mexikanischen Wanderarbeitern und durchreisenden Pressefotografen verstrickt – Abenteuer, wie sie im Prinzip auch in den Groschenromanen vorkamen, die ich übersetzte, nur dass sie bei Henry LaMarck viel, viel besser beschrieben waren. Statt Kinder zu bekommen und sich in Langeweile niederzulassen, haben die Eltern so jede Menge Spaß, und man hat das Gefühl, dass auch Graham Santos es nicht besonders schade findet, nie auf diese Welt gekommen zu sein.

Erst als ich Unterm Ahorn zu Ende gelesen hatte, fragte ich mich, warum Thorsten Fricke es mir mit den Worten »Wird dir gefallen« gegeben hatte. Wirkte ich so, als sei auch ich Teil eines Lebens, von dem ich mir wünschte, es hätte nie stattgefunden?

Die Übersetzerin hieß Carla Tomsdorf. Ich hätte alles getan, um mit ihr tauschen zu können, zumal ich nach der Lektüre von Unterm Ahorn das Gefühl hatte, es läge an ihren Übersetzungen, dass Henry LaMarck in Deutschland so wenig Erfolg hatte. Ich besorgte mir alle seine Bücher – auf Englisch, als wollte ich die Existenz dieser Tomsdorf negieren, Der Grad der Zerstörung, Junge Mädchen, Farenland – und übersetzte weiter meine Hausfrauenpornos. Ein Jahr später passierte das Unglück, das zum großen Glück meines Lebens wurde: Carla Tomsdorf wurde beim Joggen von einem Lieferwagen überfahren, wie ich aus dem Rundbrief des Übersetzerverbands erfuhr – es hatte sich also doch gelohnt, in der Gewerkschaft zu sein. Sofort rief ich Thorsten Fricke an.

»Du willst Henry LaMarck übersetzen?«, fragte er in einem Ton, als hätte ich verkündet, ich wolle den Verlag kaufen.

»Ihr braucht doch jemanden, oder?«

»Du übersetzt Groschenromane.«

»Henry LaMarcks Texte sind ein raffiniertes Spiel mit Hochsprache und Umgangssprache«, sagte ich.

»Ich kann mal sehen, ob ich dir einen Auftrag für einen Krimi geben kann.«

»Aber ich habe alle seine Bücher gelesen. Im Original.«

»Dich kennt keiner. Das Risiko wäre zu …«

»Ende der Woche schicke ich dir 20 Seiten. Dann nimmst du mich oder eben nicht.«

Das Buch hieß Howards Hotel und war gerade in Amerika erschienen. Der Inhalt tut nichts zur Sache. Was zählte, war, dass ich nun ein Ziel im Leben hatte: Henry LaMarck endlich zu dem Ruhm zu verhelfen, den Deutschland ihm bisher vorenthalten hatte. Thorsten Fricke riskierte es, gab mir den Auftrag, und Howards Hotel wurde Henry LaMarcks erster Bestseller in Deutschland.

Seitdem war das erste Suchresultat, wenn ich meinen Namen bei Google eingab, nicht mehr www.stayfriends.de. Brillant übersetzt von Meike Urbanski stand da nun auf den Seiten renommierter Zeitungen. Ich war Übersetzerin geworden. Dabei hatte ich mit diesen Hausfrauenpornos nur angefangen, weil ich nicht kellnern konnte und mir nicht zu schade war, Dinge zu übersetzen wie: Sie spürte seine pulsierende Pracht zwischen ihren zitternden Lippen. Doch seit ich Henry LaMarck übersetzte, schien es mir, als hätte ich nie etwas anderes tun wollen. Wenn mein Hamburger Himmel komplett schwarz wurde, machte die Arbeit an seinen Büchern ihn zumindest wieder grau.

Nach dem Erfolg meiner ersten Übersetzung hatte der Verlag mich sogar Unterm Ahorn und andere frühe Romane von Henry LaMarck neu übersetzen lassen. Mit den Groschenromanen konnte ich aufhören.

Henry LaMarck hatte die National Medal of Arts bekommen, den National Book Award, den PEN/Faulkner Award, den PEN/Nabokov Award und den PEN/Saul Bellow Award. Und natürlich den Pulitzerpreis. Fast jedes Jahr lieferte er ein neues Buch, doch in diesem Jahr waren alle besonders gespannt, denn Henry LaMarck hatte sich eines großen Themas angenommen, des Terroranschlags auf das World Trade Center. Allen war klar: Er schrieb den ersten Jahrhundertroman des 21. Jahrhunderts. Seit langer Zeit hatte ich nicht mehr mit so viel Vorfreude den Briefkasten geöffnet wie in diesen Tagen, denn der Farnsdorff Verlag hatte mit Henrys amerikanischem Verlag Parker Publishing vereinbart, dass ich das Manuskript sofort nach Fertigstellung bekäme, um unter strengster Vertraulichkeit mit der Übersetzung beginnen zu können, noch bevor das Buch in Amerika auf den Markt gekommen war. So ein Star war Henry LaMarck.

Paartherapeuten betonen oft, wie wichtig ein gemeinsames Hobby für die Beziehung sei. Eine Sportart, ein Garten oder Kinder; ein Hobby, das bleibt, wenn die Liebe gegangen ist. Auch Arthur und ich hatten etwas, das wir gern gemeinsam taten: Wir rauchten.

Dann war am ersten Januar nach jenem Weihnachtsfest das Nichtrauchergesetz in Kraft getreten. Arthur und ich hatten mit Gösta und Regine, Sabine und Lars im Schneeweiß gesessen, unserem damaligen Stammrestaurant, in dem man in einem minimalistisch eingerichteten, von indirektem Licht beleuchteten Raum deutsche Hausmannskost auf viereckigen Tellern servierte. Ich hatte am Schneeweiß gemocht, dass Regine und Sabine nichts dagegen tun konnten, wenn ich in ihrer Gegenwart rauchte. Nach dem Inkrafttreten des Nichtrauchergesetzes schien es mir, als sei das Schneeweiß renoviert worden. Alles wirkte merkwürdig klar, es roch nach nassem Hund, Parfüm und Rindsroulade, und mir wurde bewusst, dass ich diesen Laden eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Die Wirklichkeit war mir auf den Pelz gerückt. So radikal konnten sich Dinge also verändern, dachte ich, als ich rauchend vor der Tür des Schneeweiß stand, an diesem ersten Januar, an dem noch der Qualm der Silvesternacht hing. Durch das Fenster sah ich Arthur, der sich mit Gösta unterhielt und Zimtkaugummi kaute. An diesem Morgen hatte er das Rauchen aufgegeben. Wir hatten uns weiterhin nichts zu sagen, und ohne die gemeinsamen Zigaretten war aus dem Zusammen-schweigend-Rauchen ein Sich-Anschweigen geworden. Da war mir klar geworden, dass ich nicht mehr hinein wollte, in dieses Restaurant, in dieses Leben. Ich war draußen.

Als Arthur wenig später zu einer Ausstellungseröffnung nach München gefahren war, machte ich alles ganz automatisch, so wie es einem Mann gehen muss, der seine Frau regelmäßig mit Prostituierten betrügt, schaltete ohne Nachzudenken – mit schlechtem Gewissen, aber ohne den leisesten Zweifel – den Computer an und sah mich im Internet nach bezugsfertigen Wohnungen um. Alles kam in Frage, nur eines nicht: hierbleiben. Nicht in dieser Stadt bei diesen Leuten, die nicht meine Freunde waren, sondern ich ihr Publikum, das ihnen bei ihrem gelungenen Leben zusah.

Dann fand ich dieses Haus, mit großem Grundstück und trotzdem sehr billig. Eigentlich wollte ich es nur mieten, doch der Vorbesitzer meinte, es sei kein Problem, wenn ich seine Hypothek bei der Hypothekenbank HomeStar übernahm. HomeStar sei eine moderne Bank aus England, nun auch in Deutschland präsent, die kaum Anforderungen an die Bonität ihrer Kunden stelle, »nicht so pingelig wie die Sparkassen«, hatte er gesagt. Die Küche würde er mir auch überlassen, den Fernseher mit Satellitenfernsehen und das Bett im Schlafzimmer. Ein Ehebett.

 

Wenige Tage später war ich eingezogen. Ich konnte zwar kaum etwas anzahlen, aber bald kam ja das Honorar für die Übersetzung von Henry LaMarcks neuem Roman.

Nun saß ich hier, trug zwei Jeans übereinander, drei Paar Socken und hatte eine Strickjacke über den Wollpullover gezogen, sodass ich aussah wie eine Figur aus South Park. Ich saß hier, auf dem Land, allein und mit einem Beruf, der etwas mit Büchern zu tun hatte, und erinnerte mich daran, wie Regine das genannt hatte: »literaturverrückt.«

Wippsäge hieß das Ding: ein rotes Gestell mit einem Sägeblatt in Pizzagröße, das sich, sobald ich den Hauptschalter umgelegt hatte, in Bewegung setzte, immer schneller wurde, schneller, bis ich das Gefühl bekam, es würde gleich aus der Verankerung und direkt in meine Brust geschleudert. Nachdem das nicht passiert war, fand ich die Wippsäge fast niedlich, wie sie da so eilig vor sich hinwirbelte. Ihr leises Sausen legte sich über die saudumme Stille. Ich konnte das. Egal, was sie dachten. Arthur. Gösta, Sabine, Regine, Lars. Ich legte ein Holzscheit auf die Lagerung, kippte sie nur ein wenig nach oben, und die Säge kreischte, Späne flogen. Lars, Sabine, Regine, Gösta. Arthur. Die Säge fraß sich in das Holz hinein, schnell und mühelos. Lärm, Lärm, Lärm! Im Nu hatte ich alles Holz zersägt und legte das erste Scheit auf den Hauklotz. Dann griff ich zur Axt, die viel leichter schien als beim letzten Mal. Am Schaft ein gelber Aufkleber: Selbst ist der Mann. PraxisTest-Testsieger, wollte sie gerade anheben, da sagte eine Stimme hinter mir:

»Ich wollte mal vorbeischauen.« Der Mann verstummte in dem Moment, als ich mich reflexartig zu ihm umgedreht hatte und ihn, die Axt in der Hand, ansah. Nach einer Weile fügte er hinzu:

»Was hast du eigentlich für Schuhe an?«

Mein Großstädterinnenblick schoss an mir herunter. Trug ich die falschen Turnschuhe?

»Ich würde echt nur mit Stahlkappe Holz hacken«, sagte er. »Wir sind übrigens Nachbarn.«

Ich sah auf seine Füße und überlegte, ob seine Bergstiefel Stahlkappen hatten. Er trug eine ziemlich normale Jeans, und unter seiner Allwetterjacke erkannte ich einen Wollpullover und einen Hemdkragen, und er schien nicht älter zu sein als ich. Ich sagte: »Meike«, und wunderte mich über den Klang meiner Stimme. Konnte es sein, dass ich seit Tagen kein Wort gesprochen hatte?

»Enno. Du bist neu hier.«

»Seit ein paar Tagen.«

»Ich bin Bauer«, sagte Enno, zeigte in Richtung meines Hauses oder, besser gesagt, darüber hinweg und sagte: »Da drüben. Und was …«, er überlegte einen Moment, hob das linke Bein und klopfte mit der Fußspitze einige Male auf den Rasen, bevor er fortfuhr: »… was führt dich hierher?«

»Ich arbeite hier.«

»Was arbeitest du denn?«

»Ich übersetze.«

»Bücher?«

»Ja, Bücher.«

»Hier?«

»Warum nicht? Ich kann arbeiten, wo ich will.«

»Ja, eben.«

»Ist doch schön hier«, sagte ich, wollte meinen Blick in die Ferne schweifen lassen, blieb aber an dem Reisebuswrack hängen. »Andere Leuten machen hier Urlaub.«

»Und mit dem Holzhacken, wie das geht, das weißt du?«

»Nein«, sagte ich.

»Es kommt darauf an, genau den Punkt zu treffen, den die Maserung vorsieht. Überleg dir vorher genau, wo du hintreffen willst.« Er zeigte auf eine Stelle, an der sich die Maserung verbreiterte wie ein aufgestauter Fluss.

Ich nickte.

»Holz wird zerguckt, nicht zerhackt«, sagte Enno. Ich hob die Axt und legte mein ganzes Körpergewicht in diesen einen Schlag: eine Kerbe.

»Und sobald die Axt in dem Scheit feststeckt, drehst du sie um«, sagte er.

»Ich komme schon zurecht«, sagte ich.

»Na denn«, sagte er und hob die Hand so langsam, dass ich nicht wusste, ob es ein Winken zum Abschied sein sollte oder eher ein gleichgültiges Abwinken, als wollte er eigentlich sagen: »Na denn viel Glück.«

Ich konnte das. Ich schlug zu. Die Axt steckte in dem Scheit, ich drehte sie um, schlug mit der Hinterseite des Axtkopfes auf den Hauklotz, und das Holzscheit zerfiel, von seinem eigenen Gewicht gespalten.

Ich nahm das nächste, schlug zu, ein Mal, zwei Mal! Literaturverrückt hin oder her, ich kann Holz hacken. Arthur. Regine. Lars. Salzmühle. Treffer.

Alle sagen, dass alle nach Liebe suchen, aber das stimmt gar nicht. Einsamkeit ist eine echte Alternative, sie und die Liebe sind gleichberechtigt, wenn die Einsamkeit ihr nicht sogar überlegen ist. Auch das nächste Holzscheit hatte keine Chance. Arthur, Himalaja-Salz, Lars. Treffer. Ich konnte das. Hackte, hackte, spaltete, splitterte, schlug und schrie, bis es nur noch Kleinholz gab und ich im Wohnzimmer so erschöpft auf das Sofa sank, dass ich nicht einmal mehr an den Briefkasten dachte.

Jasper

Als die Speed-Gates sich am nächsten Morgen um 3:58 Uhr öffneten und hinter mir sofort wieder schlossen, hatte ich das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Eigentlich wollte ich doch gar nicht hingehen, wollte mir die Demütigung ersparen.

Mein Arbeitstag begann bereits, wenn alle anderen noch schliefen, der Handel in Europa aber bereits lief. Unsere Kunden waren die Manager von Pensionskassen und Versicherungen und kamen größtenteils aus der Region Chicago und dem Mittleren Westen. Kleinstädter und Vorstadtbewohner, die amerikanischen Komfort gewohnt waren, Supermärkte und Tankstellen, die rund um die Uhr geöffnet hatten. Irgendwann war Rutherford & Gold eingefallen, dass es für das Marketing gut wäre, wenn man diesen Kunden sagen könnte, dass auch nachts in Chicago jemand aufpasste, was auf den europäischen Märkten passierte. Unsere konservative Kundschaft mochte diese Vorstellung, obwohl nie jemand anrief. Selbst wenn, hätten sie genauso schnell jemanden in London erreicht. Es war ein symbolischer Akt. In diesen turbulenten, hoch volatilen Zeiten an den Finanzmärkten waren wir nicht nur auf der ganzen Welt präsent, sondern auch in der Heimat für unsere Kunden da. Blabla.

Ich hatte mich freiwillig für diese Nachtschicht gemeldet. Fand es ganz okay, am Anfang des Tages allein zu sein. Ohne Kollegen. Da aus den USA niemand anrief, half ich den Londonern, ihre Orders abzuwickeln. Dort hatte der Handel schon begonnen, wenn hier noch alle schliefen. Ich war das Bindeglied zwischen den Kontinenten. Oder, bescheidener gesagt, der Nachtwächter von Rutherford & Gold.

Im Fahrstuhl war ich allein. Wie immer um diese Zeit. Ich betrachtete mich in der verspiegelten Seitenwand der Kabine. Haargel hatte ich immer dabei, da meine Locken erst auf der U-Bahnfahrt hierher richtig trockneten und dabei oft in Unordnung gerieten. Heute war alles okay. Ich öffnete meinen Mantel und überprüfte, ob die beiden obersten Hemdknöpfe offen waren, denn das war mein Look. »Ich will Erfolg«, sagte ich meinem Spiegelbild, ganz automatisch, wie immer.

Obwohl der Händlersaal um diese Zeit leer war, fühlte ich mich eingeengt. Drucker, Computer, Telefone, Monitore, hauptsächlich Monitore, Kopierer. Es war so eng, dass mir die Idee, jemanden zu degradieren, indem man ihm ein kleineres Büro gab, absurd vorkam. An meinem Platz hätte man nichts wegnehmen können, außer man hätte mein Bloomberg-Keybord von der Cancel- bis zur Steuerungstaste abgesägt und einen Streifen vom Mousepad abgeschnitten. Aber solche Dinge waren ohnehin zu subtil für uns. Umso gespannter war ich, wie sie mich feuern würden.

Ich fuhr den Computer hoch. Alles machte einen normalen Eindruck. Der Bildschirm unten rechts, auf dem ich die Berichte unserer Analysten, Ad-hoc-Meldungen und unser internes Chat-Protokoll hatte, wurde zwei Sekunden eher hell als die anderen. Wie immer. Unten links erschien unser Order-Management-System Equinox, auf den oberen Monitoren die Informationsdienste Bloomberg und Reuters. Dort konnte ich die Kennzahlen der Unternehmen einsehen, die unsere Kunden derzeit besonders nachfragten. Mitverfolgen, wie die Umsätze waren, welche Preisvorstellungen die anderen Händler hatten, die Verkaufswünsche unter dem Wort ask, daneben unter bid die Kaufgesuche. Steigende Kurse in Grün, fallende Kurse in Rot.

Ich gab der Maus einen Schubs nach links, nach rechts, nach oben, nach unten, der Pfeil bewegte sich von Monitor eins bis vier. Alles normal. Ich konnte kaum glauben, dass gestern jemand anders hier gesessen hatte.

Seit ich vor zwei Jahren aus dem Back-Office in den Händlersaal gekommen war, hatte ich Optionen gehandelt. Mit Optionen wetten unsere Kunden darauf, wie sich der Kurs einer Aktie entwickeln wird. Informiertes Glücksspiel, wenn man so will. Da Aktien an sich schon eine Wette auf die Zukunft eines Unternehmens sind, ist das, was ich tue, eigentlich eine Wette auf eine Wette. Ich bin ein Meta-Buchmacher. Das ist natürlich hochkomplex, aber irgendwie auch ganz einfach.

Angenommen, ein Autofahrer erwartet, dass der Benzinpreis in den nächsten Monaten steigt. Dann könnte er – gegen Gebühr – eine Kaufoption kaufen, die ihn dazu berechtigt, an einem bestimmten Termin in der Zukunft zu einem bereits heute festgelegten Preis zu tanken. Rechnet er hingegen damit, dass der Benzinpreis fällt, kann er eine Verkaufsoption kaufen. Damit verpflichtet sich ein sogenannter Stillhalter, ihm in Zukunft Benzin zu einem heute festgelegten Kurs abzukaufen. Hätte der Autofahrer eine Verkaufsoption mit dem Basiskurs 100 Cent, und der Benzinpreis fällt auf 50, könnte er zur Tanke fahren, für 50 Cent pro Liter tanken und dem Stillhalter das Benzin für 100 Cent weiterverkaufen. So kann man auch in einem negativen Marktumfeld Geld verdienen.

Solche Optionen gibt es nicht nur auf Aktien, sondern auch auf Indizes, Schweinehälften, Orangensaft, auf fast alles. Mehr muss man eigentlich gar nicht wissen. Zumindest wusste ich nicht mehr, als ich hier anfing.

Heute überwog die Farbe Grün. Die Märkte wollten nach oben. Das kleine rote Minus aus Asien löste sich auf, ohne dass es positive Nachrichten gab, einfach so.

Telefon. London.

»Hier ist Frank.«

»Hallo«, ich kannte die Stimme. Frank Foster von Fellowship Fields, einem kleinen Hedgefonds.

»Ich brauche einen Preis für 15.000 HST, Basiskurs 40, Märzfälligkeit Call.«

Ich gab es ein: 15.000 HST, Basis 40, 03 für Märzfälligkeit, C für Call, dann »Go«.

»Hab ich für 15,80.«

»Okay«, sagte Frank. »Machen wir.«

Call stand für Kaufoption, HST stand für HomeStar, eine Hypothekenbank, für die sich gerade viele interessierten. Frank wollte das Recht erwerben, bis zum Fälligkeitstermin am dritten Freitag im März 15.000HomeStar-Aktien zum Kurs von 40 kaufen zu dürfen. Da HomeStar im Moment bei 55,03 notierte, war diese Option 15,03 wert, kostete aber 15,80 wegen des Aufgeldes, aber das war nicht so wichtig.

Angenommen, HomeStar steigt nun auf 70. Dann wäre die Kaufoption 30 wert. Fellowship Fields hätte seinen Einsatz verdoppelt, obwohl die Aktie nicht mal um ein Drittel gestiegen ist. Optionen vergrößern die Kraft des Geldes wie ein Hebel. Das macht Optionen so attraktiv. Und gefährlich. Denn wo größere Gewinne winken, drohen größere Verluste. Mich betraf das nicht, da ich nur die Aufträge von Kunden ausführte. Nur wenige Trader waren autorisiert, mit dem Kapital der Bank zu spekulieren. Ich hingegen wickelte nur die Kaufs- und Verkaufswünsche von unseren kleinsten institutionellen Anlegern ab. War ein kleiner Fisch. Einfacher Indianer, nur eine Feder am Kopfschmuck.

»Tschüss«, sagte Frank.

»Ja«, sagte ich. Er wollte auflegen, da fügte ich hinzu: »Bis zum nächsten Mal.«

»Äh, okay.«

»Schönen Tag noch«, sagte ich, doch er war weg. Zum Glück. Eine peinlich lange Verabschiedung dafür, dass wir täglich mehrfach telefonierten. Er konnte nicht wissen, dass ich in ein paar Stunden nicht mehr hier sitzen würde. Und wenn er es wüsste, wäre es ihm egal gewesen.

 

Meine Aufgabe war es nun, Franks Auftrag möglichst schnell abzuwickeln, damit ich alles zu dem Preis bekam, den ich ihm versprochen hatte. Kann man sich vielleicht so vorstellen wie in der Gastronomie: Frank hat ein Restaurant, ich bin sein Lieferant. Frank bestellt dreihundert Austern, ich garantiere ihm einen Preis, fahre zum Großmarkt und muss dann zusehen, dass ich sie auch bekomme. Das tat ich nun, fand 10.000 Kontrakte hier, 5.000 da und hatte die ganze Order schließlich zu einem durchschnittlichen Preis von 15,78 abgewickelt, für zwei Cent weniger als der Kunde bereit war zu zahlen, also mit einem kleinen Gewinn für Rutherford & Gold. Von dem ich einen noch sehr viel kleineren Anteil ein Mal jährlich als Bonus ausgeschüttet bekam.

Ein guter Trader brachte seiner Bank Millionengewinne und bekam einen hohen Bonus. Das war bei den geringen Volumina, die ich abwickeln durfte, nicht drin. Umso wichtiger war es, viele Geschäfte zu machen, eins nach dem anderen. So schnell wie möglich.

Ich beeilte mich, das Geschäft in Equinox einzubuchen und mit ein paar Klicks auf das Konto des Kunden zu routen. Telefon. Ich nahm ab, sprach, kaufte, legte auf und buchte die nächste Transaktion in Equinox ein. Nahm ab, sprach, verkaufte, legte auf, buchte ein.

Ein Kunde kaufte gleichzeitig Kauf- und Verkaufsoptionen auf dieselbe Aktie. Das mag absurd klingen, kommt aber oft vor. Viele verfolgen eine solche Strategie. Long Straddle heißt das und bedeutet wörtlich übersetzt Grätsche. Spagat wäre eigentlich richtiger. Schließlich spekuliert man mit einem Long Straddle gleichzeitig darauf, dass eine bestimmte Aktie steigt und fällt.

Es gibt Finanzmathematiker, die nichts anderes tun, als auszurechnen, wie man mit einer solchen Strategie Gewinne macht. Viel Geld verdient man zwar nicht, aber dafür gibt es bei dieser Strategie auch fast kein Risiko. Wenn eine Aktie einbricht oder total steigt, hat man ja entweder mit der Verkaufs- oder der Kaufoption einen Gewinn.

Als ich aufgelegt hatte, klingelte das Telefon sofort wieder.

Finanzwerte waren angesagt. Besonders Hypothekenbanken wie HomeStar, die es geschafft hatten, Leuten einen Immobilienkredit zu vermitteln, die sich, genau genommen, nicht mal eine Waschmaschine leisten konnten. Das schien riskant, war es aber nicht, da HomeStar diese Kredite nicht lange behielt. Sie machten Wertpapiere mit Namen wie High Grade Structured Enhanced Leverage Fund daraus und verkauften sie an andere Banken, Hedgefonds oder Investoren weiter.

Eine geniale Idee: Auch Schulden von Leuten, die sie vielleicht gar nicht zurückzahlen konnten, waren auf einmal etwas wert. Im Internet kursierten Geschichten von einem einarmigen mexikanischen Erdbeerpflücker, der 300.000 Dollar zum Kauf einer 250-Quadratmeter-Vorstadtvilla bekommen hatte. So war das in Amerika – jeder bekam seine Chance.

Solange die Hauspreise stiegen, ging das gut. Und das werden sie auch in Zukunft tun. Ein Grund dafür waren Leute wie ich: Singles. Je mehr Leute alleine wohnten, desto mehr Wohnungen brauchte man. Im Studium hatte ich eigentlich immer Freundinnen gehabt. Im Moment fehlte mir die Zeit dazu, trotzdem war meine Wohnung viel größer als mein Zimmer in der Bochumer Studenten-WG.

Ich war noch nicht einmal zum Wasserspender gegangen, da war es schon nach sechs, und die Kollegen tauchten auf. Suzanne und Nathan saßen bereits an ihren Plätzen, als ich sie bemerkte. Sie betreuten die großen Kunden, die nie zu mir durchgestellt wurden.

Suzanne und Nathan begrüßten mich nie. Es lag wohl daran, dass ich aus dem Back-Office kam. Ich war zwar schon zwei Jahre hier im Händlersaal, aber noch immer schienen sie nicht vergessen zu haben, dass ich mal einer von denen gewesen war, die kontrollierten, bemängelten und hinterherrechneten. So jemand war hier so beliebt wie ein Legebatterienbesitzer im Tierschutzverein.

Selbst unser schüchterner Trainee Jeff schlich an seinen Platz, ohne mich anzusehen. Ich fragte ihn nicht, warum er meine Bier-Anfrage auf Facebook ignoriert hatte.

Wenigstens unser Teamleiter Alex sagte etwas zu mir:

»Wie war London?«

»Sehr gut.«

»Guten Flug gehabt?«

»Ich war noch mit den Londoner Jungs im Pub, in der Hotelbar und bin dann direkt zum Flughafen …«

»Na, ist doch super«, sagte Alex. Er konnte die größten Selbstverständlichkeiten behaupten und trotzdem glaubte man ihm nicht. Was an der Ausdruckslosigkeit seines Gesichts lag. Alex mochte das für ein Pokerface halten, doch mich erinnerte es an billige Zeichentrickfilme – nur die Lippen bewegten sich, der Rest des Gesichts, die Stirn, die Augen blieben starr.

Meine Kollegin Suzanne startete ihren Computer. Auf allen vier Monitoren erschien das Bild ihres Yorkshire-Terriers. Nathan und Jeff hatten Fotos von ihren Kindern an die Bildschirmränder geklebt, an Nathans Bildschirm war auch noch ein Foto seiner Frau.

Nun klingelte nicht nur mein Telefon, sondern auch die der anderen wie bei einem Musikstück, wenn nach und nach immer mehr Instrumente einsetzten. Zu den Kunden aus London kamen unsere Kunden aus New York, Chicago und dem Mittleren Westen hinzu. Fix-Messages poppten auf dem Monitor mit unserem internen Chat-Protokoll auf. »Hast du einen Preis für dies, gibt es Nachfrage für das, kannst du die loswerden, das kaufen…?« Der Markt nahm die positiven Impulse aus Europa auf. Stimmen aus London riefen die Orders direkt über die Squawk-Box in den Raum. Auch wenn ich am Telefon war, achtete ich immer auf die Squawk-Box. So ein Lautsprechersystem ist schneller als alles andere, man hat ein Kaufgesuch schneller ausgesprochen als eingetippt, dort lauerten die Chancen, 100.000 Intel, Basis 60, Junifälligkeit, Call. Betraf mich nicht … was hatte der Kunde am Telefon gesagt? Put. Ja. Verkaufsoption. » Sekunde«, sagte ich und suchte mir die Daten zusammen, gab alles ein, ein Schwung mit dem Mauspfeil, ein Klick auf Ausführen. Squawk-Box. Jemand suchte einen Käufer für Citicorp-Kontrakte. Betraf mich auch nicht. Telefon. Weiter.

Erst als das Telefon für einen Moment nicht klingelte, dachte ich wieder daran, dass ich gleich gefeuert werde. So war es immer gewesen. Egal, was in meinem Kopf vorging: Solange das Telefon klingelte, die Aufträge kamen, tat ich alles, um für die Kunden den günstigsten Kurs zu finden und trotzdem etwas Geld für die Bank zu verdienen, und vergaß alles um mich herum.

Chris Neely kam um 6:32, wie immer später als die anderen. Er war der einzige Kollege, der mich begrüßte, obwohl ich mir jeden Morgen wünschte, er täte es nicht.

»Hey, St.-Pauli-Girl«, sagte er und schlug mir so kräftig zwischen die Schulterblätter, dass meine Arme nach hinten zuckten. St. Pauli Girl war ein Bier mit einer blonden bayrischen Zenzi auf dem Etikett. Es tat nichts zur Sache, dass ich nicht besonders feminin rüberkam. Dass er mir einen Spitznamen geben konnte, der überhaupt nicht zu mir passte, bewies nur noch mehr, wie überlegen er mir war. Und dass er nicht wusste, wofür St. Pauli stand und was die Girls auf St. Pauli taten, war ein schwacher Trost.

Niemand redete mit mir. Niemand warnte mich vor dem Krawattenmann. Stattdessen begann ein ganz normaler Tag. Kein Geschrei, keine wilden Gesten. Suzanne hatte ihr Headset aufgesetzt, die meisten benutzten weiterhin Telefonhörer. Nathan hatte gerade eine große Order aus der Squawk-Box angenommen, die rechte Hand ruhig auf seiner Maus, tippte er auf die grünen, gelben, roten Tasten der Bloomberg-Tastatur. Die Spannung war enorm, gerade weil es so ruhig war und trotzdem alles so schnell gehen musste. Die Leuchtanzeigebänder, die um alle vier Seiten des Händlersaals herumliefen, hatten sich in Bewegung gesetzt, orange leuchtende Ziffern, eine ewige Zahlenautobahn. In der ersten Zeile Kurse von Indizes, Währungen und Rohstoffen. In der zweiten Zeile Aktien, sehr viel schneller, und auf dem dritten Band, ganz langsam: die Uhrzeiten von Tokio, Los Angeles, Chicago, New York, London, Frankfurt. Das war die einzige Zeile, die mich interessierte, weil ich so nie nachdenken musste, zu welcher Zeit ich wo jemanden erreichen konnte. Die für mich wichtigen Kurse hatte ich ohnehin vor mir.