PLATON SIEHT CHEMTRAILS

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»Das ist kein Tabu! Das ist einfach eine Art zu diskutieren, bei der man zu Ergebnissen kommt!«

»Wer sagt das? Definiert mir mal Tabu, sodass es nicht ›ungeschriebenes Verbot‹ bedeutet.«

»Na …«

»Dachte ich mir. Ist es, wenn man Gedanken verbietet, denn wirklich das beste Ergebnis? Hat ja super geklappt mit der Demokratie in der DDR. Mit dem Christentum im alten Rom. Mit dem Rassismus bei der Wahl Trumps. Immer, wenn du etwas totschweigst, wird es stärker. Umgekehrt ebenso: Nirgends war die Veganerkampagne erfolgreicher als in Israel, als Fleischkonsum, unter anderem von Überlebenden, als ›Holocaust‹ bezeichnet wurde. Ein Wort, das zumindest im Ernährungskontext tabuisiert war, hat das Argument auf den Punkt gebracht und entschieden. Heute sind fünf Prozent der Israelis Veganer oder Vegetarier.«16

»Aber du musst auf die Gefühle der Menschen Rücksicht nehmen!«

»Was hat das damit zu tun? Wenn du bei Argumenten weinen musst, dann solltest du nicht denken, sondern kochen. Wer Unlogik oder Tabus braucht, um seine Identität aufrecht zu halten, hat keinen Charakter, sondern eine Charakterfassade.«

»Guck, du machst es wieder. Das hättest du viel netter sagen können.«

»Hättest können, ja. Muss ich aber nicht. Wir sind hier nicht im Kindergarten oder beim Kniggeworkshop. Dein ›könntest‹ bedeutet ›sollst‹. Es ist eine Diktatur der Komfortzone. Auch wenn dir das deine Pädagogeneltern so beigebracht haben: Du hast kein Recht, Zucker in den Arsch geblasen zu bekommen, wenn du Scheiße redest. Wer Scheiße redet, ist scheiße, so einfach ist das. Weißt du, was das wirkliche Problem ist?«

»Nee, weißt du, was ich jetzt brauche, ist die volle Packung Mansplaining.«

»Man… was?«

»Mansplaining. Männer erklären dir, wie es läuft.«

»Was ist denn das für ein kreuzbescheuertes Konzept? Anstatt das Argument anzugreifen, wird der Sprecher angegriffen. Wäre alles, was ich gesagt habe, wahrer, wenn ich ein behinderter, schwarzer Transsexueller wäre?«

»Benachteiligter!!!«

»Ich kotze. Dein Problem ist, dass Verschwörungstheorien oder rhetorische Absurditäten, wie dein Safe-Space-Tabu-Spielchen, deine Identität sind. Jedes Mal, wenn ein Gegenargument kommt, fühlst du dich angegriffen. Im Grunde kann man dich nicht argumentativ besiegen. Du bist zu konservativ.«

»Ich? So ein Quatsch! Sehe ich aus wie Horst Seehofer?«

»Genau, weil nur alte, weiße Männer konservativ sind?«

»Zumindest die meisten.«

»Kein Wunder, es ist ja auch zu ihrem Vorteil. Aber nicht zu deinem. Weißt du, was die einzige Möglichkeit ist, Verschwörer wie dich umzustimmen?«

»Ihnen recht geben?«

»Eher stranguliere ich mich am Gürtel während des Wichsens, wie der britische konservative Parlamentarier Stephen Milligan. Nein, Psychologen sagen, man muss euer Umfeld verändern. Verschwörungstheorien sind ansteckend. Rationalität auch. Ihr seid Herdentiere, die geistige Zugehörigkeit suchen. Wenn ihr die bei normal Denkenden bekommt, braucht ihr eure Illusionen nicht mehr.«

»Das ist voll bevormundend!«

»Und das projiziert. Du bevormundest dich selbst durch deine Safe Spaces und Verschwörungstheorien.«

»Unterdrückung ist das!«

»Du hast was gegen Unterdrückung? Die gefährlichsten Verschwörungstheorien sind die, die Nazis und Linksprogressive auf einmal eine Überschneidungsmenge haben lassen. Zu den wenigen Verschwörungstheorien, die bewiesen wurden, zählt, dass das FBI in den Fünfzigerjahren gezielt antisemitische Elemente in Verschwörungstheorien einbaute, die auf wahre Ereignisse hindeuten. Meistens antisemitisches Kompromat, das den wahren Kern vergiftete. So ist es in dieser Zeit mit der Homöopathie, dem Fleischfressen oder dem Märchen vom bösen Hacker. Mit der Homöopathie werden fünftausend Jahre Medizin diskreditiert, weil sie unkenntlich neben wirklichen Arzneimitteln in der Apotheke steht. Mit dem Fleischfressen wird die moralische Integrität einer Gesellschaft, die sich mit Menschenrechten und Demokratie brüstet, in den Dreck gezogen. Es gibt ganz einfach kein Alleinstellungsmerkmal, das befunden würde, wie so ein Menschenleben wertvoller ist als ein Tierleben. Und die bösen Hacker-Raubkopierer-Kinderschänder sind genau die Leute, die den technischen Fortschritt möglich machen. Nicht Kinderficken als technischen Fortschritt jetzt. Sondern das, was Raubkopieren genannt wird. Die machen das, wofür das Internet da ist: Wissen zu fast keinen Grenzkosten zu verteilen.«

»Aber die Künstler müssen auch von was leben!«

»Ja, das haben sie vorher auch. Und überhaupt, ist Kunst nur im Kapitalismus denkbar? Schade für Shakespeare, Vladimir Tendryakov und Berthold Brecht. Was wäre mit einem Grundeinkommen, dann machen endlich nur die Kunst, die es wirklich wollen und uns bleibt der ganze Scheißpop erspart. Jetzt dominieren monopolistische Verwertungsbetriebe, die selbst keinen Mehrwert beisteuern, aber über neunzig Prozent des Gewinns von Künstlern einfahren. Die sind wie Monarchen: Braucht keiner. Die sind sauer, wenn du runterlädst. Das Ironische ist: Selbst Filesharer, die Raubkopierer auf Steroiden (und wir alle), schaden der Industrie nicht mal. Es ist nichts als ein Repressionsinstrument. Die Studie darüber hat die EU seit 2014 im Schrank verfaulen lassen. Das ist keine Verschwörungstheorie, das kann man recherchieren.17 Und man braucht dazu weder die Judenverschwörung, noch die hundertste Potenz von ›Gemeiner Küchenschabe‹ zu bemühen.«

»Gut, das stimmt. Mein Mitbewohner hat ein Anschreiben von einer Kanzlei bekommen, weil sich irgendwer in sein WLAN gehackt hat! Die machen das als Geschäftsmodell. Wie in den USA, die nichts mehr produzieren, nur noch ›geistiges Eigentum‹ und dann andere darauf verklagen.«

»Siehst du? Sie werden sauer sein, so, wie auch die Sklavenhalter sauer waren, als Sklaverei abgeschafft wurde, oder die Henker, als es keine Todesstrafe mehr gab. Die Hackertheorie ist eine Verschwörungstheorie von oben, weil sich Menschen durch Angst leichter regieren lassen. Aber das Erzählende verselbstständigt sich. Wenn man den Menschen beibringt, dass es keine Beweise- oder schon gar eine Ursache-Wirkung-Relation für eine Theorie geben muss, erspinnen sie ihre eigenen Begründungen. Auf einmal vergewaltigen dann haufenweise Migranten Mädchen, die es nicht gibt.18 Auf einmal erzeugen Windräder Infraschall, der unbemerkt von denen das Gehirn püriert.19 Auf einmal sind Solarzellen ganz schlimmer Giftmüll, der die Umwelt mehr belastet, als ihre saubere Energie sie entlastet.«20

»Aber ich bin doch kein Nazi!«

»Sicher glaubst du das. Aber strukturell schon. Sogar Islamist.«

»ISLAMIST?«

»Islamistin, entschuldige. Denen ist allen gemeinsam, dass sie Fundamentalisten sind: Sie nehmen etwas als Fundament für ihr Denken an, das nicht begründet ist. Bei Nazis das Rassenkonzept, bei Islamisten Gott, bei Heilpraktikern die Smile-or-Die-Lehre.«

»Aber das macht die Wissenschaft doch auch!«

»Ja, aber die nimmt die beweisbare Realität, das ist ein Unterschied.«

»Aber die Realität könnte auch ein Traum sein!«

»Ist sie wahrscheinlich auch. Es könnte so viele alternative mögliche Universen geben, dass unseres nur mit an Null grenzender Wahrscheinlichkeit das echte wäre. Aber das ist nicht der Punkt. Selbst wenn wir nur Gehirne im Simulatortank wären, könnten wir dessen nie bewusst werden. Brain-in-a-Vat-Hypothese, Herzchen. Debunked, um es in deiner Sprache zu sagen, auch ganz elegant das postmoderne Dekonstruktionsrumgenerve. Relevant ist nur, was in der Realitätsillusion existiert.«

»Verstehe ich nicht.«

»Überraschend. In einer Zeit, in der man im Internet für jede noch so schwachsinnige These einen Fan finden kann, verselbstständigt sich die Unfähigkeit zu denken. Darauf kann alles eingekocht werden. Beweise, Ursache, Wirkung, keine logischen Fehlschlüsse. Ganz einfache Denkmuster, die aber bis jetzt nicht beigebracht werden.«

»Du bist nicht sehr nett.«

»Ja, Sherlock, ich bin auch kein Waldorfschullehrer. Eure ganze weinerliche Einstellung, dass Wissen mit Seifenblasen geflogen kommen muss, ist der erste Schritt zur Verdummung. Statt Logik soll jetzt Wirtschaft an der Schule gelehrt werden, damit man, wenn man schon in einem unlogischen System lebt, die Unlogik wenigstens perfekt beherrscht.«

»Meinst du BWL?«

»Genau, wird doch. Die große Irrationalität scheint ein letztes Aufbäumen einer falsch verstandener Menschlichkeit zu sein. Das Erste, was die Opfer von Verschwörungstheorien anbringen, ist, dass wir doch keine Maschinen sind.«

»Und das stimmt, wir haben Emotionen!«

»Wird deswegen eben die Welt von der Judenverschwörung regiert? Oder kuriert Hundescheiße bei den ›Leitsymptomen‹ Folgen von Besetzung durch Eltern oder Kinder oder Partner, Folgen von zu viel mit Alkohol und Rauchen, Schokoladeverlangen, Depression durch Arbeitsplatzverlust, Niesen, Augentränen, Heuschnupfen und geistige Benommenheit? Ein Mittel, das gegen Tod und Kater wirkt?«

»Nein …«

»Siehst du? Emotion ist nicht gleich ein Freibrief für Schwachsinn. Gelb als Farbe schön zu finden ist eine Emotion, zu behaupten, alle Simpsons seien gelb, eine Idiotie. Es gibt ja schließlich Apu Nahasapeemapetilon. Verschwörungstheoretiker sind emotionale Terroristen.«

»Aber was bleibt dann noch?«

»Viele Menschen scheinen Angst zu haben, dass sie zu unwichtig werden. Und sie haben recht. Du bist nichts. Kein Arsch interessiert sich für dich, außer wenn du ausbeutbar bist. Und das bist du immer weniger. Deine Grenzkosten steigen. Die Weltwirtschaft spekuliert mittlerweile nur noch mit unnahbaren Zahlen, niemand braucht den Bäckermeister oder den Klempner noch.«

 

»Zumindest niemand, der Geld machen will!«

»Meine Güte, du gehst ja ab, richtig! Und die meisten Menschen, so hart es klingt, gehören auf das Abstellgleis.«

»Nee, also das geht gar nicht …«

»Auf ein gut mit Grundeinkommen abgesichertes Abstellgleis, wo sie das machen können, wozu sie eigentlich arbeiten: Leben.«

»Achso. Dann doch.«

»Die Menschen haben Angst, dass die Computer alles besser können. Und es stimmt. Egal, ob sich den Kalendereintrag merken, unser Auto fahren …«

»Aber die Kunst bleibt menschlich!«

»Quatsch, Bots können schon lange malen, sodass man den Unterschied zu großen Meistern nicht mehr erkennt (wenn man den je von Kopien unterscheiden konnte), Romane schreiben oder eine Symphonie in c-Moll komponieren.21 Für die Generation YouTube: Sieh dir mal ›Humans need not apply‹ an.«

Sie holt ihr Handy raus.

»Nicht jetzt! Und ja, das kann unheimlich sein. Wer weiß, was kommt? Werden die Computer, wenn die künstliche Intelligenz übernimmt, so nett sein, wie wir zu den Tieren bis jetzt? Dann wäre Selbstmord komfortabler. Wir können nur hoffen, dass sie uns in einen schönen Zoo stecken und nicht in die Wurstfabrik. Oder macht Demokratie noch Sinn, wenn die besseren Entscheidungen schon lange von Algorithmen getroffen werden? Wären wir nicht in einer Diktatur der Algorithmen besser dran? Das alles kann man diskutieren, was man aber nicht kann, ist es wegirrationalisieren.«

»Jetzt bist du der Nazi!«

»Was? Wieso macht Fragen stellen denn jetzt Faschismus? Irrationalismus und Verschwörungstheorien zu folgen ist das Gleiche, wie auf der sinkenden Titanic noch Geige spielen lernen zu wollen. Dein Aberglaube und krampfhaft positives Denken wird dich nicht retten. Selbst wenn die Erde flach wäre, wärst du immer noch unwichtig. Selbst wenn Homöopathie helfen würde, würdest du eben nicht mit sechzig an Krebs sterben, weil du nur Zucker und Fett frisst, sondern mit achtzig. Weil Milliarden Menschen so denken wie du und ihr die Algorithmen noch nicht darauf angesetzt habt, den Tod zu bekämpfen. Du bist keine Schneeflocke, nur weil du Schwachsinn erzählst. Jeder kann das. Menschen haben das über Jahrtausende getan, es nennt sich Christentum, Feudalismus, chinesisch übersetzte Gebrauchsanweisungen für Videorekorder, mit ganz viel ›Rundkugeln‹ und ›Kirschblüten‹. Sieh dir an, was daraus geworden ist. Ich war dabei, es war keine schöne Zeit. Schon immer galt, dass das einzig Beständige in der Geschichte der Wandel ist. Und wer sich nicht wandelt, geht unter. Vor allem nervst du die Leute, die versuchen, sich von der Titanic zu retten. Du quietschst mit der Geige herum, anstatt es denen zu überlassen, die es wirklich können. Romanautoren, Regisseuren oder Kindergärtnern.«

»Aber was ist mit der Fantasie?«

»Wenn du meinst, Fantasie zu haben, dann mach Kunst. Behaupte nicht, irgendeine verschwörungstheoretische Wahrheit gefunden zu haben. Wenn dir Unterhaltung oder Schönheit nicht genug ist, sind deine Ansprüche an Fantasie vielleicht zu hoch. Ich habe über Jahrtausende gesehen, wie Menschen an Idiotie gestorben sind. Aber im Mittelalter hattest du auch nicht viel Auswahl. Dein ganzes Leben spielte sich in einem Umkreis von dreißig Kilometern ab, du konntest nicht lesen und hattest Glück, wenn du nicht von deinen Verwandten oder dem Priester so windelweich gevögelt wurdest, dass dir das Gehirn zu den Ohren herauslief. Aber heute hat jeder die Möglichkeit, Unsinn sofort zu überprüfen.«

»Aber das Internet vereinsamt uns doch voll. Stichwort: Echokammer.«

»Schön, das hast du wahrscheinlich im Focus gelesen? Was noch, das Internet ist ein modernes Höhlengleichnis? Im Gegensatz zu der vulgärkonservativen Meinung ist das Internet keine Echokammer. Studien zeigen, dass man dort um einiges wahrscheinlicher mit anderen Meinungen als der eigenen konfrontiert wird.22 Kurz, das Internet macht dich klüger. Es kann dich klüger machen. Es sei denn, du spielst nur Minecraft und hängst auf Chemtrail-Foren ab.«

»Was?« Sie schaut vom Handy auf. »Sorry, ich muss das hier gerade machen, ganz kurz.«

Eine Minute vergeht. Zwei. Drei.

»Sorry, bin gleich fertig.«

Noch drei Minuten vergehen. Ich höre das konstante Eingehen der Nachrichten, laut und mit voreingestellten Klingeltönen, den Ritterschlag der zukünftigen Nobelpreisträger. So kann man Probleme natürlich auch aussitzen.

»Gratulation zu deinen Prioritäten.«

»Boah, weißt du was, du redest immer!«

»Sollten wir eine WhatsApp-Gruppe gründen?«

»Du widersprichst immer!«

»Was soll ich denn darauf antworten können?«

»Du hinterfragst immer alles!«

»Und das ist schlecht? Das ist das Gegenteil von glauben.«

»An irgendwas musst du doch glauben!«

»Was?«

Sie zuckt nicht mit der Wimper.

»Da machst du eine ontologische Frage zu einer ethischen.«

Sie zuckt mit der Wimper, sagt aber nichts.

»Was hat eine Frage danach, wie die Welt beschaffen ist, mit dem zu tun, was man tun soll? Ob es Moral aufgrund von Fakten geben kann? Soll ich mich, weil ich weiß, dass es schwarze Löcher gibt, mit Foie Gras einreiben? Wo besteht denn da der Zusammenhang? Ich sage nur, dass, weil wir keine andere Welt haben, wir mit ihr arbeiten sollten, statt mit Märchen.«

»An irgendwas musst du doch glauben! So ganz tief in dir drin, du musst doch Hoffnung haben.«

»Ach du meine Güte, wo bleiben die Streicher? Nein, muss ich nicht. Um die zehn Prozent der Bevölkerung sind Atheisten, das sind fünfhundert bis siebenhundertfünfzig Millionen Menschen. Und mindestens eine chinesische Großstadt besteht sicher aus Nihilisten. Haben die eine niedrigere Lebenserwartung? Im Gegenteil.23 Aber es sagt mehr über dich aus, wenn du mir das vorwirfst. Du hast ganz einfach nicht die Chuzpe, eine Welt ohne Ersatzgötter auszuhalten.«

»Ersatzgötter?«

»Homöopathie, Flat-Earther, Verschwörungstheorien. Du willst unbewusst nur, dass die Welt nicht mehr so schrecklich kompliziert ist. Das ist menschlich. Wir alle wollen kategorisieren. Aber dabei von Fakten zu Märchen zu schlittern, ist idiotisch.«

»Ihr immer mit euren Kategorien! Die Welt ist bunt und divers und das ist auch gut so! Das könnt ihr einfach nicht ab!«

»Wo ist denn das ein Gegensatz? Für jede Unter- und Entscheidung brauchst du eine Kategorie. Falsch oder richtig geschrieben bei deinem Hasspamphlet. Nuklearer Holocaust oder Gewitter für den Spaziergang. Käselust oder keine Käselust für die Stulle …

Du bist doch voll auf Käsomorphin!« Da ist er wieder, der Veganer.

»Was?«, fragt sie.

»Ein Morphin im Käse, dass durch deine Blut-Hirn-Schranke geht, dich schlapp und stullig werden lässt und dir Käse-Cold-Turkey nachschiebt!«24

»Allerdings«, sage ich. »Und was soll bitte ›ihr‹ sein? Menschen? Rationale?«

»Männer!«

»Au weia!« Der Veganer muss ganz dringend ganz weit weg. »Was? Wieso?«, frage ich und bereue es eine Nanosekunde später.

»Es ist typisch männlich, die Welt einzuteilen. Teile und herrsche.«

»So ein Blödsinn! Kategorisieren ist eine menschliche Eigenschaft! Vielleicht ist sie mehr männlich konnotiert, weil unsere Gesellschaft sich dahin pervertiert hat, aber sind deswegen Kochen, Putzen und Tratschen exklusiv weiblich und damit gut?«

»Nicht direkt. Aber die Frauen verdienen doch einundzwanzig Prozent weniger?«

»Schmarrn. Der Gender-Pay-Gap existiert, aber auch wenn die SPD bei ihrer Untergangswahl die falschen einundzwanzig Prozent auf ihrem Plakat abgedruckt hat, sind es in Wahrheit sechs Prozent.«25

»Kann ja jeder sagen.«

»Kann auch jeder erklären. Das kommt einfach, weil vorher die unterschiedlichen Berufe außer Acht gelassen wurden. Eine Bankerin verdient genau so viel wie ein Banker, nur werden Männer öfter Banker und Frauen öfter Sozialarbeiterinnen. Der Unterschied in der Bezahlung ist vor allem einer der Berufswahl.«

»Echt? Das muss ich googeln …«

»Das steht sogar auf dem gottverdammten BUZZFEED!«

»Du liest Buzzfeed?«

»Die machen es richtig, ein guter Artikel und einhundert mal totaler Schwachsinn, der aber wenigstens unterhaltsam und ohne Wahrheitsanspruch ist.«

»Feminismus ist trotzdem voll wichtig.«

»Wem nützt das, solche Unterscheidungen hervorzuzaubern? Das nennt man ›falsche Fährte‹ oder ›What-about-ismus‹ und es ist ein mentaler Fehlschluss. Man lenkt vom Thema ab. Feminismus ist schön und gut, wenn er produktiv ist und Frauen aus dem Mittelalter befreit. Aber wer hat etwas davon, wenn die Gesellschaft gespalten ist? Wäre es besser, wenn Frauen auch ruchlose Manager werden? Auftragsmörder? AfD wählen?«

»Nee …«

»Das ist wieder so ein Spin-off von: Du musst doch etwas glauben. Wissenschaft und Technik sind böse und hart, so mit Zahlen und so. Reden ist viel einfacher, nicht wahr? Jede Verschwörungstheorie ist eine Abwandlung von dem, was Dramatheoretiker von Ronald B. Tobias über Blake Snyder bis Christopher Booker als Urhandlung ansehen: das Gilgamesch-Epos.26 Hattest du das in Geschichte?«

»Ich hab Genderstudies belegt.«

»Gratulation. Es ist die gleiche Geschichte wie Beowulf oder David gegen Goliath. Ein böser Feind kommt in die Idylle, der Underdog nimmt den aussichtslosen Kampf auf und bezwingt ihn mit einem unvorhergesehenen Kniff. Dem Kiesel des David.«

»Empowerment!«

»Genau. Wir lieben diese Geschichte. Wir lieben auch den Underdog und den Bösen, der in der Realität nicht in Reinform vorkommt. Aber das Leben ist kein strukturiertes Drama. Es ist brachialer Zufall. Und unser Kategorisierungszwang erzeugt Verschwörungen, um damit klarzukommen. Der rechte Radiomoderator Alex Jones …«

»Das Schwein!«

»Das auch. Der sagte, ›wenn du so was wie Captain America siehst, dann ist es fast, als hätte ich das mitgeschrieben!‹ Er erkennt nicht, dass die Realität keine Erzählung ist.27 Wahrscheinlicher ist, er ignoriert es, weil er Dammpflaster verkaufen will. Für ihn ist das ein Geschäft.28 Dennoch: das Menschliche, das Einzige, was wir noch einige Zeit den Computern voraus haben werden, in der Kombination von Geschichten und Fakten.«

»Nein.«

»Was nein?«

»Einfach nein. Sag ich jetzt einfach so. Du solltest mal zum Yoga, um deine inneren Spannungen loszuwerden.«

»Was? Was ist denn das wieder für ein esoterischer Bullshit? Yoga ist nichts weiter als eine Erfindung von Turnvater Jahn und einem indischen Anwalt vor hundert Jahren!«29

Ich sehe, wie ihre Flickentruppe mich umringt, aber das ist mir egal. Ich trinke, wenn es sein muss, auch den Schierlingsbecher.

»Das kannst du so nicht sagen, das ist rassistisch.«

»Wieso sollte das rassistisch sein? Sind unpassende Tatsachen jetzt politisch? Was ist das für ein verqueres Tabudenken?«

»Ordner! Hier ist ein Rassist!«, ruft jemand. Bevor ich mich umdrehen kann, packen mich zwei Armpaare in neongelben Jacken von hinten. Die Demokraturkrake.

»So, jetzt reicht’s!«, sagt einer.

»Mit Meinungsfreiheit?«, frage ich. Aber sie schleppen mich schon weg.

Ich werde unter eine fette Linde gesetzt, anscheinend der richtige Ort für Dissens. Gut eigentlich, ich hasse Laufen. Das ist was für arrogante Opfer, wie Achilles. Ob die Menschen in dieser Zeit erfahren werden, wie man Zellen verjüngt? Oder soll ich noch fünfhundert Jahre warten? Fünfhundert Jahre mehr Schwachsinn? Soll ich mich jetzt schlecht fühlen, weil ich es ihnen nicht verraten habe?

Andererseits, will ich mit solchen Vollidioten wirklich meine Zukunft verbringen? Oder werden die Vollidioten der Zukunft noch schlimmer? Die Menschen hassen Unsterblichkeit. Aber sie können sie nicht halb soviel hassen, wie es ihr scheißegal ist. Was sie meistens vergessen ist, dass Unsterblichkeit keine Notwendigkeit ist, sondern eine Möglichkeit. Ein Taxi rauscht vorbei. Ich könnte mich davor werfen. Ein »Kehrpaket« der Straßenreinigung fährt der Demo hinterher und dann beginnt wieder der Krieg des Verkehrs. Die Wirtschaft rollt weiter. Sinn ergibt sie auch nicht, aber wenn ihre Opposition sich mit Verschwörungstheorien selbst zerlegt, kann sie noch Jahrzehnte weiter marodieren. Wenn es in der Welt sonst nichts Schönes mehr gibt, dann doch den Gedanken an Selbstmord. Schade nur, dass das hier verboten ist. Die da oben wollen es anscheinend so.