Der letzte Ball

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3.

Es gibt Menschen, die haben eine besondere Ausstrahlung. Man sieht ihnen ihre Wichtigkeit schon aus der Ferne an, ohne dass sie sich besonders kleiden oder durch markante Gesichtszüge oder andere körperliche Merkmale besonders auffallen würden. Man sieht diese Menschen und fühlt sich in ihrer Gegenwart leicht unwohl, da man eine innere Unsicherheit zu bekämpfen hat, ob man das Recht besitze, sich überhaupt in ihrer Nähe aufhalten zu dürfen. Auf der anderen Seite ist man euphorisiert, geradezu beschwingt, weil man Teil der Welt dieser Personen sein darf, einen kleinen, gespiegelten Strahl der hellen Sonne abbekommt, die das ganze dunkle Tal des eigenen Lebens fruchtbar macht. Solche Menschen brauchen nicht zu reden, nichts zu tun, sondern sie bezaubern durch ihr Wesen, welches nicht zu fassen und noch weniger zu beschreiben ist.

Ein solcher Mensch war Jules Rimet nicht. Er wirkte höchst gewöhnlich, geradezu verschüchtert und unsicher, auch wenn sein makelloser grauer Anzug, das mit den weißen Hemdkragen korrespondierende Taschentuch im Revers und der dunkelblaue Schlips ihn als einen Mann des Geschmacks und des höheren Stands auszeichnete. Er hatte eher etwas Verhuschtes an sich, strahlte eine Abwesenheit aus, vielleicht sogar eine kleine Ahnung von Ängstlichkeit vor dem ihn ständig und unerbittlich umgebenden Leben. Auch in seinem Lächeln, das er nun dem Mann schenkte, der ihm halb gegenüber und halb über ihm stand, lag ein Hauch von Unterwürfigkeit, die sich in diesem Falle aber mit echter Freude mischte. Er stand von seinem Mahagonischreibtisch auf, der schon jetzt, kurz nach seiner Ankunft, mit Papieren übersäht war. Fischer hatte angeklopft und war von einem jungen, hübschen Mädchen mit blonden Zöpfen mit einem Knicks zur Tür hereingelassen worden. Sie hatte sich als Annette, Rimets Tochter, vorgestellt und war in den hinteren Teil der großen Kabine abgetaucht, sobald sie ihn in das Zimmer ihres Vaters geführt hatte.

Ein echtes Lächeln spiegelte sich auf Rimets Lippen, als er auf Fischer zuging und ihm die ihm entgegengestreckte Hand mit seinen beiden zartgliedrigen Händen umfasste. Dann gab der Präsident Fischer einen flüchtigen Kuss auf beide Wangen, hielt ihn mit seinen ausgestreckten Armen ein Stück von sich und sagte: „Es liegt viel Arbeit vor uns. Ich freue mich, dass du da bist.“

Fischer erinnerte sich in diesem Moment an den Tag, an dem Rimet ihm das du angeboten hatte. Sie waren vor vier Jahren, an einem kalten Maitag, durch die engen Gassen von Amsterdam gelaufen, gerade nachdem man in einer Dauersitzung der FIFA die Organisation einer Weltmeisterschaft beschlossen hatte. Rimets Wangen waren vor Aufregung noch errötet, obwohl der kaltnasse Nachmittag einen ansonsten frösteln ließ. Er nahm Fischers Arm in seinen und fragte ihn, wieviel Sprachen dieser eigentlich spreche, woraufhin Fischer wahrheitsgetreu antwortete: „Neun.“ Rimet blieb stehen, schaute ihn an, reichte ihm die Hand und sagte: „Ich bin Jules.“

„Es tut mir leid, Jules“, stotterte Fischer – er musste sich immer noch an das „Du“ gewöhnen. „Ich bin leider etwas spät. Es gab da einen seltsamen Zwischenfall.“ Rimet betrachtete seinen Vize interessiert. „Einen Zwischenfall?“

„Naja, da scheint ein Mann in die Turbine gefallen zu sein. Oder so …“

Rimet hob die Augen, um sein Interesse zur Schau zu stellen, was ihm aber nur halb gelang. „Soso? Was die Leute heutzutage alles machen. Interessant.“

Dann schob er seinen Freund durch die Kabine hindurch zum Esstisch, der ebenfalls über und über mit verschiedenen Schriftstücken übersät war, sodass die darunter liegende makellose weiße Decke kaum zu sehen war. Als sich die beiden Männer gesetzt hatten, fuhr Rimet fort: „Gewalt, mein lieber Freund. Das Grundübel unserer Gesellschaft. In seiner schlimmsten Form: Krieg. Furchtbar. Wahrlich furchtbar. Das ist der Grund für unsere Mission. Fußball wird alles verändern, lieber Maurice.“ Während er von Freunden normalerweise Mor und von den Deutschen Moritz genannt wurde, sprach ihn der Franzose immer mit der gallischen Variante seines Namens an.

Fischer schaute ungläubig.

„Verändern? Was?“

„Fußball ist Menschlichkeit, Maurice.“

„Ich verstehe nicht.“

„Was? Was machst du dann hier?“ Rimet lachte laut auf. Er war jetzt ganz in seinem Element.

„Viele Menschen halten Fußball für ein Spiel. Aber denke nur, Maurice. Die Reinheit. Die Sportlichkeit. Ehrliche Männer stehen sich in einem gleichen Kampf mit gerechten Mitteln gegenüber und fechten auf sportliche Art und Weise aus, wer der Bessere sei. Eines Tages, lieber Freund, wird der zivilisierte Mensch keine Kriege mehr führen, sondern seine Konflikte über Fußballspiele austragen.“

Fischer wusste nicht genau, was er sagen sollte. Zum Glück half ihm Rimets Tochter. In ihrem züchtigen, blauweißen Kleid kam sie um die Ecke gelaufen und schimpfte. „Papa, also wirklich.“

Rimet drehte sich zu ihr um. „Was ist, mein Schatz?“

„Die Kabine ist viel zu klein. Und das Bett erst. Wer soll denn darin schlafen? Papa, ich langweile mich.“

„Schatz, pack doch erstmal deine Koffer aus, ja?“

„Hier ist gar nicht genug Raum für meine Sachen.“

„Ähm, ja. Ich kümmere mich darum. Willst du dir mal das Schiff anschauen?“

Mit einem lauten Stöhnen lief das Mädchen, das Fischer so um die 15 oder 16 schätzte, zur Tür hinaus und knallte diese, um ihrer Unzufriedenheit noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen, zu.

„Ach ja, die Kinder“, versuchte Rimet die unangenehme Stimmung abzudämpfen. „Ich konnte das junge Ding nicht davon abhalten, mitzukommen. Annette, habe ich gesagt, Annette, so eine lange Überfahrt, die ist doch nichts für dich. Aber sie wollte unbedingt die neue Welt sehen. Teilhaben an dem großen Turnier. Die große, weite Welt, haha. Haben Sie Kinder, Maurice?“

„Äh, nein.“ Und nach einer kleinen, unangenehmen Pause, weil jegliche Form der Verneinung immer leicht beleidigend ist und er dem Präsidenten diese Frage auch schon beantwortet hatte und ihm die Peinlichkeit, sich daran zu erinnern, ersparen wollte, fügte Fischer hinzu: „Hatte bisher nicht das Glück, die Richtige getroffen zu haben.“ Und Fischers Gedanken richteten sich wieder auf Smeraldas duftende Haare.

„Gut, gut. Frauen lenken ja auch nur ab vom Wesentlichen. Komm. Wir haben ein Problem.“ Sie setzten sich und Rimet deutete auf einige der herumliegenden Papiere. „Mir ist leider immer noch nicht ganz klar, wer alles das Turnier besucht. Die Ägypter hatten schon zugesagt, aber ich habe nun gehört, dass sie nicht zum vereinbarten Treffpunkt mit den Jugoslawen gekommen sind, welche schon vor knapp einer Woche losgefahren sind.“

„Aber wo ist das Problem?“, fragte ein naiver Vizepräsident.

Rimet starrte ihn fassungslos an. „Mein lieber Freund. Wir müssen noch den Turniermodus planen, was äußerst schwierig sein dürfte.“ Fischer wollte eine weitere Frage stellen, die ihn erneut als organisationsunfähig entlarvt hätte, aber zu seinem Glück klopfte es an der Tür. Rimet bat den Besucher herein und ein äußerst korrekt aussehender Herr mit braunen, sauber gescheitelten Haaren und einem schwarzen, dünnen Schnurrbart zwängte sich durch die Tür.

„Ich hoffe, ich störe nicht“, sagte der Neuankömmling und trat einen Schritt vor.

„Nicht doch, mein Bester. Keineswegs.“ Rimet schien sich ehrlich zu freuen.

„Dies hier ist mein Freund, Maurice Fischer. Fischer, Thomas Balway.“

Balway verbeugte sich übertrieben und streckte Fischer die Hand aus. „Ah, der Vizepräsident.“

„Ist mir eine Ehre“, erwiderte Fischer.

Rimet erläuterte: „Ein ausgezeichneter Schiedsrichter.“

Balways Miene hellte sich auf. „Werde tun, was ich kann. Hauptsache, es geht alles mit rechten Dingen zu.“

Fischer runzelte die Stirn, da er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand ernsthaft versuchen würde, Einfluss auf das Spiel zu nehmen.

„Thomas ist sicherlich einer unserer Besten. Dazu noch Christophe, Langenus und Azincourt. Wir können wahrlich froh sein.“

Balway lachte und wie ein Leuchtturm, der sein Licht in die entferntesten Winkel trägt, schien auch das Gelächter des Franzosen den letzten Winkel der Kabine zu erreichen. „Naja, ich gebe mir Mühe.“

Rimet bat seinen Landsmann, sich mit an den Tisch zu setzen. „Schauen Sie, Thomas. Wir sind noch am Überlegen, wie wir nun das Turnier genau abhalten. Meine Idee ist, zwei Gruppen zu bilden, aus denen sich dann die vier ersten Mannschaften für die Zwischengruppe qualifizieren. Allerdings …“

Während die beiden sich Gedanken über den Modus des Turniers machten, blickte Fischer nach draußen. Das Schiff hatte begonnen, sanft zu schaukeln und die Möwen kreischten aufgeregt und flogen vor dem Fenster hin und her. Fischer sah immer noch die schlackernde Hand vor sich, die wieder und wieder gegen die Metallwand klatschte. Und er fragte sich, ob dies ein schlechtes Omen war. Er meinte sich daran zu erinnern, dass ihm irgendjemand irgendwann mal erklärt habe, dass ein Todesfall auf einem Schiff ein Zeichen für Unglück sei. Wer mochte die arme Seele gewesen sein, die ihr tragisches Ende auf so unwürdige Weise erlebt haben musste? Und wieso hatte der riesige Maschinist geglaubt, dass diese Person umgebracht worden sei?

„Maurice? Was meinst du zum Vorschlag unseres geschätzten Freundes hier?“

„Was? Ach, das klingt wirklich gut, würde ich sagen.“

Balway lachte wieder. Fischer konnte nicht feststellen, ob seine Abwesenheit so offensichtlich gewesen war, oder ob der Schiedsrichter sich einfach freute, dass sein Vorschlag Gefallen fand. Wieder wurde er von einem Klopfen aus dieser unangenehmen Situation befreit. Ein Mann in Schiffsuniform kam herein und fragte: „Entschuldigen Sie die Störung. Ist Herr Fischer hier? Ja? Der Kapitän möchte Sie sofort sprechen.“ Und nach einer kurzen Pause, in der er von den drei Männern angestarrt wurde: „Wenn es möglich ist.“

 

4.

Auf dem Weg zur Brücke sah Fischer Annette mit einem der rumänischen Fußballspieler sprechen. Sie war an eine dunkel getäfelte Wand gelehnt und schaute lächelnd und mit glänzenden Augen auf den Mann in seinem dunkelblauen Anzug, der sich zu ihr beugte und ebenfalls lachend etwas in gebrochenem Französisch erklärte. Das wird der Papa nicht mögen, dachte Fischer und erinnerte sich daran, dass Rimet später noch die Mannschaften, die bereits an Bord waren, begrüßen wollte.

Oben auf der Brücke verabschiedete sich dann der Offizier mit militärischem Gruß und Fischer betrat den langgezogenen, hellweißen Raum mit entsprechender Ehrfurcht. In der Mitte, vor der Steuerungseinheit, stand der Kapitän, der ein paar Worte an den Mann richtete, den Fischer vorher im Maschinenraum gesehen hatte. Er wirkte trotz seiner körperlichen Größe kleiner als der Kapitän, als dieser ihm mitfühlend eine Hand auf den Arm legte und tröstende Worte an ihn richtete. „Vielen Dank, Pupo. Trampolini hatte einen echten Freund in dir.“ Dann drehte sich der Angesprochene um und verließ die Brücke auf der anderen Seite, woraufhin sich der Kapitän zu Fischer drehte und ihn mit einem traurigen Lächeln begrüßte.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Herr Fischer. Ich weiß das zu schätzen. Vermutlich haben Sie gerade Besseres zu tun, als sich mit mir zu unterhalten.“

Fischer wiegelte ab: „Nein, keineswegs, Herr Kapitän. Wie kann ich Ihnen denn helfen. Ich nehme an, es geht um den … Vorfall?“

„Korrekt. Ich habe soeben mit dem zweiten Maschinisten gesprochen. Offensichtlich ist sein Kollege aus irgendeinem Grunde über die Absperrung gekommen. Ich vermute, dass er etwas reparieren wollte und dabei auf den Bolzen gefallen ist.“

„Was für ein schrecklicher Unfall.“

„Ja, in der Tat. Es ist nur so: Der gute Mann hat jahrzehntelange Erfahrung mit der Maschine. Es scheint unwahrscheinlich, dass er da hineingefallen wäre. Und der gute Pupo, der Mann, den Sie eben noch herauslaufen haben sehen, ist vollkommen überzeugt davon, dass es sich um keinen Unfall gehandelt haben kann.“

Fischer nickte. „Ja, das hat er heute Morgen auch angedeutet. Er brachte nur zwei Worte hervor: ‚Trampolini‘ und ‚Assassinato‘.“

„Sie haben ihn also noch im Maschinenraum gesehen?“

„Ja, richtig.“

„Ich muss das leider fragen, Herr Fischer. In welchem Zustand befand er sich?“

Fischer konnte spüren, dass der Kapitän sich für seine eigene Frage schämte. Er sah den Zwiespalt, in dem der Mann sich befand: Er musste auf der einen Seite für seine Mannschaft da sein, den Matrosen und Arbeitern vertrauen, und auf der anderen Seite die Formalia, die sein Rang mit sich brachte, einhalten.

„Er schien mir sehr aufgewühlt zu sein, Kapitän. Er wirkte fast wahnsinnig.“

Pinceti nickte. „Ja, die beiden haben von Beginn an da unten gewirkt. Sie waren unzertrennlich.“

Fischer nickte und wartete auf die Schlussformel der Unterhaltung, die ihn entlassen würde. Doch Pinceti schien noch etwas anderes zu quälen.

„Herr Fischer, ist Ihnen da unten irgendetwas aufgefallen?“

„Mir? Nein. Ich habe mich mehr oder weniger verlaufen.“

„Gut. Das wäre auch meine nächste Frage gewesen. Wie kam es, dass Sie dort in der Tiefe des Schiffes waren?“

Fischer starrte Pinceti an. Auf einmal wurde ihm klar, dass er selbst verdächtigt wurde, etwas mit dem Unfall zu tun zu haben. Er blickte durch die lange Scheibe der Brücke zum ersten Mal auf das trübe Meer und wusste nun, dass der Kapitän nicht nur als Sprecher seiner Mannschaft fungierte, sondern, angesichts der Tatsache, dass sie sich auf offener See befanden, als ermittelnde Polizeikraft.

„Es tut mir leid, Herr Fischer. Ich möchte nichts andeuten …“, sagte Pinceti, der das Entweichen der Farbe aus Fischers Gesicht richtig deutete.

„Nein. Das ist schon gut. Sie müssen …“, erwiderte Fischer. „Als ich bemerkte, dass das Schiff bald anlegen würde, haben ich mich aus dem Frühstücksraum in mein Zimmer begeben wollen. Das ganze Schiff war in Aufruhr und so habe ich irgendwie die Orientierung verloren.“

„Das geht vielen so“, ermunterte der Kapitän den Befragten.

„Und dann war ich in irgendeinem dunklen Gang und dann hörte ich die Schreie.“

„Schreie?“

„Nun, dieser Mann, Pupo. Er heulte. Er musste gerade erst bemerkt haben, dass sein Kompagnon …“

„Und dann?“

„Dann folgte ich den Schreien. Ich kam auf einen Gang und ging dann durch die schwere Eisentür, die offen stand.“

„Interessant“, bemerkte Pinceti, der nun seinerseits nach vorne auf die See schaute. „Er hat den Tod seines Freundes erst da bemerkt.“

„Wie meinen Sie das?“

Der Kapitän schaute Fischer nun wieder direkt in die Augen. „Als Trampolini auf die Turbine gefallen ist, da muss er noch gekämpft haben. Der Zwischenraum zwischen Wand und Turbine ist nicht so groß, dass man direkt hindurchpasst.“ Fischer versuchte, sich das Szenario nicht vorstellen zu müssen. „Die Schiffsschraube muss also für mindestens einen kurzen Moment gehakt haben.“

Plötzlich ging Fischer ein Licht auf.

„Der Stoß. Gestern Abend. Während der Vorstellung.“ Er musste daran denken, wie Smeraldas Hand ein kleines Stück höher an seiner Hose gerutscht war, als das ganze Schiff einen Ruck gemacht hatte.

Pinceti nickte. „Pupo hat Trampolini seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Daher war er so untröstlich. Er hat den Tod seines Freundes nicht einmal bemerkt.“

5.

Rimets Kabine war direkt nebenan. Fischer klopfte und wartete höflich, bis er ein zartes „Herein“ vernahm. Fischer öffnete die Tür und ging einen Schritt in die Kabine. „Die Mannschaften stehen oben bereit, Monsieur“, sagte er förmlich, worauf Rimet sich vom Stuhl erhob und, bereits in Abendgarderobe gekleidet, zur Tür ging, sich dabei aber noch einmal zu den Aufzeichnungen, mit denen er sich offensichtlich bis jetzt beschäftigt hatte, umdrehte. Schließlich sagte er sich von seiner Arbeit los und schenkte Fischer noch ein kurzes Lächeln. „Danke fürs Abholen. Wie war dein Gespräch mit dem Kapitän?“

„Es gab einen Todesfall im Maschinenraum. Ich bin zufällig dort gewesen und der Kapitän wollte von mir hören, was sich zugetragen hatte.“

„Ein Todesfall. Wie unschön“, bemerkte Rimet, ohne wirkliches Interesse an den Tag zu legen. Als sie den Gang in Richtung Treppe hinabliefen, kam ihnen Smeralda entgegen. Sie lächelte die beiden Männer offen an und Fischer lächelte dezent zurück. Als sie ihn passierte, meinte er ihre Hand an seinem Hosenbein zu spüren. Als sie in einen abzweigenden Gang abgebogen war, zischte Rimet: „Obacht, mein lieber Freund. Diese Frau bedeutet Ärger.“ Fischer, der sich wunderte, dass der Fußballpräsident sich auch mit Frauen auskannte, fragte nach: „Wie meinst du das – Ärger?“

Rimet drückte sich etwas näher an seinen Kollegen und senkte die Stimme: „Aber mein Bester. Das sollte doch offensichtlich sein. Diese Dame wird bezahlt.“

Fischer bekam einen roten Kopf. „Wie meinen?“

Munter plapperte Rimet drauflos: „Der uruguayische Fußballverband setzt alles daran, dass dieses Turnier für ihn ein Erfolg wird. Er bezahlt die Überfahrt für uns alle, ebenso Kost und Logis während des gesamten Turniers, das man natürlich gewinnen will. Was läge da näher, als die Verantwortlichen mit einigen Annehmlichkeiten zu bestechen?“

Fischer verstand nicht. „Bestechen? Welche Art von Annehmlichkeiten?“

„Nun, offensichtlich will man beim Gastgeberverband, dass einem die Ausrichter des Turniers gewogen sind. Ein kleines Abenteuer mit einer zugegeben attraktiven Dame kann da schon einmal den Ausschlag geben.“

Fischer blieb auf der mit rotem Teppich ausgelegten Treppe stehen. „Wie …, wie kommst du darauf, dass es sich bei dieser Dame …“, Er musste aufpassen, dass er nicht aus Versehen ihren Namen nannte, „um eine uruguayische Kurtisane handelt?“

„Logik, mein lieber Freund“, schwelgte Rimet in seinem eigenen Wissen. „Erstens würde eine alleinstehende Dame niemals in einem so großen Zimmer auf dem Luxusdeck reisen. Zum anderen habe ich den uruguayischen Verband darum gebeten, dieses Deck nur für uns Funktionäre zu reservieren. Sie aber ist die einzige Person, die dort noch Platz gefunden hat. Also wurde sie dort vom Verband hinbeordert. Aber für weibliche Reize sind Sie ja sowieso nicht anfällig.“

Fischer schaute seinen Vorgesetzten an, um zu erfassen, ob dieser seine Aussage vielleicht ironisch gemeint haben könnte. Im gleichen Atemzug schalt er sich einen Narren. Wie hatte er ernsthaft glauben können, dass diese Frau an ihm als Mann Interesse hätte haben können. Ein ungestümer Liebhaber war er ebenso wenig wie ein Charmeur. Er wollte von ganzem Herzen im Boden versinken, zwang sich jedoch, möglichst unbekümmert zu wirken, während sie raus aufs Deck gingen, wo sie von einer leichten Brise empfangen wurden. Von Weitem hörte Fischer das fröhliche Gemurmel einiger Männer, das ihm im ersten Moment wie Spott vorkam. Smeralda, eine Liebesdienerin, bezahlt, um ihn zu verführen. Noch bevor er sich seines Knotens im Magen bewusst wurde, gesellte sich ein neuer hinzu. Wenn sie tatsächlich aus dem Grunde auf diesem Schiff war, den Rimet genannt hatte, dann würde sie sich nun auch den anderen Delegierten mit ihren „Diensten“ annähern. Er war froh, dass es beim letzten Aufstieg ans Oberdeck ein Geländer gab, an dem er sich festhalten konnte.

Ganz oben angekommen, standen dort auf frisch gewienertem Dielenboden, sorgsam aufgereiht, die Mannschaften Rumäniens und Frankreichs auf jeweils gegenüberliegenden Seiten des weiß lackierten Außengeländers. Die Männer lachten und scherzten. Als sie die beiden FIFA-Offiziellen auf sich zukommen sahen, stellten sie sich sofort wie auf Kommando stramm. Ein Mann mit weißen Trainingshosen, akkurat hochgezogenen weißen Socken und einem weißen Unterhemd trat aus der Reihe vor, um die beiden Neuankömmlinge zu begrüßen. Er hatte kurzes Haar, das sich in seiner Farbe ganz seiner Kleidung anpasste. Er war etwas hager und hatte einige Falten im Gesicht, was ihn aber nicht alt, sondern eher freundlich wirken ließ. Rimet nahm den Mann in seine Arme und gab ihm rechts und links einen Kuss auf die Wange. Dann wandte er sich zu Fischer: „Maurice, dies ist Raoul Cadron, momentaner Trainer der Equipe.“ Fischer war sich leicht unsicher, wie er den Mann begrüßen sollte, und gerade als er sein Gesicht vorbeugte, um es Rimet mit dem Bruderkuss gleichzutun, schüttelte Cadron ihm die Hand.

„Angenehm.“

Um irgendetwas zu sagen, fragte Fischer: „Sie haben schon angefangen zu trainieren?“

„Oh ja. Die Mannschaft soll aktiv bleiben. Das ist die Grundlage.“

Fischer nickte etwas unbeholfen. „Sie sind sicher ein erfahrener Leiter“, fuhr Fischer fort, dem nach dem vertraulichen Gespräch mit Rimet jegliche Fähigkeit, sinnvolle Kommunikation zu machen, abhanden gekommen war. Erstaunlicherweise aber war es nun Cadron, der leicht errötete.

„Nun, ehrlich gesagt kümmere ich mich erst seit heute um die Mannschaft.“

Rimet kam erklärend zu Hilfe: „Der eigentliche ‚Selectionneur‘, Monsieur Barreau, konnte die Equipe leider nicht begleiten. Er hat sich seinen Verpflichtungen an der Musikakademie nicht entziehen können.“ Fischer bemerkte einen leicht angesäuerten Tonfall bei Rimet.

„Wie dem auch sei, ich bin mir sicher, die Mannschaft ist bei Monsieur Cadron bestens aufgehoben.“ Dann wandte sich der Präsident direkt an die Spieler.

„Männer. Ich bin stolz, dass ihr hier seid. Ich weiß, dass ihr einiges an Entbehrungen auf euch nehmt und eure Familie, Freunde und Kinder für einige Zeit alleine lasst, um an diesem historischen Ereignis teilnehmen zu können. Ihr vertretet unsere Landesfarben und ich bin sicher, dass ihr euch ihrer würdig erweisen werdet. Nun. Ich möchte, dass ihr euch als echte Franzosen zeigt und euch gut mit allen anderen Nationen hier an Bord vertragt.“ Damit deutete Rimet auf die gegenüberliegenden Rumänen. „Vielleicht habt ihr euch ja schon gegenseitig vorgestellt. Ich habe den Kapitän angewiesen, heute, am ersten Abend, die zwei ersten Mannschaften auf diesem Schiff zu mischen. Ihr sitzt also jeweils zwischen zwei Spielern der Rumänen. Lernt euch kennen.“ Damit zog Rimet etwas langsamer als nötig seinen Hut. Doch seine etwas unbeholfene Rede löste dennoch Jubel bei den Spielern aus, die nicht nur applaudierten, sondern auch fröhlich dreinblickten. Dann drehte sich Rimet um und wandte sich an die Rumänen. „Übersetze für mich, Maurice.“

 

Der Trainingsleiter der Rumänen, ein ernst aussehender Mann mit schwarzen, zurückgekämmten Haaren und kantigem Gesicht, kam seinerseits auf Rimet und Fischer zu, schüttelte ihnen die Hand und sagte in gebrochenem Französisch: „Ich freue mich, Messieurs.“

„Ich freue mich auch, Monsieur Rădulescu. Nun, ich nehme an, alle Ihre Männer sind wohlauf?“ Der Übungsleiter der Rumänen blickte etwas nervös. „Ja, Monsieur.“

„Nun denn. Dann will ich auch ein paar aufmunternde Worte an Ihre Mannschaft richten.“ Er streckte sich.

„Männer. Ich bin dankbar, dass ihr es geschafft habt, dabei zu sein auf dieser Reise zu einem historischen Ereignis. Ihr habt alle große Entbehrungen machen müssen, um …“

„Ähm …“ Fischer unterbrach mit einem Husten.

„Ach ja, Maurice, bitte. Übersetze.“

„Ja, also. Das Problem ist, dass ich in drei Sprachen übersetzen müsste. Es könnte also etwas dauern.“

„Drei Sprachen? Was ist das für ein Unsinn. Das sind doch Rumänen. Ein Land.“

„Ja, aber da sind auch Ungarn und Deutsche dabei.“ Moritz rief Alfred Eisenbeisser zu sich, der sofort ein paar Schritte nach vorne machte und sich erklären ließ, dass er für die anderen weiterübersetzen solle. Schließlich konnte Rimet, der angesichts der Unterbrechung etwas ungehalten war, weitermachen.

„Also, jedenfalls wünsche ich allen hier eine gute Fahrt. Ihr werdet heute neben jeweils einem Franzosen sitzen. Keine Angst, wir sind eigentlich ganz nette Leute.“

Fischer blickte anerkennend zu Rimet herüber, der sich in dem ganzen Trubel ein wenig Humor für seine Rede bewahrt hatte. Rumänen und Franzosen stellten sich dann gegenseitig mit einem Händeschütteln vor und Rimet verschwand zufrieden. Fischer wollte noch ein wenig an der frischen Seeluft bleiben und daher suchte er noch einmal das Gespräch mit Alfred Eisenbeisser, der neben ihm stand.

„Da hat die Seekrankheit wohl schon ihre ersten Opfer gefordert…“ Eisenbeisser schaute ihn etwas überrascht an. „Äh, Herr Rădulescu hat gesagt, ein Spieler fehle.“ Eisenbeisser nickte.

„Ja, der Gheorghe ist seltsamerweise nicht mehr da.“

„Wirklich?“ Fischer zog die Augenbrauen hoch. „Seit wann ist das denn?“

„Naja. Gestern Abend ist er nicht mehr in seine Kabine gekommen. Das hat zumindest der Lafinsky gesagt. Und heute war er den ganzen Tag nicht zu sehen gewesen.“

„Ist er …“, Fischer zögerte, da er nicht wusste, wie er sich ausdrücken konnte, ohne dem Verschollenen zu nahe zu treten. „… ein Frauenheld?“ Und hier zog sich wieder sein Magen zusammen, denn in dem Moment, da er es ausgesprochen hatte, stellte er sich vor, wie Smeralda und dieser Gheorghe sich mit heißen Küssen bedeckt hatten, bevor ihm klar wurde, dass er selbst ja die Nacht mit ihr verbracht hatte.

„Nun“, erwiderte Eisenbeisser, „er ist eben ein Mann. Aber dass er nicht zum Morgentraining erschienen ist, sieht ihm gar nicht ähnlich.“

Fischer hatte auf einmal einen furchtbaren Verdacht. Er musste an die Hand denken, die leblos, aber immer noch unaufhörlich in seinem Kopf gegen das Metall schlug. Er verabschiedete sich ziemlich abrupt und eilte auf die Schiffsbrücke.

Pinceti blickte ihn mit traurigen Augen an. Fischer hatte ihm, nachdem er kurz hatte Luft holen müssen, da er die Gitterstufen hinaufgesprungen war, seine Vermutung, dass es sich bei dem Toten um Gheorghe Moldoveanu, einen rumänischen Nationalspieler, handeln könnte, mitgeteilt. Im selben Moment wurde ihm klar, dass ihn der Kapitän für verrückt halten musste oder zumindest doch ziemlich hysterisch. Und schließlich, so schlussfolgerte Fischer, hatte der Kapitän damit auch ziemlich recht. Er schob seinen überdrehten Zustand dem Mangel an Schlaf in die Schuhe und der Aufregung, die ihn im allgemeinen Trubel der letzten Tage erfasst hatte. Und somit erwartete er, von Pinceti mit freundlichen, aber bestimmten Worten von der Kommandobrücke verwiesen zu werden. Stattdessen winkte der Kapitän ihn zu sich und ging dann selbst zur anderen Seite der Brücke, öffnete die Tür, stieg hinab, öffnete eine weitere Metalltür, stieg wieder eine Treppe hinab und führte Fischer weiter in die Untiefen des Schiffes, das er noch am selben Morgen so gerne verlassen hätte.

Schließlich endete die kurze Reise vor einer weißen Tür, auf der ein rotes Kreuz aufgemalt war – das Krankenzimmer. Pinceti schaute sich um, öffnete die Tür und führte Fischer in einen schmalen, mit weißen Regalen besetzten Raum, in dem in der Mitte auf einer Bahre ein Mann unter einer weißen Decke lag. Pinceti blieb vor dem Aufgebahrten stehen, schlug die bis zum Gesicht hochgezogene Decke zurück und fragte Fischer: „Ist dies Gheorghe Moldoveanu?“

Fischer blickte in das bleiche Gesicht eines jungen Mannes, dessen tote Augen ins Nichts starrten. Allerdings war es nicht das Gesicht, das Fischers Aufmerksamkeit fesselte. Er konnte nicht umhin, auf seinen Hals zu schauen, der eine klaffende, waagerechte Wunde in der Mitte aufwies und das blutverschmierte Innere seiner Lunge offenbarte.