Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war also weder Unfall noch Zufall, sondern das Ergebnis eines Eskalationsprozesses, der einen begrenzten regionalen Zusammenstoß zu einem generellen globalen Konflikt ausweitete. Mindestens drei verschiedene Ebenen sind auseinanderzuhalten: Am Anfang stand die serbisch-österreichische Konfrontation, zu der es kam, weil die bosnischen Serben sich von der Herrschaft der Habsburger befreien wollten. Aus dieser Querele ergab sich ein kontinentaler Streit um die Hegemonie über die europäische Halbinsel, der sich entspann zwischen dem Zweibund – Deutschland und Österreich – auf der einen und der französisch-russischen Allianz auf der anderen Seite. Schließlich weitete sich dieser Kontinentalkrieg aus zu einem maritimen und kolonialen Weltkrieg zwischen den Mittelmächten samt osmanischen Verbündeten hier und den Briten und Japanern dort. Die Allianzen schienen festgefügt. Nur Italien löste sich aus dem Dreibund, um im Frühjahr 1915 zur Entente überzutreten.11 Nicht ein bestimmtes Land trug die Hauptverantwortung, sondern der Konflikt verbreitete und verschlimmerte sich schrittweise durch eine Abfolge einzelner Entscheidungen, die durch spezifische nationale Interessen motiviert waren. Da es weder übergreifende Institutionen noch Empfinden einer gemeinsamen Verantwortung gab, trieben diese Entschlüsse Europa unaufhaltsam in den Krieg.

Ironischerweise hat, auf lange Sicht betrachtet, keine der Kriegsparteien ihre Ziele erreicht. Zwar verwirklichte sich der serbische Traum von einem größeren südslawischen Staat in der Gründung Jugoslawiens, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zerfiel dieses aber wieder. Das verzweifelte Hasardspiel, das die Doppelmonarchie retten sollte, ergab das genaue Gegenteil des Gewollten: Namentlich im Osten lösten sich Völkerschaften aus dem Kaiserreich Österreich-Ungarn und wurden autonom, so dass es schon nach dem Ersten Weltkrieg aufhörte zu existieren. Die russische Hoffnung, den BalkanBalkan zu dominieren und Zugang zum Mittelmeer zu erlangen, war mit der eigenen Revolution vereitelt. Letztere führte in die sowjetische Sackgasse, was das Land für Dekaden von freiheitlichen Entwicklungen abschnitt. Die Absicht der Deutschen, die Mitte des Kontinents zu beherrschen, hatte besonders desaströse Konsequenzen: Sie brachte einen zweiten, noch blutigeren Krieg, begleitet von einem völkermörderischen Holocaust, und anschließend die jahrzehntelange Teilung des Landes. Die Franzosen waren immerhin insofern erfolgreich, als sie Elsass-LothringenElsass-Lothringen zurückbekamen, doch dafür bezahlte die Nation mit einer Niederlage im Zweiten Weltkrieg und verlor ihren Großmachtstatus. Sogar die Briten, obwohl in beiden Weltkriegen Sieger, vermochten ihr Empire nicht zu halten und mussten erleben, wie die Vereinigten Staaten an ihnen vorbeizogen.12 Wären die führenden Politiker Europas in der Lage gewesen, diese Ergebnisse vorherzusehen, hätten sie sich ihre verhängnisvollen Entscheidungen wohl gründlicher überlegt.

Kriegsgründe

Da die Einwirkung der Modernität auf die Transformation der internationalen Beziehungen theoretisch noch nicht genügend reflektiert wurde, stoßen die meisten Erklärungen für den Kriegsausbruch 1914 nicht zu den tieferen Ursachen vor. Adam SmithsSmith, Adam Postulat des äußeren Friedens, das wertvolle Hinweise liefern könnte, scheint die Modernisierungstheorie unserer Zeit vergessen zu haben. Sie stützt sich hauptsächlich auf innenpolitische Faktoren, etwa wirtschaftliche Entwicklung, soziale Mobilisierung, Experimente in Kultur und Lebensstil und Demokratisierung, wohingegen von Zustand und Fortgang der internationalen Ordnung seltener die Rede ist. Aber wird diese Dimension erforscht, stehen sich zwei Denkschulen gegenüber: Historisch orientierte Juristen betonen häufig die Rolle des internationalen Rechts als »sanfter Zivilisator«. Als Mittel, um die Kooperation zwischen den Nationen auszubauen, regele es deren Interaktion mit bindenden Vereinbarungen und schlichte Konflikte durch Schiedssprüche.1 Neorealistische Theoretiker der internationalen Beziehungen zeigen sich jedoch skeptisch, was die Chancen des Friedens angeht, da souveräne Staaten beim Verfolgen ihrer Interessen innerhalb eines Wettbewerbssystems den Einsatz von Gewalt nicht scheuen würden – jedenfalls, solange eine zentrale, übergreifende Autorität fehle. Beide Ansätze können, jeder auf seine Weise, Licht in die Frage bringen, warum der Erste Weltkrieg ausbrach.2

Vor 1914 hatte die Entwicklung des internationalen Rechts durchaus einige Fortschritte gemacht, aber dieses Mehr an Kooperation erwies sich als noch zu schwach, um die Großmächte vom Griff zu den Waffen abzuhalten. Doch immerhin: Wenn Staaten gemeinsame Interessen hatten, wie bei der Post- und Telegrammzustellung, erleichterten ihnen internationale Vereinbarungen die Kommunikation. Stellten sich transnationale Probleme ein, etwa die Versorgung von Verwundeten auf einem Schlachtfeld, leisteten Organisationen wie das Rote Kreuz ihre Dienste ohne Ansehen der Nationalität. Trotz aller Skepsis, die ihnen entgegenschlug, gelang es den an den Haager Konferenzen Beteiligten, Regeln für den Krieg zu Lande und zur See aufzustellen. Wurde der Gebrauch von Gewalt begrenzt, diente das schließlich allen Parteien eines bewaffneten Konflikts.3 Letzten Endes aber glaubten die Nationen, der Frieden könne nur gewahrt werden, indem man potenzielle Gegner von einem Angriff abschreckte und sich der Hilfe mächtiger Verbündeter versicherte. Allianzen stabilisierten zwar kurzfristig das System, langfristig bewirkten sie aber, dass schlicht noch mehr Länder in einen Konflikt hineingezogen wurden. Es erwies sich, dass die Instrumente der diplomatischen Verhandlungen, der Vermittlung und Konfliktlösung durch internationale Konferenzen noch nicht stark genug waren, um die Kooperation am Leben zu halten.

So betrachtet agierten die europäischen Staatsmänner 1914 eher gemäß der neorealistischen Sichtweise, denn sie handelten eigennützig nur im Interesse des Landes, das sie regierten, und scherten sich wenig um das Wohl des Ganzen. Die Ideologie des Nationalismus stellte das Voranbringen der eigenen Sache über alles und teilte die Welt in gefährliche Feinde, die man bekämpfen, und potente Freunde, die man umwerben musste. Gleichzeitig betrachteten die militaristischen Denker den Krieg nicht nur als legitimes Mittel der Politik, sondern auch als zum Verfolgen der eigenen Ziele notwendiges Instrument. In allen Ländern frönten die Generäle einem »Kult der Offensive«, denn sie glaubten – und überzeugten auch die zivile Führung davon –, dass, wer den Sieg wolle, Angriffsstrategien brauche, und sei es nur, um sich wirksam verteidigen zu können. Schließlich erklärte das weitverbreitete Konzept des Sozialdarwinismus internationale Beziehungen zu einem Kampf, in dem die starken Nationen überleben und die schwachen zertreten werden würden.4 Mit solchen »stillschweigenden Voraussetzungen« im Hinterkopf waren damalige Staatsmänner zur Kooperation nur bereit, wenn sie ihre Interessen beförderte, und sie empfanden wenig Verantwortung für den Kontinent im Ganzen.

Im Gegensatz zu früheren Konfrontationen konnte die Julikrise nicht mehr gewaltlos beigelegt werden, weil alle involvierten Regierungen den Krieg bewusst riskierten. Jahrzehntelang hatte Frieden geherrscht, und die Gefahr, dass man einander angreifen werde, mutete so gering an, dass es keiner Seite notwendig erschienen war, zugunsten der Kooperation Opfer zu bringen. Jede Nation hegte Ziele – betrafen sie nun Landesverteidigung, politische Vergeltung oder territoriale Gewinne –, die sie nur erreichen konnte, wenn sie ihre Feinde einschüchterte und ihnen mit Angriff drohte. Alle Staaten hatten Angst nachzugeben, denn das wäre von ihren vermutlichen Feinden als Zeichen der Schwäche gedeutet worden – und von ihren eigenen Untertanen ebenfalls.5 Da England und Deutschland nun auf zwei verschiedenen Seiten standen, waren zudem keine Akteure mehr übrig, die erstens neutral, zweitens vermittlungsbereit und drittens stark genug gewesen wären, um den Streithähnen ihre Verhandlungslösung zu oktroyieren. Als es zur finalen Entscheidung kam, hielten die europäischen Staatsmänner und Generäle die Vorteile, die ihnen der Krieg bieten könnte, für bedeutsamer als die Verluste, die sie in einem solchen Konflikt erleiden müssten. Diese engstirnige Konzentration auf nationale Interessen bewirkte zusammen mit der Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit, die Jahrzehnte des Friedens in ihnen herangezüchtet hatten, dass den politischen Führungsfiguren letztlich der Wille zum Kompromiss fehlte.

Eine erschreckend destruktive Seite der Moderne wurde offenbar: Statt den Fortschritt der Zivilisation weiterzutreiben, setzten die Entscheidungen von Juli 1914 die Dämonen des Krieges frei. Die nationalistische Ausrichtung der Führungsleute verkehrte wohltätige Entwicklungen in ihr genaues Gegenteil. Technische Innovationen lieferten noch tödlichere Waffen fürs Schlachtfeld; ökonomische Entwicklungen erzeugten noch mehr Ressourcen für die Kämpfe; die soziale Mobilität drängte den Individualismus zurück und presste den Einzelnen unters Joch der Massenmobilisierung; und die gewachsenen Möglichkeiten politischer Teilhabe förderten feindselige Propaganda und deren begierige Rezeption. Nur die eigensüchtige Hoffnung im Blick, sich neue Besitztümer auf dem Kontinent aneignen zu können, wollten die Nationalstaaten Europas einander mit Hilfe ihrer kolonialen Besitztümer bezwingen. Eine effiziente Bürokratie brachte die für den Waffengang notwendigen Ressourcen auf den Weg, und ein modernes Militär arbeitete Mobilisierungspläne und Strategiekonzepte aus, die einen leichten Sieg versprachen.6 Zurückhaltungsgebote verhallten, weil kein übergreifendes System existierte, das sie hätte durchsetzen können. Folglich versank Europa in einen gegenseitigen Vernichtungskrieg, der beinahe den ganzen Kontinent zerstört hätte.

 

Ein totaler Krieg


Grabenkrieg, 1916

Für die meisten Soldaten war das Kämpfen im Ersten Weltkrieg alles andere als heroisch. Am 29. Oktober 1914 bewunderte Sergeant I. F. BellBell, I. F. von den Gordon Highlanders gerade seine »fast perfekte Schanzarbeit« im Gelände nahe der belgischen Stadt YpernYpern, »da war es, als bräche die Hölle mit ihrer ganzen Macht los«. Plötzlich dröhnten die großen Kanonen und ließen die Erde erzittern, die Ohren klingen und die Augen tränen. Dann sprangen »von überallher Deutsche und attackierten uns«, warfen Handgranaten, duckten sich in Krater, schnitten sich durch Stacheldraht, wanderten auf Zehenspitzen über Minenfelder, ohne sich um sterbende Kameraden zu kümmern. Die erschrockenen Verteidiger krochen hinter Sandsäcke, konterten mit Feuer aus Repetier- und Maschinengewehren, bis die Läufe glühten, aber sahen sich doch zum Rückzug gezwungen. Einem tausendfach vollzogenen Ritual folgend, versammelte ein britischer Offizier seine Soldaten um sich und befahl ihnen, die »Stellung zurückzuholen« – mit Bajonetten im Kampf Mann gegen Mann. Dann spürte Bell einen »dumpfen Schlag«, stürzte kopfüber in das ausgehobene Loch und »stellte fest«, dass sein »rechter Fuß fehlte«. Die Toten lagen in drei Schichten übereinandergehäuft, aber der Geländegewinn war minimal. Schließlich herrschte wieder Stille, und die Leichen verwesten im Schmutz, weshalb sich ein ekelerregender Gestank erhob. Die »krasse Abscheulichkeit« der Szene war unbeschreiblich.1

Zeitgenossen nannten diesen Konflikt anfangs den »Großen Krieg«, weil er hundert Jahre relativen Friedens beendete und mehr Länder und mehr Menschenmaterial verschlang als die Kriege davor, die durch den Wunsch nach nationaler Einheit motiviert gewesen waren. Es ging zwar hauptsächlich um die Hegemonie in Europa, trotzdem sprach man bald immer häufiger von einem »Weltkrieg«. Schließlich dehnte er sich nach Übersee aus, denn ein Streitpunkt waren auch die Kolonien, und die beteiligten Mächte hatten globale Ambitionen. Millionen toter oder verwundeter Väter, Brüder und Söhne waren zu beklagen, viele Leichen wurden sogar nie gefunden. Die meisten Orte, auch kleine Dörfer, errichteten in ihrer Mitte ein Denkmal für die im Kampfe Gefallenen, eine Stätte patriotischen Gedenkens. Auf dem ganzen Kontinent erinnern noch heute Soldatenfriedhöfe mit ihren endlosen Reihen kleiner weißer Kreuze an den enormen Blutzoll einer männlichen Generation, säuberlich nach Nationalitäten getrennt. An den Schauplätzen berühmter Schlachten, etwa bei VerdunVerdun, entstanden Memorialbauten, an denen sich Veteranen regelmäßig jedes Jahr in feierlicher Runde zum Gedächtnis an ihre toten Kameraden versammelten. Letzteren wurde bescheinigt, dass sie nicht umsonst gestorben seien, indem man sich demonstrativ weiterhin zur nationalen Sache bekannte. Nur eine Minderheit kritischer Intellektueller wie die britische Feministin Vera BrittainBrittain, Vera wagte es, die Berechtigung von Kriegen in Frage zu stellen und auf Versöhnung zu drängen.2

Das Konzept des »totalen Krieges«, dem General Erich LudendorffLudendorff, Erich 1935 durch sein gleichnamiges Buch zu breiter Bekanntheit verhalf, forderte eine umfangreichere Mobilisierung und eine brutalere Kampfesweise als bislang üblich. »Das Wesen des totalen Krieges«, so LudendorffLudendorff, Erich, »beansprucht buchstäblich die gesamte Kraft eines Volkes.« Zwar waren frühere Konflikte wie der Dreißigjährige Krieg auch schon recht blutig gewesen, aber der Erste Weltkrieg schockierte viele Teilnehmer besonders, weil er alle bisherigen internationalen Bemühungen zunichtemachte, die bewaffneten Auseinandersetzungen auf die Soldaten zu beschränken. Obwohl die Schäden durch Flugzeugbombardements diesmal noch gering blieben, ebneten deutsche Vergeltungsmaßnahmen gegen Partisanen die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten ein. Infolge der von den Alliierten verhängten Seeblockade mussten Frauen, Kinder sowie alte Menschen hungern und wurden anfälliger für Krankheiten. Außerdem erforderte der enorme Personalbedarf der Massenarmeen eine umfassendere Einberufung junger Männer. Wegen des Mangels an Arbeitskräften wurden zunehmend Frauen eingesetzt, und damit genügend Kriegsmaterial bereitstand, musste sich die gesamte Wirtschaft einer Transformation unterziehen, sodass sie dem Militärischen oberste Priorität einräumte. Da die Gefechte immer härter ausgetragen wurden, drängten die Generäle des Weiteren auf die Entwicklung von Waffen mit noch mehr Tötungspotenz. Derweil proklamierten die Politiker großspurige Kriegsziele, die sie nur im Falle eines vollständigen Sieges erreichen konnten.3

Dieser erste wirklich moderne Krieg unterschied sich fundamental von den gewaltigen napoleonischen Schlachten, denn die Industrialisierung des Schlachtfelds schien die Macht, die ein Staat sich leisten konnte, zu vervielfältigen. Der technische Fortschritt kreierte noch effizientere Tötungsinstrumente wie etwa das Maschinengewehr; dank Fließbandproduktion konnten die Fabriken noch mehr Munition liefern, darunter Artilleriegranaten; die Wehrpflicht ermöglichte es, die Truppenstärke erheblich zu steigern; und der Gebrauch bestimmter neuer Waffen, etwa der Giftgase, verletzte international akzeptierte Normen. Die Mechanisierung des Gefechtswesens forderte so viele Opfer, dass im Frühjahr 1915 die farbenprächtigen Uniformen abgeschafft wurden, da sie dem Feind das Zielen doch gar zu sehr erleichterten. Gleichzeitig mobilisierten Journalisten und Intellektuelle die Heimatfront durch Propaganda, während Behörden zur Überwachung der Kriegsproduktion sich bemühten, knappe Ressourcen wie Stahl und Nahrungsmittel in hinreichender Menge zu sichern. Betriebsdirektoren überredeten Frauen, in den Fabriken zu arbeiten, was die Geschlechterrollen aufweichte. Die Generäle wiederum passten ihre Strategie den Erfordernissen der Massenschlachten an und setzten statt auf Angriff mehr auf Zermürbung. Die politischen Führer schließlich taten ihr Bestes, um jenen emotionalisierten Konflikt aufrechtzuerhalten, denn beenden konnten sie ihn nicht. Im Unterschied zu den Kolonialkriegen, bei denen die Siegeschancen von vornherein auf einer Seite lagen, war der Erste Weltkrieg, wie der Bürgerkrieg in den USAUSA, ein Kampf zwischen Gleichen, weshalb er eine unglaublich hohe Zahl von Opfern forderte.4

Mögen die Computerspiele unserer Tage in ihrer Vereinfachung auch den Schluss nahelegen, das Geschehen spiele sich nur an der Front ab – dieser erste moderne Krieg wurde nicht allein auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern auch in den Herzen und im Denken der Bürger. Schon ein Jahrhundert zuvor hatte der preußische Militärtheoretiker Carl von ClausewitzClausewitz, Carl von geschrieben, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Natürlich blieb die Frage, ob eine militärische Strategie erfolgreich war oder nicht, von zentraler Wichtigkeit für den Ausgang dieses Konflikts. Doch je näher er dem totalen Krieg kam, desto mehr wurde er zum Wettbewerb um Alliierte, denn die Entente und die Mittelmächte suchten gleichermaßen ihre Position zu verbessern, indem sie andere starke Länder in den Konflikt hineinzogen. Der Krieg stellte außerdem die Wirtschaft der beteiligten Staaten auf eine schwere Probe: Wer ihn gewinnen wollte, musste zur nachhaltigen Waffenproduktion in der Lage sein, gerade weil der Kampf länger dauerte als erwartet. Und noch in anderer Hinsicht war der Erste Weltkrieg eine Prüfung, nämlich für den politischen Willen der streitenden Nationen, die Kämpfe trotz aller Schrecken fortzusetzen, im Angesicht grauenvoller Verluste an Menschenleben und Material.5 In solch einem multidimensionalen Wettbewerb konnte sich ein Land nur durchsetzen, wenn es optimal organisiert und zu allem bereit war. Moderne Kriegsführung umfasste daher weitaus mehr als bloß innovative Waffentechnik: Sie bedeutete einen Härtetest für die Grundstrukturen von Gesellschaft und Politik.

Die Illusion vom kurzen Krieg

Die Öffentlichkeit begegnete dem Ausbruch des Krieges im Juli 1914 mit einer Mischung aus Enthusiasmus und unguten Ahnungen. In allen größeren europäischen Städten sammelten sich erregte Bürger spontan zu Massenversammlungen. Sie lasen einander die neuesten Zeitungsmeldungen vor, marschierten mit wehenden Fahnen einher, hörten nationalistische Reden und sangen patriotische Lieder. Nachdem sie ihre Professoren zur nationalen Einheit ermahnt hatten, zogen die Studenten auf die Straßen, denn sie begrüßten die Befreiung aus einem öden Frieden als eine Chance, ihren Schneid in einer historischen Waffenprobe zu beweisen. In den Arbeitervierteln und bei den nationalen Minderheiten jedoch überwogen die Bedenken. Sozialistische Redner und Rednerinnen, darunter Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa, forderten gar »Massenaktionen gegen den Krieg«. Besonders die Armen fürchteten, was da kommen mochte, denn sicherlich würden sie die Hauptlast des Kampfes tragen müssen. Um ihre Nervosität zu überwinden, kritzelten frisch einberufene Rekruten »À Berlin!« oder »Nach Paris!« auf die Waggons der Züge, die sie fortbrachten; spätestens Weihnachten, das glaubten sie ganz fest, würden sie zurück sein. Weder Generäle noch Politiker konnten sich damals vorstellen, die Intensität einer modernen Kriegsführung ließe sich für länger als ein paar Monate aufrechterhalten. Folglich richteten sie ihre Entscheidungen nach der Frage aus, wie möglichst rasch ein Sieg zu erringen sei.1

Bedachte man, wie eindeutig die Entente den Mittelmächten überlegen war, was Bevölkerungsgröße und Zugang zu Ressourcen betraf, konnte man schon vermuten, dass der Krieg eher kurz ausfallen werde. Erstere verfügte über 28 Prozent der industriellen Kapazität weltweit, während den Letzteren nur 19 Prozent zu Gebote standen. Außerdem hatten die Alliierten 5,8 Millionen Soldaten unter Waffen, die Gegenseite lediglich 3,8 Millionen. Da die Royal Navy die Meere beherrschte, konnte die Entente Rohstoffe und Nahrungsmittel aus der ganzen Welt beziehen, während der Zweibund an essenzielle Materialien nicht mehr herankam, wie etwa Stickstoff für Sprengmittel und Kunstdünger, Eisen für Waffen oder Kautschuk und Öl für Motorfahrzeuge. Der einzige Vorteil der Mittelmächte bestand darin, dass sie über eine kompakte Landmasse verfügten. Daher konnten sie die Strategie der »inneren Linien« verfolgen und leichter Truppen von einer Front zur anderen verlegen. Ihre Feinde hingegen belasteten die langen Verkehrs- und Kommunikationswege zwischen Frankreich, England und Russland, die eine koordinierte Planung erschwerten. Im Falle Deutschlands kamen vielleicht noch der professionelle Drill beim Militär und die exzellente wissenschaftliche Zuarbeit als Pluspunkte hinzu.2 Aber wegen ihrer strukturellen Unterlegenheit waren die Mittelmächte gezwungen, mehr und höhere strategische Risiken einzugehen.

Es war ein verzweifeltes Wagnis, einen Zweifrontenkrieg gewinnen zu wollen, indem man erst den gefährlicheren Feind im Westen niederwarf und sich um den mutmaßlich noch nicht kampfbereiten im Osten später kümmerte. Dennoch erreichte der Schlieffen-Plan fast sein Ziel – aber fast genügte eben nicht. Im Prinzip von verführerischer Einfachheit, sah er für den ersten Teil Folgendes vor: Der rechte Flügel der deutschen Front marschiert durch Belgien in NordwestfrankreichNordwestfrankreich ein, den französischen Festungsgürtel umgehend, und schlägt danach einen weiten Bogen durch das Land, indem er zunächst Richtung Süden vorstößt, dann ostwärts schwenkt und dem Feind in den Rücken fällt; dabei wird auch ParisParis eingeschlossen – so weit das theoretische Konstrukt. In der Praxis scheiterte das Vorhaben schon daran, dass die Belgier ihre Festungen, Lüttich zum Beispiel, hartnäckig verteidigten. Hinzu kam, dass die Russen rascher mobilisierten als erwartet, was den Stabschef Helmuth von MoltkeMoltke, Helmuth von zwang, nun doch zwei Armeekorps zur Stützung der Ostfront zu entsenden. In Frankreich immerhin rückten die deutschen Streitkräfte trotz aller Widrigkeiten erfolgreich vor, überquerten Anfang September den Fluss Marne nahe Paris und bedrohten bald die Hauptstadt ganz unmittelbar. Aber wirre Kommunikation, erschöpfte Soldaten, Probleme bei Nachschub und Versorgung und eine über fünfzig Kilometer offenliegende Flanke machten sie verwundbar, als Frankreichs General Joseph JoffreJoffre, Joseph und das Britische Expeditionskorps ihre Konterattacke starteten. Am 9. September beschlossen daher die Generäle Karl von BülowBülow, Karl von und Alexander von KluckKluck, Alexander von, den Vormarsch abzubrechen. In höchster Not hatten die Franzosen sogar Pariser Taxis einsetzen müssen, um die Verteidiger zur Front zu bringen. Dieses »Wunder an der Marne« hieß für die Deutschen, dass ihr Kriegsplan im Westen gescheitert war.3

 

Nicht besser erging es aber seinem französischen Pendant, dem sogenannten Plan XVII, weil der deutsche Widerstand stärker ausfiel als erwartet. Die Strategie fußte auf dem damals gepflegten »Kult der Offensive« und bezweckte unter anderem, die verlorenen Provinzen im Westen zu befreien; daher sollte der Hauptstoß nach und durch Elsass-LothringenElsass-Lothringen geführt werden. Zusätzlich hoffte man, die südlichen deutschen Staaten von Preußen abzuspalten. Obwohl die Franzosen zunächst ins Oberrheintal vorrücken und MülhausenMühlhausen einnehmen konnten, zwangen erbitterte deutsche Konterattacken sie bald zu raschem Rückzug. Nun hatte jede Partei mit einem vormarschtaktischen Plan eine empfindliche Niederlage kassiert, und daraus zogen beide Seiten die Konsequenz, dass sie sich in ihren Schützengräben festsetzten, um eine Kette aus unbezwinglichen Stellungen zu etablieren. Nur im weiterhin offenen nördlichen Abschnitt der Front hatte sich noch ein »Wettlauf zum Meer« entwickeln können, bei dem jede Seite die andere auf dem Weg zur Nordsee zu überholen und zu übertrumpfen suchte. Schließlich wollte man die strategische Initiative wieder an sich reißen. Eifrig mühten sich Deutsche und Briten auf den flandrischen Feldern, einander einzukreisen, doch ihre Kräfte hielten sich die Waage, bis man sich an der Kanalküste schließlich regelrecht auf die Füße trat. Entgegen den meisten Vorhersagen endete der Bewegungskrieg im Westen im November 1914.4 Den Deutschen war es zwar gelungen, fast ganz Belgien und einen Teil NordfrankreichsNordfrankreich zu besetzen, aber den Krieg hatten sie nicht gewonnen.

Im Osten erfüllten die russischen und österreichischen Offensiven ihren Zweck ebenfalls nicht. Stattdessen steckte man entlang einer Front fest, die von der Ostsee bis zur rumänischen Grenze reichte – rund 800 Kilometer. Nachdem sie ihre Truppen rascher hatte mobilisieren können als gedacht, zog die zaristische Armee unter Paul von RennenkampfRennenkampf, Paul von und Alexander SamsonowSamsonow, Alexander in Ostpreußen ein und stieß auf KönigsbergKönigsberg (Kaliningrad) und DanzigDanzig (Gdańsk) vor. Dass ihre beiden Einheiten getrennt marschierten, gab den deutschen Verteidigern die Möglichkeiten, die Russen zunächst bei TannenbergTannenberg, dann an den Masurischen Seen einzukreisen und sie nach Polen zurückzudrängen. So erbärmlich MoltkeMoltke, Helmuth von im Westen gescheitert war, so ruhmreich siegten Paul von HindenburgHindenburg, Paul von und Erich LudendorffLudendorff, Erich im Osten. Dadurch entstand ein Mythos um die militärische Brillanz der beiden Heerführer, der noch desaströse politische Konsequenzen zeitigen sollte.5 Im Feldzug gegen Serbien unterschätzte der österreichische Stabschef Conrad von HötzendorfHötzendorf, Conrad von seinen Feind; zwar konnte er für kurze Zeit BelgradBelgrad einnehmen, aber angesichts des heftigen Widerstandes der Verteidiger nicht halten. In GalizienGalizien war die materielle Überlegenheit der russischen Angreifer so enorm, dass die Streitkräfte der Habsburger die Festungen LembergLemberg (Lwiw) und PrzemyślPrzemyśl aufgeben mussten. Erst der Winterfeldzug deutscher Verstärkungstruppen in den Karpaten brachte etwas verlorenen Boden zurück.6

Angesichts des unerwarteten Stillstands im Westen wie im Osten suchte man fieberhaft nach Verbündeten, die dabei helfen könnten, das militärische Gleichgewicht zur jeweils eigenen Seite hin zu kippen. Während der Eintritt der Türkei in den Krieg die Schlagkraft Russlands minderte, weil es nun Truppen zur kaukasischen Grenze verlegen musste, konnte die Entente Italien dafür gewinnen, auf ihrer Seite mitzuwirken. Wenn die nationalistische Agitation in RomRom die Befreiung der Italia irredenta forderte, meinte sie eher die von Österreich beherrschten Territorien TrientTrient, FriaulFriaul und IstrienIstrien als mittlerweile Frankreich eingegliederte Provinzen wie NizzaNizza oder SavoyenSavoyen. Nachdem der Westen Italien weitere Teile der dalmatinischen Küste und neue Kolonien in Aussicht gestellt hatte, entschloss sich die Kriegspartei, auf einen Sieg der Entente zu setzen; dabei befeuerte sie ein damals noch als Sozialist profilierter, erst seit kurzem kriegerisch auftretender Benito MussoliniMussolini, Benito. Eigentlich war Österreich in der Grenzregion militärisch eher schwach aufgestellt, doch seine strategische Position in der ersten Alpenkette galt als uneinnehmbar. Daher sah sich der italienische Feldmarschall Luigi CadornaCadorna, Luigi gezwungen, seine Attacke über den Isonzo-Fluss zu führen. Den habsburgischen Verteidigern kam nun zugute, dass sie eine bessere Artillerie besaßen und genügend Soldaten aus Serbien abziehen konnten, um einer Serie italienischer Offensiven standzuhalten.7 Die Eröffnung einer neuen Front in Südeuropa bewirkte letztlich nur, dass noch mehr Blut floss.

Der Bewegungskrieg, mit dem der Waffengang begann, brachte also keineswegs, wie vielfach geglaubt, eine militärische Entscheidung bis Ende 1914. Keine Seite siegte oder unterlag entschieden genug, um das Einstellen der Kampfhandlungen zwingend zu machen. Bei den Mittelmächten wurden die Vorteile der Deutschen – taktische Effizienz und soldatische Disziplin – konterkariert durch die Schwäche des multiethnischen österreichischen Verbündeten. Bei der Entente wiederum blieben hohe Kopfzahlen und materielle Überlegenheit wirkungslos, weil ihre Feldzüge schlecht koordiniert waren. All die sorgfältig entwickelten strategischen Pläne scheiterten, weil sie den Akzent auf die Offensive setzten. Von ihr versprach man sich einen raschen, eindeutigen Sieg, durch den sich ehrgeizige Kriegsziele am ehesten erreichen ließen. Von einer defensiven Haltung wollte man wenig wissen; dabei war gerade sie militärisch effektiver und politisch leichter durchzuhalten. Das Ergebnis: Alle Armeen verloren fast die Hälfte ihrer ursprünglichen Mannstärke; die nicht mehr Einsatzfähigen waren entweder tot, verwundet oder gefangen. Die Mittelmächte hatten zwar fast ganz Belgien und große Teile NordfrankreichsNordfrankreich besetzt, beim Vormarsch auf WarschauWarschau aber bremste sie der Feind, und in GalizienGalizien hielten sie sich nur mit Mühe, ebenso in Italien. Zur Überraschung aller stellte sich heraus, dass moderne Kriegsführung die Kämpfe nicht verkürzte, sondern ins Unendliche verlängerte.


Der Erste Weltkrieg in Europa 1914–1918