Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Polarisierende Krisen

Noch war die internationale Kooperation nicht institutionalisiert. Daher erstaunt es nicht, dass eine Serie diplomatischer Krisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Faktoren, die für Feindseligkeiten sorgten, verschärften. Bisher hatte ein System des Gleichgewichts der Kräfte das Ärgste verhindert, und man betrachtete solche Konfrontationen als normalen Teil internationaler Beziehungen: Staaten verfolgten nun einmal konfligierende Interessen durch Verhandlung oder Gewalt, bis sie auf hinreichenden Widerstand stießen – so weit, so üblich. Doch Ziele durchzudrücken, indem man Konflikte riskierte, barg ernsthafte Gefahren, wie nun immer deutlicher wurde. Ungut war, wenn man während einer Krise tüchtig polterte und schwadronierte, das Ergebnis das Publikum dann aber enttäuschte; in dem Fall blieb nämlich selbst noch nach dem Erreichen einer Lösung ein Quantum an Feindseligkeit zurück, das die Bereitschaft der Kontrahenten minderte, sich beim nächsten Mal wieder auf einen Kompromiss einzulassen. Außerdem bedurfte eine Vereinbarung eines mediatorischen Mechanismus, sei es eine internationale Konferenz oder die Vermittlung durch eine oder mehrere unbeteiligte Mächte. Derlei Verhandlungen brachen jedoch zusammen, wenn eine Partei sich weigerte, ins Gespräch zu treten, oder wenn die potenziellen Vermittler selbst in den Konflikt verwickelt waren. Die Häufung der Krisen, die sich in den letzten Jahren vor dem Kriege entwickelten, trug wesentlich dazu bei, dass zwei antagonistische internationale Allianzen entstanden und sich die Fronten zwischen ihnen verhärteten.1

Das imperiale Deutschland rückte nun ab von Bismarcks kompliziertem diplomatischen System und vollführte überstürzt eine »diplomatische Revolution«, die es am Ende isolieren sollte. Bedacht, als Teilnehmer eines Zusammenspiels von fünf Großmächten immer Teil eines Trios zu sein, hatte der Eiserne KanzlerBismarck, Otto von den Zweibund mit Österreich-Ungarn durch ein Geheimabkommen mit Russland ergänzt. Mit diesem sogenannten Rückversicherungsvertrag hoffte er, das nach Vergeltung strebende Frankreich in Schach zu halten, während sich England seiner splendid isolation erfreute. Der junge Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.wollte sich der Vormundschaft dieses vorsichtigen, freilich nicht immer ehrlichen Staatsmanns entwinden und eine »Weltpolitik« auf See betreiben. Der neue Kanzler wiederum, Georg Leo Graf von CapriviCaprivi, Georg Leo von, strebte einen kontinentalen Handelsblock unter Ausschluss des Russischen Reiches an. Das französische Kabinett witterte eine Chance: In der Hoffnung, das verlorene Elsass-Lothringen wiederzubekommen, bot es der zaristischen Regierung ein Bündnis an. Dass Letzterer der Sinn danach stand, ließ sich vermuten, denn es hatte Russland tief getroffen, dass Deutschland den genannten Pakt nicht verlängern mochte. Das Zarenreich war zudem zornig darüber, dass es auf dem BalkanBalkan von Österreich blockiert wurde. 1892 gebar diese eigenartige Zweckehe dann die Französisch-Russische Allianz, was wiederum Zwietracht in den Kontinent brachte.2

Dass 1904 England und Frankreich die dramatische Faschoda-Krise beilegten, indem sie die Entente cordiale gründeten, war ein weiterer Schritt hin zur Polarisierung. Blicken wir zurück: September 1898 gerieten der französische Major Jean-Baptiste MarchandMarchand, Jean-Baptiste und sein kleines Truppenkontingent nahe der Stadt FaschodaFaschoda, gelegen am Oberlauf des Nils im SudanSudan, mit einer kampfkräftigen Flottille britischer Kanonenboote aneinander, die Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert befehligte. Hintergrund des Zusammenstoßes war, dass sich in Afrika die Expansionspläne der beiden Nationen ins Gehege kamen. Frankreich wollte einen kohärenten West-Ost-Gürtel von SenegalSenegal bis SomaliaSomalia, doch das kollidierte mit dem britischen Vorhaben eines kolonialen Süd-Nord-Gürtels vom KapKap der guten Hoffnung bis KairoKairo, wie SüdafrikasSüdafrika Premierminister Cecil RhodesRhodes, Cecil ihn propagierte. Kaum wurde die Konfrontation bekannt, heulte in beiden Ländern die Presse laut auf, französische und britische Politiker beschimpften sich wüst; LondonLondon und ParisParis gerieten an den Rand eines Krieges. Aber um den britischen Beistand gegen Deutschland zu gewinnen, gab Außenminister Théophile DelcasséDelcassé, Théophile bestimmte französische Ansprüche auf und begann Verhandlungen über die kolonialen Streitigkeiten. Die schließlich erzielte Vereinbarung gab den Briten freie Hand in ÄgyptenÄgypten, und MarokkoMarokko ging an Frankreich über. Dadurch änderte sich die »geistige Haltung« der beiden Länder zueinander grundlegend.3

Die Erste Marokkokrise 1905/06 zementierte die Frontenstellung Entente vs. Zweibund in Europa. Verstimmt darüber, dass Frankreich dieses Land einfach klammheimlich annektiert hatte, protestierte Berlin und forderte, für die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands müsse es dort weiterhin eine »offene Tür« geben. Um herauszufinden, ob die englisch-französische Kooperation wirklich schon eine starke Bindung sei, sandte Reichskanzler Bernhard von BülowBülow, Bernhard von Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.nach TangerTanger. Dort hielt der deutsche Monarch eine Rede, in der er für die Unabhängigkeit MarokkosMarokko eintrat. Diese demonstrative Provokation verärgerte die Öffentlichkeit in ParisParis und in BerlinBerlin so sehr, dass beide Kontrahenten zum Krieg mobilmachten. Die Situation entspannte sich schließlich, als die französische Führung den überforschen DelcasséDelcassé, Théophile zwang, sein Außerministeramt niederzulegen, und einer internationalen Konferenz in Algeciras zustimmte. Doch dank der wirksamen Diplomatie Frankreichs fand sich Deutschland unter den Teilnehmern isoliert; allein Österreich-Ungarn stellte sich auf seine Seite. BerlinBerlin musste daher einen gesichtswahrenden Kompromiss akzeptieren: Nicht ganz MarokkoMarokko, sondern nur die marokkanische Polizei solle unabhängig bleiben.4 Das deutsche Muskelspiel erwies sich als gescheitert, denn es festigte die englisch-französische Kooperation, ja mehr noch: Es motivierte Russland, seine kolonialen Unstimmigkeiten mit den Briten vertraglich aus der Welt zu schaffen und 1907 der Entente beizutreten.

Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich am 6. Oktober 1908 spannte die internationale Situation weiter an. Der Berliner Vertrag von 1878 hatte WienWien zwar erlaubt, diese osmanische Provinz zu besetzen – als Gegenleistung dafür, dass es im Russisch-Türkischen Krieg neutral geblieben war. Doch brachte 1903 ein Staatsstreich in BelgradBelgrad eine nationalistische Dynastie an die Macht, die mit russischer Unterstützung für ein Groß-Serbien agitierte. Um die Spannungen beizulegen, schloss der russische Außenminister Alexander IswolskiIswolski, Alexander eine vorläufige Übereinkunft mit dem österreichischen Außenminister Graf Alois von AehrenthalAehrenthal, Alois von: WienWien dürfe das Territorium annektieren und Bulgarien seine Unabhängigkeit erklären. Im Gegenzug werde Österreich Russland bei dessen Bestreben unterstützen, ein exklusives Recht auf Durchfahrt durch die maritime Ausgangspforte des Schwarzen Meeres, den Bosporus, zu erhalten. Letzteres konnte aber nicht in die Tat umgesetzt werden, weshalb Russland seine Zustimmung zur Annexion zurückzog, Österreich indes beharrte auf der Einverleibung, was nun zu massiver öffentlicher Erregung in Russland und Serbien führte. Um die Spannungen zu beenden, richtete das Deutsche Reich eine kaum verblümte Drohung an Sankt Petersburg Sankt Petersburg (Leningrad, Petrograd): Akzeptiere Russland den fait accompli nicht, würden die Dinge ihren Lauf nehmen; Deutschland, so das bekannte Diktum des Kanzlers von BülowBülow, Bernhard von, stehe in »Nibelungentreue« zu Österreich.5 Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) sah sich zum Nachgeben gezwungen, was die Beziehungen zwischen ihm und den Regierungen in BerlinBerlin bzw. WienWien dauerhaft verschlechterte.

Der Kaiser wiederum unternahm einen Versuch, die englisch-deutschen Beziehungen zu verbessern, der ironischerweise gerade das Gegenteil bewirkte. Ende Oktober 1908 erschien im LondonerLondon Daily Telegraph ein Interview mit Wilhelm II. Wilhelm II., das der britische Journalist Stuart WortleyWortley, Stuart aus mehreren privaten Gesprächen mit dem Kaiser zusammengestellt hatte. WilhelmWilhelm II. ließ sich die Version vorab aushändigen und leitete sie an Kanzler von BülowBülow, Bernhard von zum Gegenlesen weiter. Wir wissen bis heute nicht, ob Letzterer, der gerade an der NordseeNordsee urlaubte, den Text vor der Freigabe wirklich gelesen hat. Die britische Öffentlichkeit reagierte jedenfalls anders als erhofft. Befremdet und empört nahm sie zur Kenntnis, wie der KaiserWilhelm II. seine Freundschaft gegenüber England betonte, wie er damit prahlte, im Burenkrieg erfolgreich vermittelt zu haben, und wie er behauptete, der forcierte deutsche Flottenbau richte sich keineswegs gegen die Royal Navy. Nun entluden sich all die Friktionen, die sich über die Jahre zwischen den beiden Nationen angesammelt hatten, auf englischer Seite in einem Sturm des Protestes. Auf deutscher wiederum war die Öffentlichkeit erzürnt, dass ihr MonarchWilhelm II. so wenig diplomatisches Taktgefühl besaß, und der ReichskanzlerBülow, Bernhard von drohte mit Rücktritt. Der geläuterte KaiserWilhelm II. mischte sich danach zwar seltener in die Außenpolitik ein, aber die englisch-deutschen Beziehungen waren nun einmal beschädigt.6

Die Zweite Marokkokrise von 1911 isolierte Deutschland weiter. BerlinsBerlin Gepolter drängte LondonLondon in noch engere Kooperation mit ParisParis, und die Lösung der Krise enttäuschte den kriegsversessenen Teil der heimischen Öffentlichkeit. Den äußeren Anlass der Zuspitzung lieferte die französische Inbesitznahme von FezFez und RabatRabat, die vorgeblich dem Sultan Hilfestellung gegen lokale Rebellen leisten sollte. BerlinBerlin hatte eigene Interessen in und an MarokkoMarokko, und um diese wenigstens in anderen Teilen des afrikanischen Landes zu sichern, sandte die deutsche Regierung das Kanonenboot »Panther« nach AgadirAgadir. Dadurch befeuerte BerlinBerlin wiederum britische Ängste, die Deutschen könnten eine Flottenbasis im Atlantik errichten. LondonLondon war die französische Invasion in MarokkoMarokko zwar auch nicht recht, doch die deutschen Aktivitäten irritierten England stärker. Und so warnte der britische Premier David Lloyd GeorgeLloyd George, David BerlinBerlin unverblümt, ein Frieden um den Preis einer Beschädigung der Interessen und der Ehre der Nation »wäre eine Demütigung, die ein großes Land wie das unsere nicht ertragen könnte«. Die Diplomaten Alfred von Kiderlen-WaechterKiderlen-Waechter, Alfred von und Jules CambonCambon, Jules verhandelten, und schließlich vereinbarte man, dass Frankreich MarokkoMarokko unter sein Protektorat nehmen dürfe und Deutschland dafür ein Stück ÄquatorialafrikaÄquatorialafrika erhalte, das seiner Kolonie KamerunKamerun zugeschlagen werde.7 Während die deutsche Öffentlichkeit die Einigung als diplomatische Niederlage empfand, dehnte die britische Marine ihren Schutzbereich auf die französische Seite des Ärmelkanals aus.

 

Die Balkankriege 1912/13 stellten das internationale Ordnungsgefüge auf eine harte Probe, doch blieben sie auf Südosteuropa beschränkt, weil die Großmächte beschlossen hatten, nicht direkt zu intervenieren. Im ersten Konflikt besiegte der Balkanbund, bestehend aus Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro, das Osmanische Reich. Mit dem Londoner Vertrag endete nun die jahrhundertelange Herrschaft der Türken über die BalkanhalbinselBalkan. In der zweiten Auseinandersetzung attackierte Bulgarien seine bisherigen Verbündeten, zog aber den Kürzeren, zumal Rumänen und Osmanen den Angegriffenen zu Hilfe kamen. Im Friedensvertrag von Bukarest verlor Bulgarien alle Landgewinne, die ihm der Erste Balkankrieg eingebracht hatte. Die Feuersbrunst verbreitete sich nicht bis in die größeren europäischen Länder, denn die waren noch nicht kriegsbereit, und den LondonerLondon Botschafterkonferenzen gelang es beide Male, Kompromisse auszuhandeln.8 Der Wunsch der Russen nach freier Fahrt durch den Bosporus erfüllte sich nicht, es blieb ihnen nur die Unterstützung des expansionistischen Serbiens. Die Österreicher blockierten Belgrads Zugang zur AdriaküsteAdria, indem sie die Gründung eines unabhängigen Albaniens förderten, während die Bulgaren und Osmanen sich nunmehr Deutschland zuwandten. Ein größerer Krieg war nun zwar abgewendet, doch zeichneten sich schon künftige Frontverläufe ab.

Während die Feindseligkeit wuchs, entwarfen die Generalstäbe aller Großmächte offensive Kriegspläne gegen ihre mutmaßlichen Feinde – Pläne, die ihnen ihr Handeln im Juli 1914 praktisch diktierten. Die Österreicher etwa erwarteten eine Provokation vonseiten der Serben und bereiteten sich auf einen Krieg mit deren russischen Protektoren vor. Da Deutschland mit einem Zweifrontenkrieg rechnete, plante Graf Alfred von SchlieffenSchlieffen, Alfred von, zunächst Frankreich zu besiegen. Dafür sollten deutsche Heeresgruppen erst das neutrale Belgien passieren und dann weitschweifende Bögen durch Frankreich ziehen, um die französischen Festungen zu umgehen und der gegnerischen Armee in den Rücken zu fallen. War dies erledigt, sollten die deutschen Streitkräfte sich dem wohl etwas langsameren Vormarsch der Russen entgegenwerfen. Frankreich selbst ging es primär darum, seine verlorenen Provinzen wiederzuerlangen. Sein strategisches Konzept, genannt »Plan XVII«, sah eine Generaloffensive nach SüddeutschlandSüddeutschland vor. Ein Angriff ohne Rücksichten sollte das werden, der, so die Erwartung der Führung, den Kampfgeist der Truppe heben würde. Um seinen Verbündeten sofort zu Hilfe kommen zu können, konzipierte Russland eine schnellere Mobilisierung als ursprünglich vorgesehen, einem Feldzug zuliebe, den es nicht nur gegen WienWien, sondern auch gegen BerlinBerlin führen wollte. MoskauMoskau plante, in OstpreußenOstpreußen und GalizienGalizien einzumarschieren. Auch Großbritannien fand sich schließlich in den Krieg hineingezogen: Gespräche zwischen den Generalstäben beider Länder bewirkten, dass England sich immer tiefer verpflichtet fühlte, sich an der Verteidigung Frankreichs zu beteiligen, obwohl es offiziell verkündete, neutral bleiben zu wollen.9 Bisher hatte sich noch für jede Krise eine friedliche Lösung gefunden – und doch zeigte sich Europa aus den genannten Gründen im Sommer 1914 in zwei große Allianzen geteilt, die bereit waren, gegeneinander Krieg zu führen.

Als letzte in einer Reihe von immer feindseligeren Auseinandersetzungen ähnelte die Julikrise den vorherigen Konfrontationen, aber in ihrem wichtigsten Aspekt unterschied sie sich – im Ergebnis. Alles begann mit der Ermordung Franz FerdinandsFranz Ferdinand und hätte eine lokale Streitigkeit zwischen der Habsburgermonarchie und der serbischen Nationalistenbewegung bleiben können, wären da nicht die Bündnissysteme gewesen: Rasch – und vorhersehbar – fand sich Russland als BelgradsBelgrad Schutzpatron in die Händel verwickelt, was wiederum Deutschland als Österreichs Alliierten und Frankreich als Russlands Freund hinzuzog. Anders als bei den bisherigen Balkankriegen brachte sich in dieser Krise eine der Großmächte gegen den Klientelstaat einer zweiten Großmacht in Stellung. Eine überhitzte öffentliche Meinung, von einer verantwortungslosen Presse befeuert, machte Kompromisse äußerst schwierig, und diplomatische Entscheidungen sahen sich eingeengt durch die technischen Notwendigkeiten, die Kriegsvorbereitungen und Mobilisierungszeitpläne mit sich bringen. Als Großbritannien seine splendid isolation aufgab, um Frankreich zu Hilfe zu kommen, war keine europäische Großmacht mehr übrig, die in der Lage gewesen wäre zu vermitteln. Da Deutschland an keiner weiteren Konferenz teilnehmen mochte, um nicht abermals gedemütigt zu werden, fehlte dem Beziehungssystem der modernen Staaten ein Mechanismus, der die Katastrophe noch hätte aufhalten können.10

Der Prozess der Eskalation

Obwohl die bisherigen Auseinandersetzungen den Schluss nahelegen mochten, dass ein Waffengang bevorstehe, bedurfte es doch einer Reihe von Entscheidungen einzelner Regierungen, um den Ersten Weltkrieg loszutreten. Ungeachtet all der Gewitterwolken aus Feindseligkeit, die sich da zusammenballten, hielten viele Europäer den Kollaps der Kooperation für unwahrscheinlich. Der Fortschritt der Zivilisation hatte, so schien es, die Oberhand gewonnen über den atavistischen Brauch, gegeneinander Krieg zu führen. Denn dank der hochentwickelten Waffentechnologie sei ein zuvor nie dagewesenes Zerstörungspotenzial erreicht, das, meinten die Optimisten, die Länder schon vom Krieg abschrecken werde. Aber die Julikrise zeigte, dass bestimmte negative Faktoren der Modernisierung – etwa Nationalismus, Sozialdarwinismus und Militarismus – eine »gemeinsame politische Kultur« in den europäischen Hauptstädten geschaffen hatten, die den Krieg als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen legitimierte. Optionen der Versöhnung, die den Ausbruch noch verhindern konnten, hätte es gegeben; doch die konfrontativen Entscheidungen ließen am Ende wirklich keine Handlungsmöglichkeit mehr offen als eben den militärischen Konflikt.1 Indem sie beständig dem Kompromiss das Risiko vorzogen, setzten die beteiligten Staatsführer einen Prozess der Eskalation in Gang, der einen lokalen Zwist auf dem BalkanBalkan zu einem kontinentalen Konflikt steigerte, um dann aus einer europäischen Auseinandersetzung einen Weltkrieg zu machen.

Den Funken, der das Feuer entzündete, lieferte Serbien, das damals wild entschlossen war, einen größeren Nationalstaat für die Südslawen zu schaffen. Überraschenderweise wird die zentrale Rolle BelgradsBelgrad von der Geschichtsschreibung häufig ignoriert; dabei sollten die Gräuel der erst wenige Jahre zurückliegenden Jugoslawienkriege doch Grund genug sein, darüber nachzudenken, ob man diese Sachverhalte wirklich vernachlässigen kann. Es besteht wenig Zweifel daran, dass der serbische Militärgeheimdienst und dessen Leiter, Oberst »Apis« DimitrijevićDimitrijević, Dragutin, hinter dem Attentat von Sarajevo steckten. Sie nämlich besorgten den jugendlichen bosnischen Terroristen die benötigten Waffen, bildeten sie daran aus und leisteten logistische Hilfe. Die jungen Männer mag man als fehlgeleitete Idealisten betrachten, die einem fanatischen südslawischen Nationalismus anhingen. Ihre erwachsenen Hintermänner dagegen – unter ihnen Angehörige der serbischen Machtelite, etwa Premierminister Nikola PašićPašić, Nikola – wussten, dass die von ihnen befohlene Ermordung einer hochgestellten österreichischen Persönlichkeit Krieg bedeuten konnte. Zuerst hatte man Provinzgouverneur Oskar PotiorekPotiorek, Oskar als Opfer ausersehen, später entschied man sich dann für den Thronerben. Trotz der lückenhaften Quellenlage lässt sich doch so viel sagen: Es ist unwahrscheinlich, dass die serbische Führung all dies tat, ohne sich der Unterstützung durch Russland sicher zu sein. Obschon einigen Zivilisten in letzter Minute Bedenken kamen, war es letztlich der staatlich geförderte Terrorismus der Serben, der die Kanone, die sie mit geladen hatten, von alleine losgehen ließ.2

Die grobe Antwort Österreichs auf das Attentat hatte einen lokalen Krieg auf dem BalkanBalkan zur Folge, der als Strafexpedition gegen die Serben auch den russischen Einfluss in der Region schwächen sollte. WienWien war keine Marionette BerlinsBerlin; die Führung aus dem Hause Habsburg war vielmehr ein unabhängiger Akteur, der Entscheidungen nach den eigenen Interessen traf. Allerdings war Österreichs Herrschaftsriege gerade in der aktuellen Frage nicht einig: Da gab es die Kriegspartei um Generalstabschef Conrad von HötzendorfHötzendorf, Conrad von, die Friedensfraktion um den ungarischen Ministerpräsidenten István TiszaTisza, István und den zwischen beiden Positionen schwankenden Außenminister Leopold Graf BerchtoldBerchtold, Leopold von, der eine »militante Diplomatie« verfocht. Um sich Rückendeckung für die Strafaktion zu holen, auf die man sich schließlich einigte, sandte Österreich Kabinettschef Alexander von HoyosHoyos, Alexander von nach BerlinBerlin. Dort erhielt er den berüchtigten »Blankoscheck«, weil Deutschland fürchtete, sonst seinen letzten großen Verbündeten zu verlieren. Während der entscheidenden Ministerratssitzung am 14. Juli überzeugte BerchtoldBerchtold, Leopold von TiszaTisza, István, ein demütigendes Ultimatum an Serbien mitzutragen. Die sicherlich folgenden ablehnenden Reaktionen würden Österreich einen Vorwand liefern, um anzugreifen.3 Durch den Versuch, dem südslawischen Irredentismus mit Gewalt zu begegnen, löste Wien einen Krieg aus, von dem es sich erhoffte, er werde die Monarchie retten. Stattdessen sollte er sie am Ende zerstören.

Die Russen zeigten sich entschlossen, ihren Schutzbefohlenen Serbien zu unterstützen – schon, weil sie ihren Einfluss auf dem BalkanBalkan behalten wollten. Damit konnte der Konflikt zu einem kontinentalen Krieg eskalieren. Die Führungsriege in Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) gab dem Opfer die Schuld an seiner Ermordung und suchte nach einer Strategie, wie man den österreichisch-deutschen Versuch durchkreuzen könnte, den Konflikt in der BalkanregionBalkan zu halten. Bei einem derart eingegrenzten Krieg, so die russische Erwartung, werde es WienWien sicherlich gelingen, BelgradBelgrad zu besiegen. Einerseits versammelte Russland mit falschen Beschuldigungen seine Alliierten hinter sich und versicherte Serbien seines Beistandes für den Fall, dass Österreich es angreife. Andererseits bereitete es die Mobilisierung seiner eigenen Truppen an der österreichischen Grenze vor, um das Habsburgerreich von eventuellen Kriegsabsichten abzubringen. Zwar zeigte sich Zar Nikolaus II. Nikolaus II.nach einem entsprechenden Appell Wilhelms II. Wilhelm II.bereit, die Mobilmachung auf den österreichischen Teil der Front zu beschränken, doch Außenminister Sergej SasonowSasonow, Sergej und Kriegsminister Wladimir SuchomlinowSuchomlinow, Wladimir drängten weiter auf eine umfassende präventive Mobilmachung, weil sie die Armee für einen Konflikt mit Deutschland kampfbereit wissen wollten.4 Diese unerwartet breite Aufstellung von Truppen zwang den Kontinentalkrieg herbei und verhinderte eine Begrenzung des Konflikts, denn der massive Einsatz nötigte Berlin, nun auch gegen Russland und Frankreich mobilzumachen.

Die Entscheidungen, die Deutschland damals traf, waren und bleiben unter Historikern besonders umstritten, denn es charakterisiert sie eine seltsame defensive Aggressivität: BerlinBerlin wollte seine Position gleichzeitig sichern und ausweiten. Zudem war nicht immer klar, wer jeweils wirklich das Sagen hatte: der launenhafte KaiserWilhelm II., der nervöse Generalstabschef Helmuth von MoltkeMoltke, Helmuth von oder der pessimistische Reichskanzler Theobald von Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von. In einem jedoch bestand Einigkeit: Deutschland werde Österreich unterstützen, komme, was da wolle. Die zivilen Mitglieder der Führungsriege verfolgten eine »Risikopolitik«, um zu testen, was Russland vorhatte. Man nahm einen lokalen Krieg auf dem BalkanBalkan in Kauf und riskierte auch einen größeren kontinentalen, denn selbst der erschien den Strategen noch gewinnbar. Aber sie wollten keinen Krieg mit Großbritannien, der die eigenen Kräfte dann doch überfordern würde. Besorgt beobachtete BerlinBerlin, wie rasch Russland militärisch wuchs und wie Frankreich sich bemühte, seine Truppen zu modernisieren. In dieser Situation erschien die Ermordung des Erzherzogs als letzte Chance, um Deutschlands diplomatische »Einkreisung« zu durchbrechen. Dass der Schlieffen-Plan den Angriff nach Westen an die erste Stelle setzte, zwang die Regierung, nicht nur Russland, sondern auch dessen Alliiertem Frankreich ein Ultimatum zu stellen.5 Erst als den Deutschen klar wurde, dass auch England sich ins Getümmel zu stürzen beabsichtigte, wollten sie wohl gern einen Rückzieher machen, aber da war es schon zu spät.

 

Erstaunlicherweise entgehen auch die Aktivitäten der Franzosen während der Julikrise häufig der Aufmerksamkeit, obwohl sie ebenfalls einen beträchtlichen Beitrag zum Zusammenbruch des Friedens leisteten. Nach seiner Niederlage im Französisch-Preußischen Krieg 1870/71 war eine der wenigen Konstanten innerhalb der europäischen Diplomatiewelt das Gebaren Frankreichs: ParisParis suchte Revanche mit dem festen Willen, die verlorenen Provinzen ElsassElsass und LothringenLothringen zurückzuerobern. Da es nach wie vor an der nationalen grandeur hing, die ihm Herrscher wie Ludwig XIV. Ludwig XIV.und NapoleonNapoleon Bonaparte verschafft hatten, bemühte sich Frankreich zudem, eine Dominanz des volkreicheren und industriell dynamischen Nachbarn Deutschland zu verhindern. Als der Sozialistenchef Jean JaurèsJaurès, Jean am 31. Juli von einem französischen Nationalisten ermordet wurde, war eine führende Stimme für Frieden und Versöhnung zum Schweigen gebracht. Während seiner Gespräche in Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) auf dem Höhepunkt der Krise riet Präsident Raymond PoincaréPoincaré, Raymond nicht etwa zur Mäßigung, sondern versicherte der russischen Führung, dass Frankreich dem Zarenreich zur Seite stehen werde, denn er wollte sich eine Gelegenheit zum Kämpfen nicht entgehen lassen.6 Die Verantwortung der serbischen Irredenta ignorierte Paris. Der Wunsch nach Revanche trieb so auch Frankreich in den Konflikt, das durch seinen Eintritt den kontinentalen Krieg vervollständigte.

Um die Rolle Englands gab und gibt es ebenfalls heftige Debatten, da seine Entscheidung für den Krieg den Übergang zu einem generellen europäischen Konflikt mit weltweiten Implikationen bedeutete. Die Mehrheit des liberalen Kabinetts unter Herbert AsquithAsquith, Herbert neigte eher zum traditionellen Abstandhalten zu kontinentalen Angelegenheiten; man wollte lieber vom Spielfeldrand zuschauen. Aber das Außenministerium unter Sir Edward GreyGrey, Edward war frankophil und hob daher die Gefahr hervor, die ein immer stärker werdendes Deutschland für die britische Hegemonie bedeuten könnte. Außerdem steckten hochrangige Militärs tief in inoffiziellen Stabgesprächen mit den Franzosen, um die gemeinsame Verteidigung der Ärmelkanalküste zu planen. Und die britische Boulevardpresse liebte es, Wilhelm II. Wilhelm II.lächerlich zu machen, dessen Begabung für Ausrutscher sie mit reichlich Material versorgte. Als Deutschland die Neutralität Belgiens verletzte, wie der Schlieffen-Plan es vorsah, kippte die Stimmung in der bisher uneinigen Regierung zugunsten der Eingreifwilligen. Nun hatte man eine geeignete Rechtfertigung, mit der sich die Öffentlichkeit mobilisieren ließ. Was LondonLondon zur Intervention drängte, war freilich nicht die Entschlossenheit, internationales Recht zu verteidigen, sondern Solidarität mit der Entente. Hinzu kam die eigennützige Sorge, da wachse ein gewaltiger maritimer und kolonialer Rivale heran.7

Die initiale Wucht der Eskalation brachte auch zwei entfernter gelegene Staaten in den Krieg hinein, denn gekämpft wurde nun auch jenseits des europäischen Kontinents. JapanJapan hatte sich seit der Meiji-Restauration tüchtig modernisiert und sich dabei an diversen europäischen Ländern orientiert, die den Prozess mustergültig hinter sich gebracht hatten. Nachdem man gegen Russland schon siegreich gewesen war, sah TokioTokio den europäischen Konflikt Ende August als Chance, sich diverser deutscher Besitzungen zu bemächtigen. Also verleibte man sich TsingtauTsingtau ein und desgleichen die Karolinen-Karolineninseln, die Marianen-Marianeninseln und die MarshallinselnMarshallinseln im PazifikPazifik; JapanJapan wollte die stärkste Macht in ganz Asien werden.8 Ähnlich hatte sich auch das Osmanische Reich, geführt von Enver PaschaEnver Pascha, in eine moderne Nation verwandelt, die ebenfalls europäischen Modellen folgte, was Säkularisierung, Erziehung und Wirtschaftswachstum betraf. Aufgrund geheimer Bündnisverträge duldeten die Osmanen, dass die beiden deutschen Schlachtkreuzer Goeben und Breslau unter Admiral Wilhelm SouchonSouchon, Wilhelm die türkischen Meerengen passierten und die russische Schwarzmeerflotte attackierten; im Oktober schloss sich IstanbulIstanbul den Mittelmächten an.9 Der türkische Kriegsbeitritt war von größerer strategischer Bedeutung, da er die Dardanellen für die Russen blockierte, die nun keine eisfreie Schifffahrtsroute hin zu ihren westlichen Alliierten mehr besaßen. Beträchtliche russische Truppenkontingente waren nun in den Bergen des Kaukasus gebunden.

Entgegen der landläufigen Meinung brach der Erste Weltkrieg aus, weil das Führungspersonal insgesamt kollektiv versagte, nicht aber, weil einzelne Staatsoberhäupter, etwa der Kaiser, fehlgehandelt hätten. Wer da 1914 auf den Thronen saß – Monarchen wie Franz Joseph I. Franz Joseph I., Georg V.Georg V., Nikolaus II. Nikolaus II.und Wilhelm II. Wilhelm II. –, war zu mittelmäßig und obendrein zu sehr der Kontrolle von Ratgebern unterworfen, um noch Ereignisse zu diktieren. Während militärische Führer wie der österreichische Generalstabschef Conrad von HötzendorfHötzendorf, Conrad von bellizistischer dachten, überlegten selbst manche Generäle wie sein deutscher Kollege Helmuth von MoltkeMoltke, Helmuth von es sich zweimal, bevor sie sich zum Krieg entschlossen. Die entscheidende Rolle spielten eher die Zivilisten an der Spitze, so Nikola PašićPašić, Nikola in Serbien, Graf Leopold von BerchtoldBerchtold, Leopold von in Österreich, Sergej SasonowSasonow, Sergej in Russland, Theobald von Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von in Deutschland, Raymond PoincaréPoincaré, Raymond in Frankreich und Sir Edward GreyGrey, Edward in England. Sie waren weder »Schlafwandler« noch »Fatalisten«, sondern erfahrene Politiker und Diplomaten, die die Interessen ihrer eigenen Nation auf Kosten des gesamten übrigen Kontinents verfolgten.10 Sie verstanden nicht vollständig, welch blutige Konsequenzen die Entscheidungen hatten, die sie gerade trafen, und empfanden nicht genügend Verantwortung für das Ganze, um sich zu Kompromissen bereitzufinden.