Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Imperiale Kultur

Zwar wird dieser Aspekt oft übersehen, doch der Imperialismus hatte durchaus eine beträchtliche Prägewirkung auch auf die europäischen Länder, deren eigene Entwicklung er teils beschleunigte, teils behinderte. Einige Wissenschaftler meinen, dass sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine »imperiale Kultur« herausbildete, welche die Notwendigkeit, ein Imperium zu haben, propagierte und dessen Nutzen für die gesamte Gesellschaft pries. Dann hätte der Imperialismus aber viel umfassender als Lehrstoff in den Schulen auftauchen müssen, tatsächlich spielte er dort kaum eine Rolle. Andere Historiker vertreten deshalb die These von den »geistesabwesenden Imperialisten«: Zwar seien sie welche gewesen, aber es sei ihnen nicht recht zu Bewusstsein gekommen. Denn die Einwirkung des Imperiums auf das Leben der Durchschnittsmenschen in Europa sei tatsächlich minimal gewesen.1 Betrachtet man die Belege und Befunde näher, drängt sich der Schluss auf, beide Lesarten könnten teilweise korrekt sein. Eine stark engagierte Minderheit enthusiastischer Imperialisten war direkt ins Betreiben der Kolonien involviert, von denen sie profitierten, weswegen sie ihnen hohe Bedeutung zumaßen. Die passive Mehrheit kam mit der Angelegenheit hingegen kaum in Berührung. Sie nahm die Existenz ihres Imperiums schlicht hin, solange es sie nicht belastete. Doch eine kleine, aber wachsende Schar von Kritikern begann allmählich Einsprüche zu erheben gegen die finanziellen Kosten des Imperialismus und gegen seine ethischen Verstöße.

Unter jenen, die das Thema Imperium als verlockend empfanden, bildeten europäische Wissenschaftler, die sich in weite Ferne begaben, um neue Dinge zu entdecken, eine bedeutsame Gruppe. Eine ganze Phalanx von Disziplinen war beteiligt: Geografen verkarteten bisher »unbekannte« Territorien; Geologen prüften diese auf Erzlagerstätten; Biologen katalogisierten neue Tier- und Pflanzenarten; Ethnologen beobachteten die Sitten und Gebräuche der »primitiven Kulturen«; Linguisten transkribierten die Dialekte vor Ort; Mediziner studierten die Ursachen tropischer Krankheiten. Zuerst fügten diese Erkundungen nur bereits existierenden Forschungsbereichen neue hinzu, nämlich Nichteuropäisches betreffende Spezialgebiete. Schließlich aber fasste man diese verschiedenen Sujets in Kolonialinstituten zusammen, in denen künftige Imperialisten ausgebildet werden sollten. Wie der postkoloniale Literaturtheoretiker Edward SaidSaid, Edward zu Recht vermerkt, war die Perspektive, die man dort einnahm, ein paternalistischer Blick, der das fremde »Andere« zum Studienobjekt reduzierte. Außerdem zog die exotische Differenz das allgemeine Publikum in den Kolonialausstellungen und den frisch eröffneten Völkerkundemuseen an. Während viele der Funde und Ergebnisse das Bewusstsein rassischer Überlegenheit festigten, trugen andere Forschungen zu wissenschaftlichen Entdeckungen bei, von denen auch die kolonisierten Völker etwas hatten – etwa indem sie ihnen ermöglichten, tropische Krankheiten zu bekämpfen.2

Einen weiteren einflussreichen Block der Imperialismusbefürworter bildeten die Geschäftsleute, die vom Handel mit den Kolonien profitierten. Einige besaßen Schifffahrts- oder Eisenbahnlinien, die Waren und Post transportierten; dadurch stellten sie Verbindungen und Verkehr zwischen der Heimat und den Kolonien sicher. Auch die Betreiber von Gewürz-, Kaffee- oder Obstplantagen schätzten das Imperium, ebenso die Einzelhändler in Europa, die sie belieferten und die auf eine nicht abreißende Versorgung mit solchen Kolonialwaren angewiesen waren. Viele Kompanien ließen nach wertvollen Mineralien suchen, etwa Diamanten, oder nach Rohstoffen wie Kupfer. Die Materialien wurden dann veredelt und in zahllose Produkte eingearbeitet, die man an Kunden in den Metropolen verkaufte. Imperiumsgewinnler waren ferner die Fabrikanten massengefertigter Textilien und Küchengeräte wie Kochtöpfe; sie brauchten die kolonialen Märkte, damit sie ihre Produktion über das hinaus steigern konnten, was sie zu Hause absetzten.3 Und sogar einige einfache Leute bauten aufs Imperium: Entweder wollten sie sich im Kolonialhandel ein Vermögen erarbeiten oder aber sich dauerhaft in einem dieser Gebiete niederlassen. Zwar meinten liberale Skeptiker, die ökonomischen Ziele, um derentwillen man Kolonialismus treibe, ließen sich billiger durch Freihandel erreichen. Doch die Imperialisten beharrten, politische Kontrolle sei unverzichtbar.

Staatsbedienstete, die auf eine raschere Karriere hoffen konnten, wenn sie sich in die Auslandsterritorien versetzen ließen, bildeten eine weitere imperiumsfreundliche Interessengruppe. Besonders Armee- und Marineoffiziere lockten die Abenteuer in der Fremde; zudem durften sie damit rechnen, dort schneller befördert zu werden als daheim. In den Kolonien konnten sie ferner neue Waffen wie Kanonenboote und Artillerie an unglücklichen Einheimischen ausprobieren. Wurden in Europa schon zivilisiertere Formen der Kriegsführung verlangt, mussten Militärs sich bei der Niederschlagung von Aufständen wie dem der Hereros an keine Rücksichten halten. Auch bot das Imperium Beamten, die daheim irgendwo in der Mitte ihrer Laufbahn stagnierten, die Möglichkeit eines großen Sprunges nach oben. In den Auslandsgebieten war ihre Autorität weniger eingeschränkt; dort konnten sie die Kolonisierten herumkommandieren. Hatte jemand seine Familie durch einen Skandal kompromittiert, wurde er bisweilen zur Strafe nach Übersee exiliert. Nach einer gewissen Schamfrist durfte er zurückkehren, sofern er nicht erneut Schande auf die Seinen lud. Je nachdem, wo man hinkam, drohten an manchen Versetzungszielorten zweifellos Krankheit oder Tod; aber der noble Lebensstil, den man als Europäer dort pflegen konnte, tröstete über solche Gefahren doch leicht hinweg. Während wissenschaftliche Entdeckungen und ökonomische Entwicklungen dazu beitrugen, Europa zu modernisieren, verstärkte die militärische und bürokratische Seite des Imperialismus eher konservative Machtstrukturen.4

Und noch eine Gruppe unter den Pro-Imperialisten müssen wir erwähnen: Altruisten, die in die Kolonien gingen, weil sie den indigenen Völkern helfen wollten, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Viele Missionare, ausgesandt von verschiedenen Konfessionen, beseelte der Wunsch, der einheimischen Bevölkerung den spirituellen Trost des Christentums zu bringen und sie moralisch zu läutern. Ähnlich lagen die Dinge bei Ärzten und Schwestern, die an kolonialen Hospitälern tätig waren und ebenfalls versuchten, den Schmerz und das Leid jener zu mildern, denen oft die wissenschaftlichen Kenntnisse und die pharmazeutischen Mittel zur Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen fehlten. Des Weiteren zeigten einige Lehrer Bereitschaft, an Schulen in den Auslandsgebieten zu arbeiten. Sie wollten nicht nur der Langeweile ihres kontinentalen Lebens entfliehen, sondern auch das Licht der Aufklärung unter den »illiteraten und abergläubischen« Indigenen verbreiten. Zwar glaubten diese humanitär Gesinnten nicht minder als andere Befürworter des Kolonialismus an die Überlegenheit der europäischen Zivilisation, aber sie nahmen erhebliche Entbehrungen auf sich, um deren Segnungen mit jenen Bedürftigen zu teilen. Im Gegensatz zu den Geschäfts- und Verwaltungsleuten, die doch vorwiegend als Ausbeuter agierten, gaben diese Altruisten dem Imperialismus ein menschlicheres Gesicht, was die Kritik an ihm weniger harsch ausfallen ließ.5

Europäer, die wenig direkten Kontakt zum Imperium hatten, nahmen es meist bereitwillig hin, solange es mehr Nutzen als Kosten versprach. In den Metropolen gingen Wissbegierige schon einmal zu einem wissenschaftlichen Vortrag, lauschten einer Abenteuergeschichte oder bestaunten ausgestellte Exotika. Wesentlich höher war die Zahl derer, die Kolonialwaren für den täglichen Bedarf kauften, ohne sich groß um deren Herkunft zu kümmern. Wieder andere hörten sich politische Reden an, die neue einschlägige Erwerbungen und Errungenschaften priesen, oder lasen in der Zeitung Artikel über koloniale Themen – die Kolonien schienen ihnen durchaus interessant, aber weit weg. Oder sie wurden in der Kirche während eines Gottesdienstes um eine Spende für einen Missionsfonds gebeten. Generell produzierten diese geringfügigen Kontakte wohl die Empfindung, dass man zu etwas gehörte, das über den Nationalstaat hinausging, etwas Imperialem eben. Die Bereitschaft, für dieses Große auch Opfer zu bringen, schufen sie hingegen kaum. Die Europäer waren möglicherweise schon stolz, dass ihre Fahnen über ausländischen Besitztümern wehten, etwa über Frankreichs Überseegebieten (la France d’outre mer). Aber um sie davon zu überzeugen, dass die ganze Unternehmung aller Mühen wert sei, mussten Imperialenthusiasten einiges tun. Immerhin konnten selbst skeptische »Unterschichtler« daheim sich einreden, sie gehörten zu jener »Herrscherklasse«, die in den Kolonien das Sagen hatte.6

Um die Jahrhundertwende wurden die kritischen Stimmen dann doch lauter, bis sie gar das gesamte koloniale Projekt in Frage stellten. Gewöhnlich lösten eklatante Vorfälle ökonomischer Spekulation und militärischer Brutalität sowie Korruptionsskandale in der Verwaltung solche Rügen aus. Befürworter des Freihandels fragten sich, ob der Handel nicht auch ohne politischen Gebietsbesitz zu florieren vermöge. Internationale Kommentatoren äußerten die Besorgnis, dass Interessenkonflikte zwischen imperialen Mächten – wie sie sich etwa bei der Konfrontation zwischen Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert und Major Jean-Baptiste MarchandMarchand, Jean-Baptiste manifestierten – zu einem Krieg innerhalb Europas führen könnten. Sprecher der aufstrebenden Arbeiterbewegung geißelten den imperialistischen Hurrapatriotismus, der nur von den Problemen daheim ablenke und von der Notwendigkeit, sich ihrer anzunehmen. Moralisten agitierten gegen gesundheitsschädliche Laster, die man aus den Kolonien importiert habe, wie den Konsum von Opium. Mitfühlende Beobachter wie Sir Roger CasementCasement, Roger prangerten die unmenschliche Behandlung der Eingeborenen im KongoKongo an – Klagen, die schließlich immerhin dazu führten, dass das Land dem belgischen König weggenommen wurde. Ferner hoben koloniale Intellektuelle die eklatante Diskrepanz zwischen den Bekenntnissen der Europäer zur Zivilität und ihrer Praxis hervor, die von rassistischen Vorurteilen und ökonomischer Ausbeutung gekennzeichnet war. Nach und nach kam das Imperium in Verruf.7

 

Während seiner Glanzzeit war die »Kultur des Imperiums« nichtsdestoweniger stark genug, solche Attacken abzuwehren und sogar einen populären Imperialismus zu verbreiten, der in den Kolonien eine Belohnung sah, die den Europäern aufgrund ihrer Überlegenheit von Natur aus zukam. Um der Kritik entgegenzuwirken, erzeugten die imperialistischen Interessenverbände – namentlich die Ligen der Flotten, der Armeen und der Kolonisten – wahre Fluten von Propaganda. Plakate, Pamphlete und Reden priesen in rauen Mengen die Verdienste und Segnungen des Imperiums. Es bedurfte schon einer konzertierten Anstrengung, um der Kolonisierung des KongoKongo im Mutterland Popularität zu verschaffen, doch am Ende wurden die Belgier – außer den Sozialisten – tatsächlich stolze Imperialisten.8 Nicht minder zeigte sich das kulturelle Establishment von imperialistischen Ideen durchdrungen. Kinderbuchautoren spannen Abenteuergeschichten, Dramatiker ließen ihre Stücke in kolonialer Szenerie spielen, und Journalisten schrieben packende Reportagen. Dass sich die Organisation der Boy Scouts (Pfadfinder), gegründet 1907 von General Robert Baden-PowellBaden-Powell, Robert, so rasch international verbreitete, beweist, dass die Idee, Jungen imperialen Zwecken zuliebe ein quasi-militärisches Training angedeihen zu lassen, überall Anklang fand. Imperialistische Geisteshaltungen infizierten weite Kreise mit jener fatalen Mischung aus Nationalismus, Militarismus und Rassismus, die bald Europa selbst zerreißen sollte.

Europäische Hegemonie

Es ist gar nicht so einfach, sich heute rückblickend zu vergegenwärtigen, wie weit Europas Herrschaft über die Welt einmal gereicht hat, weil sie seither bis auf wenige Spuren zerstört worden ist. Doch um 1900 konnte jedes Schulkind, das eine Weltkarte betrachtete, sofort sehen, dass der Globus unterschiedlich eingefärbt war. Praktisch alle Territorien in Afrika, Asien und Australien standen unter der Kontrolle irgendeiner Macht; sogar ChinaChina sah man in Einflusssphären gegliedert. Während britische, französische, deutsche, belgische und italienische Kinder Namen und Hauptstädte ferner Dependancen auswendig lernen mussten, schwelgten Portugiesen und Spanier in Erinnerungen an ihre früheren Imperien. In IstanbulIstanbul, Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) und WienWien wurden die Schüler stattdessen angehalten, entlegene Provinzen aufzulisten, Landstriche, in denen verschiedene ethnische Gruppen lebten und seltsame religiöse Praktiken ausübten.1 Das sensationelle Gefühl, sich immer neue Territorien anzueignen, riss selbst Nachzügler, namentlich die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten und JapanJapan, in den Wettlauf mit. So entstand rings um den Globus ein System konkurrierender Imperien, deren Zentrum in europäischen Staaten lag und die gleichzeitig nationalen wie imperialen Status hatten.


Die Ausdehnung des europäischen Imperialismus bis 1914

Die dynamische Kraft, die diesen neuen Imperialismus antrieb, indem sie die psychologischen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Expansion schuf, war die europäische Modernisierung. Wissenschaftliche Neugier stachelte die Forscher zu Entdeckungen an, und technologischer Erfindergeist entwickelte das Dampfschiff, den Telegrafen und das Maschinengewehr, was Verkehr, Kommunikation und Herrschaftsausübung über weite Strecken ermöglichte. Die Hoffnung auf Profite motivierte Investitionen im Ausland, und die Akkumulation von Kapital finanzierte waghalsige imperiale Unternehmungen. Streben nach Beförderung motivierte Einzelne, in den Kolonien zu dienen oder auf Dauer auszuwandern; Gesetze garantierten dort die weiße Überlegenheit. Dass eine effiziente Form gouvernementaler Organisation entstand, als die der Nationalstaat galt, war von entscheidender Bedeutung für die politische Umsetzung imperialer Träume. Schlagkräftiges Militär mit neuen technischen Waffensystemen wurde gebraucht, um Territorien zu erobern und zu halten, während eine effiziente Bürokratie die imperialen Gebiete verwaltete. Blieben auch die symbolischen Insignien und der äußere Dekor des Imperialismus neofeudal – die Quellen der Wirkmacht des Metropolitanen waren eindeutig modern.2

Die sich nun anschließende Europäisierung der Welt war daher eine ungleiche Form von Modernisierung, da sie mit einer Mischung aus Zwang und Anreizen die Kolonien transformierte. Wissenschaftliche Vorstöße, ökonomische Ausbeutung, koloniale Besiedelung und politische Kontrolle – all dies erforderte eine Infrastruktur, zu der Häfen, Eisenbahnlinien, Plantagen, Bergwerke und Märkte ebenso gehörten wie Verwaltungszentren nach europäischem Vorbild. Ferner verlangte die Ausbeutung der lokalen Arbeitskräfte eine soziale und kulturelle Transformation der indigenen Bevölkerung. Man vermittelte den Einheimischen Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben, aber ebenso Arbeitsdisziplin, verbreitete Hygienebewusstsein unter ihnen und predigte ihnen nicht zuletzt das Christentum. In diesem Zusammenhang attackierte die westliche Moderne gleich auf mehreren Ebenen, was zur Folge hatte, dass traditionelle Weltsichten wie Verhaltensformen verdrängt, bestehende soziale Gebräuche und Hierarchien aufgelöst sowie die kolonisierten Völker zutiefst irritiert wurden. Denn die Moderne kam gewaltsam und repressiv daher; sie ließ ihnen kaum eine andere Wahl, als sich zu fügen. Doch einige der importierten Veränderungen boten ihnen auch den Zugang zu Wissen und Kultur der Europäer; so lernten sie Ideologien und Techniken kennen, deren frustrierte koloniale Intellektuelle sich später bedienen sollten, um gegen die metropolitane Herrschaft vorzugehen.3

Auch Europa selbst wurde durch den Imperialismus gründlich transformiert. Dort schien es sich freilich eher um eine segensreiche Form der Modernisierung zu handeln, die neuen Wohlstand, neue Institutionen und neue Verfahrensweisen auf vielen Gebieten brachte. LondonLondon, ParisParis und BerlinBerlin erlebten die Einrichtung neuer Kolonialämter oder -ministerien, wissenschaftlicher Institutionen, Missionshauptquartiere, Schiffsspeditionen und Landverwaltungsbehörden, deren Aufgabe es war, die Verbindung zum Imperium zu halten. Zoos voller seltsamer Tiere wie z. B. Elefanten, botanische Gärten voller exotischer Pflanzen, etwa Orchideen, und völkerkundliche Museen mit eigenartigen Artefakten boten den Europäern Impressionen einer fremden Welt, in die sie nun nicht mehr selbst fahren mussten. Gesellschaften gaben an der Börse Aktien auf koloniale Unternehmungen aus und erwirtschafteten jene großen Reichtümer, die sich in imposanten viktorianischen Villen und Stadtpalais manifestierten. Kaufhäuser boten kostbare Edelsteine und Genussmittel aus den Kolonien an. Nun konnten die Bürger Europas sich imperiale Objekte in die Wohnungen stellen und neue Konsumgewohnheiten entwickeln, etwa das Trinken von Kaffee, Tee und Kakao. In den belebten Straßen drängten sich Menschen verschiedener Hautfarbe, die verschiedene Religionen praktizierten und verschiedene Sprachen redeten; in den Hotels sah man Gäste ungewohnten Anblicks, die indische Saris oder chinesische Seidengewänder trugen.4 Verblichene Fotos in alten zerfallenden Zeitungen legen den Schluss nahe, dass der Imperialismus die europäische Gesellschaft ganz beträchtlich durchdrungen hatte.

Durch die ihm innewohnende Brutalität schürte der Imperialismus freilich auch die in der Moderne angelegten destruktiven Spannungen, die letztendlich Verderben über ihn bringen sollten. International führte der Wettlauf um Auslandsgebiete zu einer Reihe schwerer Krisen zwischen den Großmächten, während in den Kolonien der Groll der unterjochten Völker eine Kette übler Kolonialkriege auslöste. Daheim förderte die Begeisterung über das jeweilige Imperium ein Klima von Chauvinismus und Rassismus, das europäische Länder gegeneinander aufbrachte und Hass unter den Angehörigen verschiedener ethnischer oder religiöser Gruppen verbreitete. In den landbasierten Imperien bemühten sich die Herrschenden, ihre multiethnisch besiedelten Gebiete in homogenere Nationalstaaten zu transformieren. Gerade diese Versuche veranlassten allerdings die unterworfenen Gruppen, nationale Befreiungsbewegungen zu bilden, die Autonomie für die eigene Ethnie reklamierten. In den Überseekolonien brachte die Diskrepanz zwischen den gepredigten zivilisatorischen Werten und den repressiven Praktiken der Kolonisatoren die Intellektuellen vor Ort dazu, für die Unabhängigkeit von europäischer Dominanz zu agitieren. Gerade als das Bauwerk des Imperialismus besonders imposant aussah, zeigten sich in ihm jene Risse, die zuerst die landgestützten und schließlich dann auch die Überseeimperien zum Einsturz bringen sollten.5

Ein Frieden bricht zusammen


Das Attentat auf Franz Ferdinand und Sophie,Franz Ferdinand 1914

Am 28. Juni 1914 ermordete der serbische Terrorist Gavrilo PrincipPrincip, Gavrilo den österreichischen Thronfolger Franz FerdinandFranz Ferdinand und dessen Gattin Sophie von HohenbergSophie von Hohenberg. Trotz Warnungen hatte sich das Erzherzogspaar in die bosnische Hauptstadt SarajevoSarajevo begeben, und das ausgerechnet am serbischen Nationalfeiertag, der an die Schlacht gegen die Osmanen auf dem Amselfeld 1389 erinnert. Als die offene Limousine, in der Franz FerdinandFranz Ferdinand und SophieSophie von Hohenberg saßen, langsam durch die belebten Straßen der Innenstadt fuhr, explodierte plötzlich eine Bombe hinter ihnen und verletzte mehrere Begleitpersonen sowie einige Schaulustige. Nach einer zornigen Rede im Rathaus bestand der ThronfolgerFranz Ferdinand darauf, die verwundeten Offiziere im Garnisonsspital zu besuchen, aber der Chauffeur missverstand die Anweisung des ErzherzogsFranz Ferdinand und folgte zunächst der ursprünglich festgelegten Route. Als er dann doch noch zum Wenden ansetzte, zog der 19-jährige Abiturient PrincipPrincip, Gavrilo seine Pistole und schoss; er traf SophieSophie von Hohenberg in den Unterleib und Franz FerdinandFranz Ferdinand in den Hals, bevor empörte Passanten ihn überwältigen konnten. Obwohl der Wagen nun in großer Hast zurückraste, kam jede medizinische Hilfe zu spät; beide Opfer hatten schon zu viel Blut verloren.1 Der Schock über diesen nationalistischen Anschlag auf den österreichischen ThronfolgerFranz Ferdinand löste eine internationale Krise aus, die schließlich in den Ersten Weltkrieg eskalierte.

Die terroristische Attacke serbischer Nationalisten zerriss die vielfältigen Friedensbande in Europa. Modernität schien zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Synonym für internationale Kooperation zu sein. Optimisten glaubten an den Traum eines friedlichen Fortschritts und meinten zu beobachten, dass sich die Welt, dank des gegenseitigen Austauschs auf unzähligen Gebieten, kontinuierlich in Richtung Harmonie und Wohlstand entwickle. Diese hoffnungsvolle Sicht rechtfertigte man damit, dass zwischen den großen Nationen ein Netzwerk aus Verbindungen bestehe, das einen Krieg immer undenkbarer und auch undurchführbarer mache. Viele Aspekte der Modernisierung – etwa wissenschaftliche Kooperationen, multilaterale Handelsbeziehungen, individuelle Migration und internationales Recht – festigten ja die Verbundenheit zwischen den Nationen. Nicht nur Pazifisten wie der britische Schriftsteller Norman AngellAngell, Norman und die österreichische Romanautorin Bertha von SuttnerSuttner, Berta von, beide Träger des Friedensnobelpreises, glaubten, dass die immer häufigeren Kontakte unter den Gelehrten verschiedener Länder, das steigende Handelsvolumen, ausgebaute Verkehrs- und Kommunikationswege und die wachsende Mobilität über die Grenzen hinweg ein Netz aus rechtlichen Beziehungen wöben. Wenn sich das gegenseitige Verständnis derart intensiviere, könne es unmöglich zu neuerlichen militärischen Kämpfen kommen.2

 

Skeptische Beobachter indes betonten, in der Moderne obwalteten negative Kräfte, die das Konfliktrisiko erhöhten. Pessimisten wiesen schon seit einiger Zeit darauf hin, dass bestimmte Faktoren der Modernisierung – lautstarke Nationalismen, bürokratische Reglementierung, ungezügelter Militarismus und Rivalitäten zwischen den Großmächten – für mehr Feindseligkeit sorgten und dadurch Kompromisse erschwerten. Die Boulevardpresse schuf ständig neue Feindbilder, politische Repressionsmaßnahmen gegen Unabhängigkeitsbewegungen schürten den Groll der Unterworfenen, und viele Nationen traten in Rüstungswettläufe zu Lande und zu Wasser ein, sodass die internationalen Spannungen stiegen und sich ein weiterer Krieg bereits abzeichnete. All dies lieferte Anlass für eine dunklere, dystopische Vision der internationalen Lage, die geprägt sei vom Konkurrenzdenken und dem Kampf ums Überleben, in dem nur die stärkste Nation gewinnen könne. Manche Theoretiker der internationalen Beziehungen – etwa Kurt RiezlerRiezler, Kurt, der Berater des deutschen Reichskanzlers – glaubten, dass die traditionelle Pentarchie, also die Vorherrschaft von fünf Nationalstaaten, bald enden werde zugunsten einer Ordnung, in der nur noch zwei oder drei »Weltmächte« das Sagen hätten: Länder, die über genügend Ressourcen, Bevölkerung und Territorien verfügten, um globalpolitische Ziele zu verfolgen.3 Die Morde von SarajevoSarajevo ließen das ohnehin längst labile Gleichgewicht zwischen den vielen rivalisierenden Nationen kippen; dies lenkte die Entwicklung in Richtung Krieg. Es wurde ein Waffengang, der Europa und die Welt in den bisher blutigsten Konflikt ihrer gesamten Geschichte stürzte.

Nach dessen Ende entbrannte unter Politikern und Historikern eine große Kontroverse zur »Kriegsschuldfrage«, in der man bis heute darüber streitet, wer für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gewesen sei. Die Debatte verkannte und verkennt freilich, dass dem Prozess, der zum bewaffneten Konflikt führte, der eben geschilderte Perspektivwechsel zugrunde lag, und den hatten seinerzeit alle rivalisierenden Nationen vollzogen. In Artikel 231 des Versailler Vertrages ließen die siegreichen Alliierten keinen Zweifel daran, wie sie die Frage betrachteten:

Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.

Diese juristische Rechtfertigung der deutschen Reparationszahlungen entfachte zwischen Revisionisten hier und Verteidigern des Vertrages dort eine hitzige Diskussion um die Kriegsschuld, in deren Verlauf diplomatische Dokumente publiziert wurden, die Deutschland entweder belasteten oder exkulpierten. Eine Generation später verstärkte HitlersHitler, Adolf unleugbare Verantwortung für das Entfesseln des Zweiten Weltkriegs den Eindruck, Deutschland sei auch am Ersten Weltkrieg schuld gewesen. Auch längere Zeit nach 1945 kamen kritische Historiker zu dem Ergebnis, in erster Linie habe der wilhelminische Expansionismus das blutige Ereignis ausgelöst.4 Da solch emotionale Involviertheit einen Konsens darüber verhinderte, welches Land genau wie viel Verantwortung trage, blieben die sterilen Argumente der gegenseitigen Schuldzuweisung in einem legalistischen Moralismus gefangen.

Die »krasse Modernität«, die sich in der Julikrise offenbart, legt eher nahe, die Frage umzukehren, d. h. schwerpunktmäßig nicht mehr zu untersuchen, warum der Krieg ausbrach, sondern, weshalb der Frieden zusammenbrach. Zwar hatte friedliche Kooperation gewisse Bindungen geschaffen, doch als diese im Sommer 1914 durch eine schwere Konfrontation auf die Probe gestellt wurden, erwiesen sie sich als zu schwach, um Europa einen Krieg zu ersparen. Die bellizistischen Tendenzen gewannen schließlich die Oberhand, weil die wachsende Feindseligkeit zwischen den Nationen die kooperativen Perspektiven verdrängte. Stattdessen legitimierte man lieber den Kampf um bestimmter Ziele willen, die nur mit militärischer Gewalt erreicht werden konnten. Eine Reihe immer heftigerer internationaler Krisen hatte zwischen dem Dreibund und der Entente das Bewusstsein eines so krassen Antagonismus geschaffen, dass den Beteiligten Kompromissbereitschaft als ein Zeichen von Schwäche erscheinen musste. Und so trafen die Führer der Großmächte eine Reihe desaströser Entscheidungen, die eine lokale Querele auf dem BalkanBalkan in mehreren Stufen eskalieren ließen: erst ein serbisch gesteuertes Attentat, dann eine österreichische Strafaktion und am Ende ein kontinentaler Krieg zwischen Deutschland, Russland und Frankreich, der schließlich auch noch England, die Türkei und JapanJapan in den Konflikt mit hineinzog.5 Statt einen Fortschritt in Frieden zu garantieren, entwickelte die Moderne eine negative Dynamik und trug dazu bei, einen Weltkrieg zu entfesseln.