Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Liberale Neugestaltung

WilsonsWilson, Woodrow Programm war ein innovativer Versuch, eine liberale Ordnung für die Politik nach dem Kriege zu schaffen, der aber infolge unzureichender Umsetzung und immanenter Widersprüche scheiterte. Das Prinzip der Selbstverwaltung entsprach dem in vielen Völkern spürbaren Streben nach mehr Partizipation, um dessentwillen demokratische Verfassungen erstellt werden sollten. Das Versprechen der Selbstbestimmung ging ein auf die da und dort hochflammende nationalistische Agitation; den ethnischen Gruppen wurde nahegelegt, Nationalstaaten zu bilden. Der Vorschlag, internationale Kooperation zu organisieren, war motiviert durch den Wunsch, das Kriegerische aus der Politik des Mächtegleichgewichts herauszunehmen, indem man eine Institution kreierte, die Kriege überflüssig machte. WilsonsWilson, Woodrow fortschrittlichen Initiativen mangelte es nicht an Attraktivität, doch führten sie zu vielen neuen Problemen. Das kulturelle Erbe des Autoritarismus besaß noch subversives Potenzial genug, um demokratische Selbstverwaltung zu blockieren. Ethnisch gemischte Besiedlungen lösten Konflikte um Minderheiten und Grenzstreitigkeiten aus. Unwillig, sich ihre neue Souveränität schon wieder schmälern zu lassen, kooperierten unabhängige Staaten oft nur, wenn es in ihre Interessen passte. WilsonsWilson, Woodrow Vision betraf Kernprobleme der Moderne, nur verkannte er das destruktive Potenzial, das in ihr steckte.1

Die Verbreitung der Demokratie in Mittel- und Osteuropa bot den ehemaligen Untertanen der Landimperien die nie dagewesene Chance, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Der Sturz der zaristischen, der Habsburger und der Osmanischen Monarchie brachte die nationalen Bewegungen ihrem Ziel endlich näher. Inspiriert von den Idealen der Französischen Revolution, hatten jene Kämpfer sich gegen ihre tyrannischen Oberherren gestellt, waren jedoch durch das Scheitern der 1848er-Revolutionen empfindlich zurückgeworfen worden. Die Hartnäckigkeit, mit der die alte Ordnung ihr Regiment verteidigte, um sich ihre Privilegien zu erhalten, hatte nur stückweise Fortschritte in Richtung Selbstverwaltung zugelassen.2 Die autoritären Regime mussten erst niedergeworfen werden, bevor sich eine Gelegenheit eröffnete, politische Teilhabe zu umfassender Repräsentation auszuweiten. In den grimmigen ideologischen Zwisten nach dem Krieg gewann die demokratische Alternative anfangs überall die Oberhand – außer im autoritären Ungarn und in der radikalen Sowjetunion. Viele befreite Bürger waren aber noch nicht imstande, die frisch gewonnenen Rechte auch wahrzunehmen, denn sie hatten keinerlei Erfahrung mit Selbstverwaltung und Selbstbestimmung. Die Härten des Bürgerkrieges, ökonomische Einbußen und populistischer Nationalismus sorgten dafür, dass sich die neuen Demokratien gar zu bald in kleine Diktaturen verwandelten.3

Durch die PariserParis Friedensverträge entstanden ein Dutzend neuer Nationalstaaten, die das Prinzip der Selbstbestimmung in Europa beträchtlich voranbrachten: verschiedene Ethnien konnten sich nun jeweils selbst regieren. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer durften ehemalige Untertanen russischer, deutscher und ungarischer Herrscher ihre eigenen Nationalstaaten bilden, in denen sie dann die Möglichkeit hatten, ihre Unabhängigkeitsträume zu realisieren. Die Befreiung von den früheren Herren bedeutete für die nunmehr Souveränen, dass sie in öffentlichen Angelegenheiten ihre eigene Sprache benutzen, ihre Kinder in den Schulen das gemeinsame kulturelle Erbe lehren und internationalen Respekt beanspruchen konnten wie ältere, bereits etablierte Nationen. Aber der Minderheitenschutz, den der Völkerbund verfügte, erwies sich als unzureichend für bestimmte Gebiete in Ostmitteleuropa, die eine starke ethnische Durchmischung aufwiesen. Denn in vielen Städten lebten mehrere Völkerschaften nebeneinander, beispielsweise Deutsche, Juden und Slawen in PragPrag. Volkszählungen, die ja auch nationale Zugehörigkeiten ermittelten, bargen Zündstoff, denn der Anspruch auf Macht oder Grenzverläufe hing ab von der Identifikation der Bürger mit einer bestimmten Sprache. Die Einführung der Selbstbestimmung von oben herab, mit der der Völkerbund die Mittelmächte zu schwächen und Sowjetrussland draußen zu halten hoffte, sorgte für heftige Konflikte, die sich später zu ethnischen Säuberungen auswachsen sollten.4

Eine internationale Organisation einzurichten, die in Konfliktfällen vermittelte und einem zweiten Weltkrieg vorbeugte, schien ebenfalls eine exzellente Idee. Eigentlich trat der Völkerbund das Erbe der Kongresssysteme um ein Jahrhundert versetzt an. Auf dem neu geschaffenen internationalen Forum sollten die Öffentlichkeiten verschiedener Länder ihre Meinungen austauschen, die Probleme der Welt diskutieren, rechtliche Leitlinien für den Umgang der Nationen miteinander festlegen, sich um lebenswichtige Einzelmaßnahmen wie den Arbeitsschutz kümmern – alles ehrenwerte Ziele, und was die Gremien erreichten, tat sicherlich einiges, um Spannungen zwischen Ländern zu mindern. Doch die Verteidiger nationaler Souveränität schafften es immer wieder, die Initiative zu sabotieren. Sie beharrten darauf, dass den Großmächten ein Vetorecht zustehe und dass die besiegten Feindnationen ausgeschlossen, die Sowjetunion gar nicht erst hereingelassen und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten am Beitritt gehindert werden müssten. Auch nötigten sie den Völkerbund, die Bestimmungen der umstrittenen Friedensverträge mit Härte durchzusetzen. Zwar gelang es der Genfer Liga, mehrere Grenzdispute durch Plebiszite beizulegen und ganz allgemein die internationalen Debatten zu zivilisieren; hingegen versagte sie katastrophal, als es darum ging, jene Streitigkeiten zwischen den Großmächten zu regeln, die später einen neuen Weltkrieg entzündeten.5

Die Bemühungen um demokratische Modernisierung, die am Ende des Ersten Weltkrieges begannen, wirken in der Rückschau gleichzeitig bestechend und enttäuschend. Die Niederlage der Mittelmächte schuf eine historische Chance, einen Frieden zu errichten auf den Prinzipien der Demokratie, der Selbstbestimmung und der Einbindung in eine internationale Organisation. Dank jener attraktiven Ideen fanden die meisten Bürger Mittel- und Osteuropas WilsonsWilson, Woodrow liberales Reformprogramm sympathischer als LeninsLenin, Wladimir I. kommunistische Revolutionsverheißungen. Aber nationales Eiferertum und konservative Widerspenstigkeit seitens der siegreichen Alliierten machten die Implementierung dieser Ideale durch die Pariser Friedensverträge zu einer recht einseitigen Angelegenheit. Dass die Triumphanten in fast allen umstrittenen Fällen als die Begünstigten erschienen, fachte unter den Geschlagenen verbliebene Ressentiments neu an. Hinzu kamen inhaltliche Ungereimtheiten – etwa, dass man Selbstbestimmung in Ländern installierte, die dafür noch nicht reif waren; dass man Nationalstaaten in ethnisch durchmischten Regionen errichtete; dass man eine internationale Organisation gründete, ohne sicherzustellen, dass die Mitglieder Teile ihrer Souveränität abgaben. Infolge solcher Fehler blieb die liberale Moderne auf den Westen beschränkt. WilsonsWilson, Woodrow Vision hat auch noch später Demokraten inspiriert, doch bedurfte es einiger Überarbeitung und Weiterentwicklung, um zu gewährleisten, dass sie sich am Ende durchsetzte.6

Die faschistische Alternative


Der faschistische Marsch auf Rom, 1922. V. l. n. r.: Italo BalboBalbo, Italo, Benito MussoliniMussolini, Benito, Cesare Maria de VecchiVecchi, Cesare Maria de und Emilio de BonoBono, Emilio de

Am 22. März 1919 versammelten sich in MailandMailand mehrere hundert Ex-Sozialisten, Syndikalisten, Futuristen und Veteranen, um eine neue politische Bewegung zu gründen, genannt Fasci di Combattimento (›Kampfverbände‹). Ihr künftiger Führer, der Journalist Benito MussoliniMussolini, Benito, der den Eintritt Italiens in den Krieg befürwortet hatte, verkündete das ehrgeizige Ziel, man wolle »das Fundament einer neuen Zivilisation legen«. Um »die begrenzten Horizonte all der verbrauchten und erschöpften Demokratien« zu überwinden sowie dem »gewalttätig utopischen Geist des Bolschewismus« entgegenzutreten, bedürfe es, so MussoliniMussolini, Benito, einer »italienischen Revolution«. Sein bunt zusammengeflicktes Programm umfasste Punkte wie diese: eine Nationalversammlung zur Reform des Staates, den Achtstundenarbeitstag, die Mitbestimmung der Belegschaft in Unternehmen, die Bildung eines technischen Sachverständigenrats und Maßnahmen gegen die Kirche. Später kamen noch Kranken- und Altersversicherung, die Beschlagnahme unbewirtschafteten Landes, eine hohe Steuer auf Kriegsgewinne, die Einziehung von Kirchenbesitz und die Militarisierung der Nation hinzu. Das Wort fasci im Namen dieser »Antipartei« bedeutet wörtlich ›Bündel‹ (Plural), was eine Reminiszenz an das alte RomRom beinhaltete: Damals wurden hohen Magistraten als Symbol ihrer Amtsgewalt sogenannte fasces vorangetragen Rutenbündel, in denen ein Beil steckte.1 Der eher bescheidene Beginn 1919 in MailandMailand markierte die Geburt einer neuen Ideologie, die sich zu einer dritten Version der Moderne entwickelte und nun mit den beiden anderen um die Zukunft Europas konkurrierte.

Die faschistische Vision war eine merkwürdige Kombination aus Nationalismus und Sozialismus, womit sie sich die beiden großen ideologischen Kräfte des 20. Jahrhunderts zunutze zu machen suchte. Einen wesentlichen Grundpfeiler bildete ein übersteigerter »integraler Nationalismus«, wie ihn in Frankreich Charles MaurrasMaurras, Charles vertrat, der das eigene Vaterland als höchsten Wert über alle anderen setzte. Der Publizist Enrico CorradiniCorradini, Enrico knüpfte an diese nationalistische Botschaft an und übertrug sie auf die einheimischen Verhältnisse: »Italien ist«, kritisierte er, »materiell und moralisch eine proletarische Nation«, es habe jedoch die Pflicht, mit Ländern gleichzuziehen, die es in Sachen Wohlstand und Imperialismus weitergebracht hätten. Der Dichter Filippo Tommaso MarinettiMarinetti, Filippo Tommaso, Vertreter der Kunstströmung des Futurismus, verfocht ähnliche Ideen. In einem der Manifeste jener Bewegung verkündete er: »Wir wollen Krieg verherrlichen – die einzig wahre Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Freiheitsbringer, schöne Ideen, für die zu sterben lohnt, und die Verachtung des Weibes.«2 Solch eine Rhetorik verfing bei Italienern, die Frustration empfanden angesichts der Diskrepanz zwischen der glorreichen Vergangenheit des Landes und seiner enttäuschenden Gegenwart. Zusätzlich inspiriert vom Sozialdarwinismus, träumten diese Ultranationalisten von einer nationalen Wiedergeburt, die im Inneren ein großes Gemeinschaftsgefühl stiften und nach außen die imperialen Besitztümer sichern und erweitern würde.

 

Die andere Hauptstütze bestand aus einer Art Sozialismus, einem zurechtgebogenen allerdings, der vom klassischen Marxismus dadurch abwich, dass er sich zum Syndikalismus bekannte. Letzteren hatte der französische Theoretiker Georges SorelSorel, Georges inspiriert, der die direkte Aktion, die mythische Mobilisierungskraft des Generalstreiks und die Kontrolle der Arbeiter über die Betriebe pries. Auch trat er für Gewalt ein, als Mittel und als Zweck gleichermaßen. Solche Ideen gefielen Arturo LabriolaLabriola, Arturo und anderen italienischen Sozialisten, die nicht jene Geduld aufbringen mochten, die MarxMarx, Karl beharrlich einforderte, wenn er postulierte, die Revolution könne erst kommen, wenn der bürgerliche Kapitalismus sich fertig entwickelt habe. Die Syndikalisten teilten mit den Sozialisten manche Positionen: Wie diese hassten sie Ausbeutung und Ungleichheit, wie diese hofften sie auf eine revolutionäre Transformation, die dem Proletariat zur Macht verhelfen sollte. Anders jedoch als die einheimischen Sozialisten der Partito Socialista Italiano (PSI) waren die Syndikalisten produktivistisch orientiert, feierten also die Wachstumskräfte der Industrialisierung und stellten die Nation über die sozialen Klassen, die sie sich in einer großen nationalen Gemeinschaft vereint wünschten. Angesichts dieser nationalistischen Attitüde wundert es nicht, dass sie auch den italienischen Imperialismus und die Beteiligung ihres Landes am Weltkrieg unterstützten.3 Da sie den sozialistischen Internationalismus entschieden ablehnten, waren sie ferner bereit, gemeinsame Sache mit den radikalen Nationalisten zu machen.

Gleichermaßen in Gegnerschaft zur bürgerlichen Demokratie wie zum Kommunismus, entwarfen die Faschisten eine alternative Variante der Moderne, innerhalb derer die Wiedergeburt der italienischen Nation besonderen Rang erhielt. Der Faschismus entstand in einer Modernisierungskrise des italienischen Staates, die durch die Belastungen des Ersten Weltkriegs und die Schwierigkeiten beim Übergang zum Frieden verschärft wurde. Zwar evozierten seine Rhetorik und sein Symbolgebrauch das Erbe des Römischen Imperiums; jedoch ist vielen Charakteristika der Bewegung Modernität nicht abzusprechen. Dazu gehören Massenmobilisierung, Führerkult, Männerbündelei, die Bewunderung der Jugend und die Ästhetisierung der Politik. Aus diesen Elementen, denen sich noch Hypernationalismus, Militarismus, Pro-Natalismus und Expansionismus beigesellten, versuchte der faschistische Glaube eine positive Synthese zu formen, eine Kombination aus Teilstücken der Moderne, freilich aus bedenklichen. Was so entstand, war eine radikal nationalistische, expansionistische und Gewalt und Krieg verherrlichende Ideologie. Diese etwas konfuse Weltanschauung war »eine Form des revolutionären Ultra-Nationalismus um der nationalen Wiedergeburt willen, der hauptsächlich auf einer vitalistischen Philosophie basierte und zu dessen strukturbildenden Spezifika ein extremer Elitarismus, Massenmobilisierung, das Führerprinzip und Lobpreisung der Gewalt als Mittel und als Zweck zählten, ebenso die Tendenz, dem Krieg und/oder militärischen Tugenden den Status der Normalität zu verleihen«4 Alles in allem war der Faschismus eher ein Stil und ein Gefühl als eine systematische Ideologie.

Will man die bestürzende Attraktivität verstehen, die der Faschismus als Alternative zu Liberalismus und Sozialismus erlangte, sollte man unbedingt zwischen dem polemischen und dem analytischen Gebrauch des Begriffs unterscheiden. Ein Teil des Problems liegt in der Tendenz der antifaschistischen Linken, alles, was ihr auf der Rechten bekämpfenswert erscheint, ›faschistisch‹ zu nennen. Diese undifferenzierte polemische Verwendung verwischt den beträchtlichen Unterschied zwischen wahrhaft faschistischen Systemen, die auf Massenmobilisierung rekurrieren, und traditionellen autoritären Regimen, die sich primär auf Monarchie, Kirche, Armee und Beamtenapparat stützen. So schlimm sie gewesen sein mögen, FrancoFranco, Francisco und SalazarSalazar, António de Oliveira waren weder MussoliniMussolini, Benito noch HitlerHitler, Adolf. Außerdem trägt zur Verwirrung bei, dass man zu wenig unterscheidet zwischen ›Faschismus‹ als Bezeichnung für das spezielle italienische Phänomen und einem allgemeineren Gebrauch des Terminus als Gattungsnamen, der Bezug nimmt auf die Verbreitung rechtsextremer Bewegungen in anderen Ländern, die mit dem italienischen Faschismus zumindest viele Glaubensinhalte teilten. Obwohl die Nationalsozialisten von MussolinisMussolini, Benito Beispiel inspiriert waren, gingen sie doch bald darüber hinaus, indem sie eine rassistischere und tödlichere Version einer ähnlichen Ideologie propagierten.5 Doch lässt man solche Differenzierungen einmal beiseite, ist die Feststellung richtig, dass das plötzliche Auftreten rechtsextremer Politikformen Europa in neue Wirren stürzte.

Die Rückständigkeit Italiens

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Italien, einem sarkastischen Ausspruch Fürst MetternichsMetternich, Klemens Wenzel Lothar von zufolge, kein Staat, sondern ein geografischer Begriff. Von Europa durch die Alpen abgeschnitten und vom Mittelmeer umgeben, erfreute Italien sich eines milden Klimas, aber sein fruchtbarer Boden litt unter Übernutzung, und es besaß wenige natürliche Ressourcen wie Kohle oder Eisen. Die große römische Vergangenheit war nur noch eine ferne Erinnerung, am Leben gehalten durch die physische Präsenz von Ruinen; die einst gemeinsame Sprache hatte sich in mehrere rivalisierende Dialekte aufgelöst. Zwar blieb der Stadt RomRom der Sitz des Papsttums, aber die katholische Kirche mochte sich nicht damit begnügen, eine spirituelle Kraft zu sein, und mischte sich in die weltliche Politik ein. Nach den Barbareninvasionen während der Völkerwanderung zerfiel das Land in Fürstentümer, die bald unter spanische, bald unter französische, bald unter habsburgische Oberherrschaft kamen. Während Stadtstaaten wie VenedigVenedig, FlorenzFlorenz und MailandMailand wegen ihres Wohlstands und ihrer hohen Kultur großen Ruhm genossen, blieb die italienische Halbinsel politisch zerklüftet, mit auch ökonomisch negativen Folgen. Zwischen dem industriellen Norden und dem agrarischen Süden bestanden enorme soziale Unterschiede, und die Überbevölkerung zwang zahllose Generationen zur Emigration in alle Welt.1

Italien wurde erst 1861 zum Nationalstaat, und dass es dazu kam, verdankte das Land einem zufälligen Zusammenwirken von Ideologie, Rebellion und Diplomatie. Die napoleonische Besatzung hatte ein paar liberalisierende Reformen angestoßen und ein geistiges Wiederaufleben (risorgimento) inspiriert, das dem italienischen Stolz neuen Auftrieb gab und die Vereinigung zu einem Traum der Intellektuellen machte. Der republikanische Schriftsteller Giuseppe MazziniMazzini, Giuseppe verfasste poetische Aufrufe zum politischen Handeln, denen namentlich Studenten folgten, aber die einzelnen lokalen Erhebungen, einschließlich jener während der Revolutionen von 1848, scheiterten am Ende, und Mazzini musste nach England ins Exil. Erfolgreicher war der romantische Revolutionär Giuseppe GaribaldiGaribaldi, Giuseppe, der die bourbonische Dynastie in Neapel mit einer zusammengewürfelten Armee aus Bauern, Unzufriedenen und Abenteuern stürzte und so zu einer nationalen Legende wurde. Vollendet hat die Einheit Italiens jedoch der Reformer und Diplomat Graf Camillo di CavourCavour, Camillo di, Ministerpräsident von Piemont-SardinienPiemont-Sardinien. Mit Hilfe französischer Truppen und unter BismarcksBismarck, Otto von stiller Duldung verjagte er 1861 die österreichischen Fürsten, eroberte 1866 VenedigVenedig und besetzte 1870 RomRom. Alle befreiten Provinzen integrierte er in ein erweitertes PiemontPiemont, nur TrientTrient und TriestTriest waren nicht dabei.2

Der so entstandene neue italienische Staat war eine konstitutionelle Monarchie, die sich dann schrittweise zu einer parlamentarischen Regierung entwickelte. Zwar galt jetzt wieder die Verfassung von 1848, das sogenannte Statuto, dem zufolge der König die allerhöchste Autorität innehatte, aber Vittorio Emmanuele II. Vittorio Emmanuele II.war keine starke Herrscherpersönlichkeit, sodass die Macht nach und nach auf die Minister und die Deputierten überging. Allerdings besaßen damals nur Männer und selbst von diesen nur zwei Prozent das Wahlrecht, dessen Ausweitung nun zum dauerhaften Zankapfel wurde. Da über zwei Drittel der Bevölkerung immer noch in der Landwirtschaft tätig und Analphabeten waren, blieb Politik vorerst ein Spiel unter Männern mit Besitz und Bildung, da die nicht mehr sehr einflussreichen Adeligen sich weitgehend damit begnügten, zu verzehren, was ihr Grundeigentum an Renten abwarf. Das Parlament zeigte sich in zwei Lager geteilt: hier eine konservativ-liberale Fraktion, welche die Privilegien ihrer Klientel verteidigte und nur wenige Zugeständnisse machen mochte; dort eine demokratisch-radikale Gruppe, die heftig mehr Rechte für das Volk einklagte, der es aber oft an Unterstützung durch die Wähler mangelte. Die herrschende Elite nun bediente sich einer Taktik, die als transformismo in die Geschichte einging: sie suchte ihre Kritiker zu vereinnahmen, indem sie ihnen ein Stück Macht abgab – in der Erwartung, diese würden dann schweigen.3 Entsprechend spielte die Politik sich in weiter Entfernung vom Leben der meisten Italiener ab, die tagtäglich ums Überleben kämpften, nicht selten in erbärmlicher Armut.

Die katholische Kirche lehnte den entstehenden Nationalstaat ab, weil er vom Liberalismus inspiriert war. Immerhin hatte er sie schon um politische Macht und weltlichen Besitz gebracht. Über beides erzürnt, erklärte Papst Pius IX. Pius IX.sich zum »Gefangenen im Vatikan« und verweigerte jede Einigung mit der neuen nationalen Regierung, die sich in Rom einrichtete. Es trug nicht eben zur Entspannung bei, dass CavourCavour, Camillo di und die anderen liberalen Staatsbegründer kirchliches Eigentum konfiszierten und die Oberhoheit des Staates über den Unterricht in den Primarschulen sowie über die Eheschließungen beanspruchten; Letztere mussten nun auch zivil erfolgen. PapstPius IX. und Kurie reagierten, indem sie ihren »antimodernistischen« Kurs verhärteten und extrem rigide Doktrinen verkündeten, etwa das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit oder der unbefleckten Empfängnis Mariens. Zusätzlich publizierte man eine Schrift namens Syllabus errorum (›Verzeichnis der Irrtümer‹), die progressive säkulare Denk- und Politikrichtungen attackierte. Obwohl religiöse Rituale nach wie vor den Rhythmus des Alltagslebens der Pfarrkinder bestimmten, verbot der Vatikan seinen Schäfchen, an nationalen Wahlen teilzunehmen! Zwar bewahrte sich die Geistlichkeit im lokalen Bereich einiges ihrer alten Stärke, doch verhinderte die Weigerung der Kurie, den Nationalstaat anzuerkennen, eine ganze Weile die Formierung einer klerikal-konservativen Partei. Dies änderte sich erst kurz nach dem Weltkrieg 1919, als die Partito Popolare Italiano gegründet wurde, um den Katholiken im Felde der Politik eine Stimme zu verschaffen.4

Eine weitere Hürde für den neuen Staat war die Langsamkeit der ökonomischen Entwicklung. Obwohl die meisten Italiener nach wie vor Ackerbau trieben, blieben die Erträge an Korn, Wein oder Oliven bescheiden, außer in einigen ergiebigen Gegenden, etwa der ToskanaToskana. Anderswo reichten die Ernten bestenfalls für den Eigenbedarf oder für die Belieferung der lokalen Märkte. In Mittel-Mittelitalien und SüditalienSüditalien dominierten Latifundien, auf denen Pächter leichtverkäufliches Getreide anbauten; oft jedoch bewirtschaftete man erschöpften Boden mit uralten, nicht besonders produktiven Methoden. Zwar besaß Italien zahlreiche hervorragende Handwerker, die Industrialisierung jedoch kam spät, denn es gab nur wenige natürliche Ressourcen, darunter Wasserkraft und Schwefel. Und gar zu viel von dem verfügbaren Kapital wurde wiederum in Land investiert. In der LombardeiLombardei und anderen nördlichen Provinzen benutzten Fabriken aber zunehmend Maschinen für die Herstellung von Textilien aus Schurwolle, Baumwolle oder Seide. Um das Land zusammenzuführen, trieb die Regierung den Bau von Eisenbahnlinien voran, der Ingenieurwesen und Technik Beträchtliches abverlangte, da zahllose geografische Hindernisse überwunden werden mussten.5 Behindert durch eingefleischten Konservatismus, beschleunigte Italien seine Industrialisierung erst ab 1896 und entwickelte seine eigene Stahl-, Schiffsbau- und Autoindustrie.

 

Immer wieder kam es auf dem Land wie in den Städten zu sozialen Protesten gegen missliche Lebensbedingungen. Den Süden plagte eine Mischung aus rebellischem Banditentum, Mafia-Verbrechen und ländlicher Kriminalität. In den 1870ern stieß der exilierte russische Revolutionär Michail BakuninBakunin, Michail eine anarchistische Bewegung an, die lokale Erhebungen versuchte und schließlich politische Anschläge verübte. Mit dem Wachsen der industriellen Arbeiterklasse im Norden begann sich während der 1880er Jahre auch der marxistische Sozialismus zu entwickeln, der sich bald in zwei Richtungen spaltete: einen »legalistischen« Zweig (POI) und einen revolutionären Flügel (PSRI). Unter der Leitung des Mailänder Soziologen Filippo TuratiTurati, Filippo schlossen sich 1892 mehrere linke Gruppierungen zusammen und gründeten die Sozialistische Partei Italiens (PSI), dergestalt dem erfolgreichen Beispiel der deutschen Sozialdemokratischen Partei folgend. Dank der Rückendeckung durch die camere del lavoro (syndikalistische Arbeiterräte) und einer rasch expandierenden Riege von Gewerkschaften überlebte diese neue Partei mehrere Repressionswellen seitens der Regierung. Während der Jahre bis 1900 wurde die PSI so erfolgreich bei den Wahlen, dass das bürgerliche Kabinett auf Anregung des Ministerpräsidenten Giovanni GiolittiGiolitti, Giovanni Versuche unternahm, sozialistische Abgeordnete in die Regierungsverantwortung einzubinden, um jene Partei mit dem Staat zu versöhnen. Dennoch blieb in dieser Phase der Konflikt zwischen Reformern und Revolutionären ungelöst.6

In der Hoffnung, auch eine Großmacht zu werden, erlag Italien den Verlockungen des Imperialismus. Freilich hatte es wenig Geschick bei der Wahl seiner Objekte, die es viel kosten sollten. 1890 erklärte die Regierung in RomRom EritreaEritrea am Horn von Afrika, wo Händler einen Stützpunkt etabliert hatten, zur italienischen Kolonie. Beflügelt vom Traum, Ruhm und Ehre des alten Rom wiederzubeleben, annektierte man 1905 noch SomaliaSomalia. Aber diese neuen Besitzungen verwickelten die unerfahrenen Imperialisten in einen Konflikt mit dem Kaiser von AbessinienAbessinien (Äthiopien) (heute Äthiopien), dessen Leute 1887 die italienischen Truppen besiegten. Diesen Rückschlag mochte man in RomRom nicht hinnehmen, und so drängte Premierminister Francesco CapriCapri, Francesco, Italien müsse seine Kontrolle auf das gesamte Äthiopische Reich ausdehnen. Aber das Kriegsglück war RomRom auch diesmal nicht hold: In der Schlacht von AduaAdua töteten die Abessinier rund 5000 italienische Soldaten und nahmen 2000 gefangen. Diese Niederlage war ein deutliches Warnsignal, doch CaprisCapri, Francesco Nachfolger GiolittiGiolitti, Giovanni ließ sich nicht beirren und attackierte 1911 das Osmanische Reich. Immerhin konnte man LibyenLibyen nach blutigen Auseinandersetzungen unterwerfen. Diese Prestigepolitik riss ein gewaltiges Defizit ins Staatsbudget, und die Überbevölkerung Italiens konnte sie auch nicht lindern, denn wenn emigriert wurde, dann nicht in die neu eroberten Gebiete, sondern anderswohin, etwa nach AmerikaVereinigte Staaten.7 Der imperialistische Kurs erwies sich als desaströs, denn er verschlang Ressourcen und nährte die chauvinistische Arroganz.

Eine Welle nationalistischer Euphorie trug Italien zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg, doch traten gerade dadurch die strukturellen Schwächen eines Landes zutage, das sich immer noch mit der Aufholjagd hin zur Moderne abmühte. Die anfängliche Entscheidung, neutral zu bleiben, war ein Kompromiss zwischen den Anhängern des Dreibunds und den Befürwortern der Befreiung des Italia irredenta, des ›unerlösten Italiens‹, gewesen. Mit dem Begriff bezeichneten die einheimischen Nationalisten ehemals italienische Territorien, die sich derzeit unter dem »habsburgischen Joch« befänden. Um solche Begehrlichkeiten genau wissend, versprach die Entente den Italienern, dass sie, wenn sie mitwirkten und man gemeinsam siegte, IstrienIstrien, TrientTrient und DalmatienDalmatien zurückbekommen und Kolonien hinzugewinnen würden. Daraufhin unterzeichnete Premierminister Sidney SonninoSonnino, Sydney getreu der Maxime des sacro egoismo den Vertrag von LondonLondon, und im Mai 1915 trat Italien in den Großen Krieg ein. Aber die Hoffnungen auf einen raschen Sieg über die multiethnischen österreichischen Streitkräfte zerstoben bald in den Schützengräben des FriaulFriaul, und in der Zwölften Isonzoschlacht – auch: ›Schlacht von KarfreitCaporetto (Karfreit)‹ – wurde Italiens Armee zerschlagen. Zwar expandierten Industriekonzerne wie FIAT während des Krieges rapide, aber die Moral in der Truppe war erbärmlich, weil die Soldaten kaum eine richtige Ausbildung erfahren hatten und außerdem nicht recht verstanden, für welche Sache sie eigentlich sterben sollten. Erschwerend hinzu kam die Unfähigkeit ihrer Führung. Erst im Oktober 1918 gelangen der italienischen Armee Siege über Österreich. Der Krieg kostete das Land 600 000 Tote und noch mehr Verwundete. Die sinnlosen Leiden vertieften den Graben zwischen der skeptischen Mehrheit und der interventionistischen Minderheit.8