Leben ohne Maske

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Dritter Teil (1969 bis 1971)

15. Kapitel

Nach dem Begräbnis von Meta Larsen hatten es Wolfgang und Heidi unheimlich eilig, mit der Straßenbahn vom Erfurter Hauptfriedhof auf den Busbahnhof zu kommen. Am frühen Nachmittag nämlich waren sie mit dem Direktor der Schule, an der sie ab September unterrichten würden, verabredet, und der Mittagsbus war die einzige Möglichkeit, um diese Zeit nach Oberneusitz zu kommen. Denn nur morgens, mittags und abends war dieses weltabgeschiedene Nest in Erfurt-Land mit dem Bus zu erreichen.

Es war schweineheiß, als sie an einer kaum befahrenen, staubigen Kreuzung, die einen Kilometer von Oberneusitz entfernt war, den stickigen Überlandbus verließen und das erste Mal auf das Dorf zuliefen. Sie gingen auf einer langen, schmalen Chaussee auf Oberneusitz zu: ihren künftigen Einsatzort.

Heidi hatte einen schwarzen Kostümrock und eine weiße Rüschenbluse an, und Wolfgang trug seinen schwarzen Hochzeitsanzug und hatte ein weißes Dederonhemd an und einen schwarzen Binder um.

Rechts und links der Straße: Pflaumenbäume und freies Feld, und über den ersten Häusern des Dorfes, die man in der Ferne sehen konnte, eine wolkenlose Bläue.

Die Hitze war mörderisch, und der aufgeweichte Asphalt roch stark nach Teer, und wenn die Schatten der Chausseebäume nicht gewesen wären, wäre der Weg nach Oberneusitz zu einer noch größeren Tortur geworden. Das Dorf, das sie anvisierten, war für Wolfgang und Heidi eine unbekannte Größe, und die Menschen, die in diesem 210-Seelen-Dorf wohnten, waren ihnen allesamt unbekannt. Aber lange würde es nicht dauern, und sie stünden vor den Klassen, die sie heute noch nicht kannten, und es hieß, auf die Fragen der Schüler die richtigen Antworten zu geben.

Wolfgang und Heidi schraken ein wenig zusammen, als plötzlich ein Pferdefuhrwerk rasant vom Feld auf die Straße bog. Auf dem Kutschbock saß ein glatzköpfiger alter Mann, einen Stumpen im Mund, und auf der Ladefläche hockten die LPG-Frauen, die vom Rübenhacken kamen. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Pferde galoppierten, und die Frauen auf der Ladefläche lachten, winkten und kreischten.

„Die sind schneller da als wir“, sagte Wolfgang. „Ich beneide sie nicht“, sagte Heidi, die ans Rübenhacken in dieser Gluthitze dachte.

Nach einer Weile erreichten Wolfgang und Heidi endlich das gelbe, rostig lädierte Ortsschild „Oberneusitz“.

Aus dem Schweinestall rechts neben der Straße war das tausendstimmige Quieken und Schreien der Schweine zu hören und die Entlüftungsventilatoren der Schweinemastanlage surrten auffallend laut. Die Stallfrauen in ihren blauen Kitteln hatten roterhitzte Gesichter und karrten Mist.

Links drüben, nicht unberührt vom Gestank der Schweinemastanlage und dem lauten Quieken der Schweine, lag der kleine Dorffriedhof im Schatten großer Bäume. Über den Wipfeln schwirrten die Schwalben. Wie Pfeile durchschossen sie die Luft, die das Land heiß umschloss.

Wie in einer Dunstglocke kamen sich Wolfgang und Heidi vor, in der es schwerfiel zu atmen, und vor Wolfgangs Augen verschwamm für Augenblicke der Dorffriedhof mit seinen riesigen Bäumen und den funkelnden Grabsteinen dazwischen. „Nicht weinen, nicht weinen, wenn ich sterbe“, hörte er seine Großmutter sagen.

„Meine Großmutter war eine tapfere Frau. Ich habe sie geliebt“, sagte Wolfgang. „Davon hat man aber wenig gemerkt“, sagte Heidi. Die Leute seien über sein Verhalten am Grab verwundert gewesen. Sie habe gehört, wie jemand gesagt habe: „Ihr Leben lang hat sie sich um ihn gesorgt, und jetzt hat er nicht mal Tränen für sie.“

„Ich hab‘ mich doch nur an das Versprechen gehalten, dass ich ihr gegeben habe“, sagte Wolfgang, und er hörte die Bitte seiner Großmutter: „Nicht weinen, nicht weinen, wenn ich sterbe.“ Sollte Wolfgang dadurch härter und männlicher werden, weil seine Großmutter glaubte, er sei zu weich für die Welt?

Zwischen dem Friedhof unweit der Straße und den ersten Häusern des Dorfes war eine Pferdekoppel, in der zwei Fohlen ungezügelt ungelenke Luftsprünge machten.

In der Mitte des Dorfes, das still und staubig in der Mittagshitze döste, standen auf dem Dorfplatz, genau gegenüber der Kneipe, zwei große Mähdrescher. Die Traktoristen ließen sich ihre Bockwurst-Brause-Mahlzeit schmecken, und ein Schäfer band seine Hunde an den Holzlatten eines Vorgartenzauns fest. Bevor er die Straße überquerte, blieb er einen Moment stehen und sah Wolfgang und Heidi erstaunt und misstrauisch an. Dann verschwand er in der Kneipentür und die beiden Hunde am Zaun bellten.

Daraufhin traten die zwei Traktoristen ins gleißende Mittagslicht, dessen Helle kaum zu ertragen war, und bestiegen die höllisch heiße Kanzel ihrer Mähdrescher. Höllenlärm verursachend, stürzten sie sich fluchend in die Ernteschlacht. Hupend und grinsend fuhren sie an Heidi und Wolfgang vorbei, die gerade die Schule am Ende des Dorfes erreicht hatten.

Die Schule war ein barackenähnlicher Flachbau. Der Direktor stand auf den Stufen vor der Eingangstür. Er hieß Sandruschek und erwartete sie zum ersten Gespräch.

„Ist etwas passiert?“, fragte er verwundert und etwas unbeholfen, als er Wolfgang und Heidi in ihren schwarzen Trauerklamotten sah. „Meine Großmutter ist gestorben“, sagte Wolfgang. „Heute Vormittag war das Begräbnis.“

„Das tut mir leid“, sagte der Direktor. „Es hat sich ja hoffentlich an ihrem Einsatz nichts geändert“, fügte er etwas verunsichert hinzu.

„Nein“, sagte Wolfgang. „Alles bleibt wie abgesprochen.“

„Dann ist es ja gut“, der Direktor zeigte ihnen die Schule. Er führte sie ins Lehrerzimmer, ins Sprachkabinett, auf das er mächtig stolz war, und in den Biologie-Raum.

Auf dem Lehrertisch lag ein heller Sommerhut, und ein alter Mann etikettierte gerade eine Reihe von Spiritus-Gläsern, in denen Embryos in den verschiedensten Entwicklungsstadien zu sehen waren.

„So sieht menschliches Leben aus“, sagte er schmunzelnd und sah Heidi an, als wolle er feststellen, ob sie schon schwanger sei.

Der Direktor sagte: „Herr Rechn, mein Stellvertreter, 63 Jahre alt, der keine Ferien kennt.“

Der alte Rechn gab Wolfgang und Heidi, vor der er sich sogar etwas verbeugte, die Hand und Sandruschek sagte: „Bruckners. Die neuen Absolventen.“

„Wir sind Nachbarn“, sagte der alte Rechn. „Ich wohne mit meiner Frau in dem alten Lehmgemäuer am Schulplatz. Früher habe ich sogar in der Kirche die Orgel gespielt.“

Nachdem sie den Bio-Raum verlassen hatten, warfen sie einen kurzen Blick ins Geschichtskabinett. „Ihr Heiligtum“, sagte Sandruschek zu Wolfgang, in dem er anscheinend mehr den Geschichts- als den Deutschlehrer sah.

Das Direktorenzimmer, in das er Wolfgang und Heidi bat, war pomphaft eingerichtet: dicke Teppiche, protzige Besuchersessel, ein großer Repräsentativ-Schreibtisch und eine Zweit-Stundentafel, ein Veranstaltungs- und Organisationsplan, der stabsfeldmäßig durchgestellt war. Der Direktor steckte Fähnchen und hängte verschiedenfarbige Metallplättchen an eine große Tafel. Er kam sich wohl wie ein großer Feldherr vor. „Die roten bekommen Sie“, sagte er zu Heidi. „Und Sie kriegen die blauen“, zu Wolfgang. Er redete von unterrichtsarmen Tagen und vom Hort und AG-Stunden und von einem Stundenpolster, das für einen variablen Einsatz sehr wichtig sei.

Sandruschek machte auf Wolfgang einen autoritären Eindruck, und er dachte an seinen Vater, nach dessen Willen alles immer gehen musste. Auch Sandruschek hatte seine festen Vorstellungen vom Leben auf dem Dorfe und vom Unterrichten an einer Landschule, und mit Wolfgang und Heidi glaubte er, seine Pläne an der Schule und im Dorf durchbringen zu können.

Nachdem der Direktor ihnen gesagt hatte, in welchen Klassen sie unterrichten würden, meinte er am Schluss des Gesprächs: „Auch mit Ihrer Wohnung geht alles klar.“

Wenig später trafen sie sich mit dem Bürgermeister, einem großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit klobigen Händen. Er stand vor einem Haus, das schräg gegenüber von der Kirche und der alten Schule lag. Äußerst schroff begrüßte er den Direktor. Aber wesentlich freundlicher verhielt er sich Heidi und Wolfgang gegenüber.

Der Bürgermeister schloss die Haustür auf und der Blick fiel in einen dunklen Flur, der gelb ausgefliest war, und auf eine enge, steile Holztreppe, die nach oben führte.

Oben angekommen, es gab nur ein Stockwerk in diesem Haus, machte der Bürgermeister die Türen zur Toilette, zum Wohnzimmer, zur Schlafstube und der Küche auf. „Das ist die Wohnung“, sagte er. „Einen Dachboden gibt es nicht, und der ehemalige Giftraum unten kann als Abstellraum für die Aschekübel genutzt werden.“

Wolfgang und Heidi besahen sich die Räume genau, die ihr künftiges Zuhause sein sollten. Die Küche war unheimlich lang. Sie wirkte wie ein schmaler Tanzsaal, und Sandruschek sagte zu Heidi, wie er die Küche einrichten würde.

Wolfgang stand am Küchenfenster, und sein Blick glitt über den Garten der Nachbarin bis zur Mühlenrampe und zu Rosas Kneipe. Der Direktor machte Heidi noch immer Vorschläge, wie die Küche am besten abzuteilen wäre. „Durch ein geschicktes Abtrennen könnte hier ein Kinderzimmer gewonnen werden“, er schritt ein Drittel der Küche ab.

Alle Zimmer, außer der Toilette, hatten eine schräge Wand, und die meisten Fenster zeigten zur Dorfstraße. Wolfgang fand, dass das Wohnzimmer wenig einladend aussah: In der leeren Ofenecke lag ein Stück Blech, und wo das Ofenrohr in den Schornstein gegangen war, war die Tapete voller Ruß.

„Für einen neuen Ofen sorgen wir“, sagte der Bürgermeister. „Bei den dünnen Wänden kann es auch mal ganz schön kalt werden.“

 

„Früher war das Standesamt hier drin“, sagte der Direktor. Und mit Blick auf die geölten, schwarzen Dielen meinte Sandruschek: „Darauf würde ich Linoleum oder Auslegeware legen.“

Die weitere Diskussion über Bodenbelag und Ofengröße überließ Heidi den Männern. Sie stand am Fenster, sah auf die klein gepflasterte Dorfstraße hinunter und auf das Haus gegenüber mit dem violetten Putzanstrich.

Ein Traktor mit einem schweren Anhänger voll Getreide fuhr hupend am Haus vorbei. Das Hupen galt der Nachbarin aus dem Haus von gegenüber. Trotz der Hitze trug sie Gummistiefel, als sie aus dem Hoftor trat und die Dorfstraße hoch bis zum Wiegehäuschen ging, und Heidi musste darüber ein wenig lächeln. Aber ein trauriges Bild gab die Telefonzelle ab, die sich gleich neben dem Wiegehäuschen befand. Die Tür stand offen, die Scheiben waren demoliert, und der Hörer war abgerissen. Die Verbindung zur Welt war gekappt.

„Mehr haben wir nicht zu bieten“, sagte der Bürgermeister und drückte Wolfgang die Wohnungsschlüssel in die Hand.

16. Kapitel

Am nächsten Tag stiegen Wolfgang und Heidi wieder auf der kaum befahrenen, staubigen Kreuzung aus dem Überlandbus und liefen in der Mittagshitze auf der langen, asphaltierten Chaussee auf Oberneusitz zu.

Dieses Mal hatten sie luftige Sommerklamotten an und jeder von ihnen trug einen großen Rucksack, auf den eine zusammengerollte Luftmatratze geschnallt war. Abwechselnd zogen sie einen hellbraunen Lederkoffer hinter sich her, der auf Rollen lief.

Nachdem sie die Rucksäcke und den Koffer in der langen Küche abgestellt hatten, in der außer einem Küchenherd, einem Schuhregal und einer runden Metallgarderobe nichts stand, machten sie sich an die Arbeit.

In der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft BHG kauften sie sich drei unterschiedliche Besen, eine Kehrschaufel, Reinigungsmittel, zwei Plasteeimer und ein Bündel Scheuerlappen.

Zwei Tage lang schrubbten und wischten sie gründlich die Zimmer und den Korridor. Danach begannen sie mit dem Renovieren der Räume. Zuerst kamen die Toilette, die Schlafstube und die Wohnstube dran, und zum Schluss nahmen sie sich die Küche vor.

Bis sie jedoch mit dem Tapezieren der Wohn- und Schlafstube fertig waren, kampierten sie eine Woche lang auf ihren Luftmatratzen, die sie in der langen, schmalen Küche ausgelegt hatten. Eine Woche später kam ein großer Laster, der die Möbel aus Heidis Mädchenzimmer brachte, und wieder eine Woche später begann die Vorbereitungswoche, in der Wolfgang und Heidi ihre Kollegen kennenlernten und erfuhren, in welchen Klassen sie unterrichten würden. Zu diesem Zeitpunkt sahen Wolfgang und Heidi keine Schwierigkeiten, die das Leben in Oberneusitz und das Unterrichten an einer kleinen Landschule mit sich bringen könnte.

Heidi glaubte, dass sie sich ohne Probleme auf einem Dorf wie Oberneusitz einleben könnte, und Wolfgang war überzeugt, dass er in Oberneusitz trotz des Unterrichts und der üblichen außerunterrichtlichen Verpflichtungen genügend Ruhe finden würde, um schreiben zu können. Das flache Land, das er liebte, würde ihn ganz sicher zu einer Fülle von Landschaftsgedichten inspirieren.

Zum Eröffnungsappell auf dem Schotterhof hinter der Schule waren alle Lehrer und Schüler angetreten, und Sandruschek stellte dem versammelten Rund Heidi und Wolfgang vor. Beide waren Klassenlehrer: Wolfgang in der sechsten, Heidi in der achten Klasse.

In den ersten Wochen war der Focus ganz auf die gemeinsame Arbeit in der Schule gerichtet.

Abend für Abend saßen Wolfgang und Heidi sich am Wohnzimmertisch unter der Schräge gegenüber. Sie schrieben an ihren Klassenleiter- und Stoffverteilungsplänen und machten ihre Stundenvorbereitungen. Die Abende waren mit Schul- und Streitgesprächen angefüllt, und sie genossen die ungestörte Zweisamkeit, das „Inselleben zu zweit“.

Als Ende September ein Brief vom Zentralrat der FDJ ins Haus schneite, schien Wolfgangs Glück perfekt zu sein: Zum Glück in der Liebe, dem erfolgreichen Start ins Lehrersein kam nun die erneute Hoffnung, doch noch ein erfolgreicher Theaterdichter zu werden, und es schien für Wolfgang keine Rolle zu spielen, dass der Zentralrat der FDJ, von dem der Brief kam, die Kaderschmiede für das ZK der SED war.

Er erfuhr, dass er zu den Preisträgern des Wettbewerbs „Junge Dramatiker gesucht“ gehöre. Das Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, das er im zweiten Studienjahr geschrieben hatte, war zwar nicht aufgeführt worden, aber es hatte ihm das Tor zum „Arbeitskreis Dramatik“ geöffnet. Der Leiter war Claus Hammel, über dessen Stück „Morgen kommt der Schornsteinfeger“ Wolfgang seine Staatsexamensarbeit geschrieben hatte.

Zufälle gibt es, dachte Wolfgang und war auf die Auszeichnungsveranstaltung am Ende der Herbstferien gespannt.

Bis dahin ging ihm die Arbeit in der Schule spielend von der Hand, und er fand nachmittags sogar Muße, über das flache Land zu gehen, das sich bis Erfurt erstreckte.

In kürzester Zeit hatten sich Wolfgang und Heidi bei den Leuten im Dorf Sympathien erworben, und in der Euphorie des Anfangs entging ihnen völlig, in was für einem abgelegenen Nest sie wohnten.

Der Dorfkonsum hatte am Montag geschlossen, und nur jeden Dienstag und Donnerstag gab es frisches Brot. Dann standen Frauen und Kinder mit Körbchen, Taschen und Netzen auf der unbelebten Dorfstraße und registrierten aufmerksam jedes Autogeräusch, das sich vom Dorfeingang her dem Schulplatz mit der großen, alten Linde näherte. Alle warteten an diesen Nachmittagen auf den blauen Skoda des Bäckers, der aus Vieselbach, einem sechs Kilometer entfernten Nachbardorf, kam. Um die Wartezeit bis zum Brötchen- oder Brotkauf zu verkürzen, spielten die Kinder Haschen oder Verstecken, und die Frauen unterhielten sich so lange, bis der Skoda des Bäckers auf dem Schulplatz hielt. Dann schlossen die Frauen und Kinder das parkende Auto kreisförmig ein, und der Bäcker, der die schubsende Menge überragte, brachte seine Brote und Brötchen an die Leute.

Dass Oberneusitz weitab vom Schuss war, fiel Wolfgang eigentlich erst auf, als die Auszeichnungsveranstaltung Ende Oktober in Berlin anstand. Sage und schreibe zwei Tage brauchte er, um nach Berlin zu kommen: Mit dem Arbeiterbus, der gegen 18 Uhr vor der Dorfkneipe in Oberneusitz hielt, fuhr er am Donnerstagabend nach Erfurt. Er übernachtete bei seinen Eltern, damit er am Freitagmorgen mit der sogenannten Bonzenschleuder um 4.45 Uhr nach Berlin fahren konnte und pünktlich um zehn Uhr im Zentralrat der FDJ war.

Der Zentralrat der FDJ residierte in einem alten Prunkbau „Unter den Linden“, und alle, die in diesem Haus angestellt waren, hatten Blauhemden an, egal, wie alt sie waren. Das jedenfalls war der erste Eindruck, den Wolfgang gewann, als er dem Pförtner in der gläsernen Eingangsloge seine Einladung zeigte.

Der Pförtner, der im Alter von Wolfgangs Vater war, verwies ihn in eine Art Warteraum, in dem sich die Jungdramatiker einfanden, die zur Auszeichnungsveranstaltung nach Berlin geladen waren.

Für die aus allen Teilen der Republik angereisten, hoffnungsvollen Theaterautoren war ein fülliger FDJ-Funktionär verantwortlich, dem das Blauhemd mächtig über seinem Bierbauch spannte. Wie sich später herausstellen sollte, war Born ein gemütlicher und trinkfester Kerl.

Sobald alle Autoren da wären, ginge es in den Spreewald nach Prieros, in ein Schulungsheim der FDJ, sagte Born. Da hätte man drei Tage lang Zeit, sich zu beschnuppern und die Mentoren näher kennenzulernen.

Von Zeit zu Zeit betrat er den Warteraum, sah in die Runde und prüfte, ob noch jemand dazugekommen sei, und nachdem er das letzte Häkchen hinter den letzten Ankömmling auf seiner Namensliste gemacht hatte, sagte er: „Auf geht’s. Draußen steht der Bus, der uns nach Prieros bringt.“ Das Schulungsheim war früher der Sommersitz von Wilhelm Pieck gewesen, und das gepflegte Grundstück mit den drei Flachbauten, die u-förmig angeordnet waren, lag inmitten einer Kiefernlandschaft. Es gab sogar einen Swimmingpool.

Nachdem man die Zimmer bezogen und sich etwas frisch gemacht hatte, traf man sich in einem hellen, geräumigen Speiseraum zu einem kleinen Empfang.

Als Leiter der Jury beglückwünschte Claus Hammel alle eingeladenen Autoren. Von der Vergabe von Preisen und einer Rangfolge der eingereichten Arbeiten habe man abgesehen, sagte Hammel, was bei Wolfgang und den anderen Autoren auf Verwunderung stieß. Denn hatte nicht jeder darauf gehofft, den Wettbewerb für sich entschieden zu haben?

Alle Arbeiten seien vielversprechende dramatische Entwürfe, die innerhalb der nächsten Zeit zu aufführungsreifen Theaterstücken entwickelt werden sollten, erklärte Hammel. Statt eines Preises, mit dem ein Autor, der fürs Theater schreiben wolle, nichts anfangen könne, bekomme jeder der Anwesenden einen Mentor, der ihm helfen werde, das eingereichte Stück zur Bühnenreife zu bringen.

An dieser Stelle seiner Rede stellte Claus Hammel seine fünf Mitstreiter vor, alles erfahrene Theaterleute, die in Rostock, Berlin, Schwerin, Magdeburg und Erfurt als Regisseure arbeiteten.

Jeweils ein Mentor betreue drei Autoren, sagte Hammel, der mit Blick auf die gängige Theaterpraxis ungewöhnlich scharf formulierte: „Wir lassen nicht zu, dass talentierte Autoren, die fürs Theater schreiben wollen, von den kleinen Scheißern am Theater, den Dramaturgen, kaputt gemacht werden.“

Schon von daher sei der „Arbeitskreis Dramatik“, dessen Mitbegründer und Leiter er sei, dringend notwendig, meinte Hammel. Dieses Bündnis von erfahrenen Theaterleuten und talentierten Autoren, das es in dieser Form bisher nicht gegeben habe, stelle ein erfolgversprechendes Modell dar.

Nachdem er die Aufgaben des „Arbeitskreises Dramatik“ kurz umrissen hatte, griffen alle nach den Sektgläsern, die auf der weiß eingedeckten, langen Tafel vor sich hin perlten, und stießen auf gutes Gelingen an.

Es war ein schönes Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören, die man zu Theaterdichtern (sprich: Stückeschreibern) machen wollte, dachte Wolfgang, der dem prickelnden Sekt, in dem sich das Nachmittagslicht brach, kräftig zusprach. Auch hatte er den Eindruck, dass er mit Landowsky, der ihm als Mentor zugeteilt worden war, ein gutes Los gezogen hatte.

Landowsky war Oberspielleiter in Erfurt und hatte mit einer Reihe von Shakespeare-Inszenierungen für republikweites Aufsehen gesorgt. Dass Wolfgang an solch einen erfolgreichen Regisseur gekommen war, der sich zudem noch gut mit Hammel verstand, freute ihn. Von daher, glaubte Wolfgang, habe er gute Karten, dass aus seinem dramatischen Versuch bald ein bühnenreifes Stück werde. Dass Landowsky im Umgang mit Gegenwartsautoren seine Erfahrungen hatte und taktisch ungemein klug bei seiner Stückkritik vorging, zeigte sich schon im ersten Gespräch, das Wolfgang mit ihm hatte.

„Ihre rhythmische Begabung ist groß“, sagte Landowsky. „Viele Sätze scheinen in einem Versmaß geschrieben zu sein. Behalten Sie das auf jeden Fall bei“, und dass er Wolfgang in diesem Zusammenhang mit Volker Braun und Heiner Müller verglich, erfüllte diesen mit Stolz. „Der Rhythmus und Gestus Ihrer Sprache gefällt mir an Ihrem Stück am besten“, sagte Landowsky und kam von der Form auf den Inhalt zu sprechen.

„Der Ausgangspunkt Ihres Stücks jedoch ist gewagt“, meinte er. „André lehnt den Weg ab, den in unserer Republik Zehntausende junger Menschen gehen. Der Autor, also Sie, erklären sich eindeutig solidarisch mit dem Helden. Von daher gibt es eine Reihe von Fragen: Lehnen Sie den normalen Weg über Lehre oder Oberschule ab? Halten Sie den Weg für falsch? Oder beschreiben Sie in Ihrem Stück die Entwicklung eines Außenseiters in unserer sozialistischen Gesellschaft?“

„Für mich ist André kein Außenseiter. Er ist vielmehr ein junger Mensch, der das Abenteuer sucht und erst durch harte Erfahrungen seinen Weg in der Gesellschaft findet.“

„Dann müssen Sie das auch zeigen“, sagte Landowsky. Der Hauptmangel des Stücks bestehe darin, dass der Zuschauer zu wenig gezeigt bekomme, durch welche Auseinandersetzungen oder Ereignisse André beeinflusst werde.

„Ich bekomme immer nur das Resultat der Veränderung mitgeteilt, aber nicht den Prozess“, kritisierte er. „Ihr Stück ist eigentlich eine gute Vorarbeit für einen Roman. Ich meine Ihre Fähigkeit, Vorgänge episch zu fassen. Sie malen die Stationen der Handlung sehr plastisch aus, aber Sie zeigen nicht die Momente der Auseinandersetzung.“ Alles sei ausgezeichnet geschrieben, aber ohne dramatische Höhepunkte, so Landowsky am Ende des ersten Gesprächs. „Natürlich lässt sich der Stoff dramatisch behandeln. Aber ich wollte Sie auf die Schwächen und Stärken des Stoffes und der Behandlung durch Ihre Führung aufmerksam machen“, fügte er hinzu und schloss die Kladde mit dem Manuskript, die während des Gesprächs offen auf dem Tisch gelegen hatte. „Wir sollten auf jeden Fall überlegen, wie aus diesem Stückentwurf ein echtes Drama werden könnte.“

 

Als sie sich am nächsten Abend auf den großen, weichen Ledersesseln im Kaminzimmer gegenüber saßen und tüchtig dem Braunen zusprachen, Schnaps der Marke „Goldkrone“, den Hammel ausgegeben hatte, erzählte Wolfgang, wie er nach Schwedt gekommen war und dass sein Stück autobiografische Wurzeln habe. Er berichtete vom Ohrenabschneiden im Suff und beschrieb eine der Mutproben, die einem jungen Kerl den Kopf gekostet hatte. Zu nächtlicher Stunde habe ein Kranfahrer versucht, einem Bauarbeiter mit der Schaufel des Baggers den Helm vom Kopf zu nehmen. Er war aber zu tief gekommen und hatte dem Bauarbeiter den Kopf abgeschert.

Solche Dinge seien hochdramatisch und müssten unbedingt in das Stück eingebaut werden, Landowsky kam ins Fabulieren: „Statt der Befindlichkeiten eines Abiturienten könnten die Schwierigkeiten beim Verändern der Welt und das große Abenteuer auf einer sozialistischen Großbaustelle hautnah und exemplarisch gezeigt werden.“ An der Exposition des Stücks, die von Andrés Gesprächen mit seinen Eltern und dem alten Linke bestimmt würden, könne festgehalten werden. Auch die Figuren Irene, Frank und Helga könnten erhalten bleiben. Das bisherige Figurenensemble müsste nur durch eine originelle Brigade personell erweitert werden.

„Ich hatte zwar nicht vor, eines der üblichen Brigadestücke zu schreiben“, sagte Wolfgang. „Aber denkbar wäre es schon, eine Brigade auf die Bühne zu bringen, die Andrés Entwicklung entscheidend beeinflusst.“

Landowskys Rat befolgend, arbeitete Wolfgang das Stück vom Herbst bis in den Winter hinein grundlegend um. Er erfand eine Brigade, die aus originellen Typen bestand, wie er meinte: Da war der kinderlose Brigadier Massig, der sich rührend um Achim, einen Waisen kümmerte. Da war der kauzige Steinesammler Simmel, der sich der neuen Technik verweigerte, und da war Böhlke, der Frauenheld, der seiner Unterhaltspflicht nicht nachkam und deshalb für gehörig Streit in der Brigade sorgte.

Aus André, dem Außenseiter, versuchte Wolfgang einen Mitgestalter der Gesellschaft zu machen, der durch das Abenteuer Schwedt und die Begegnung mit der Brigade zur Einsicht kommt, dass er ein Maschinenbau-Studium aufnehmen muss, damit er später als Bauleiter den Einsatz der modernen Technik bestens beherrscht.

Wolfgang glaubte, alles berücksichtigt zu haben, wozu Landowsky geraten hatte, und als er zwischen den Weihnachtsfeiertagen die neu geschriebenen Szenen durchkorrigierte, hatte er ein gutes Gefühl. Die Auseinandersetzung Andrés mit Frank, der ein übler Karrierist war, hielt Wolfgang dramatisch für gelungen, weil in dieser Szene mit der Scheinmoral in der Gesellschaft hart ins Gericht gegangen wurde.

Am Silvestertag verschnürte Wolfgang das Manuskript wie ein Heiligtum und schickte es als verspätetes Weihnachtsgeschenk an Landowsky.

Anfang Januar brachen für Wolfgang und Heidi eisige Zeiten an. Draußen war es klirrend kalt, und ihre Wohnung war nur sommertauglich. Wolfgang stand drei Mal in der Nacht auf und warf ein paar Kohlen in den kleinen Ofen, damit es am Morgen einigermaßen erträglich war. Aber trotz des dreimaligen Nachlegens waren die Fensterscheiben am nächsten Morgen bis obenhin zugefroren, und ein Sichtloch musste gekratzt werden, wollte man sehen, was draußen los war.

So war es kein Wunder, dass nach einem viertägigen Kälteeinbruch die Wasserleitung in der Küche eingefroren war und der alte Kaiser, der Mann für alle Fälle, geholt werden musste.

„Kein Problem“, sagte er, zog an seiner Stummelpfeife und machte sich daran, die Wasserleitung aufzutauen.

Im Feuerwehrraum, der direkt unter der schmalen, langen Küche war, nahm er einen kleinen Kanister und goss Benzin über ein Bündel Rohrleitungen, die sich in einem Zementviereck befanden, das in die Erde eingelassen war.

Das Verteilerstück aus Plaste begann zu schmoren. Als durch die Küchendielen der erste Qualm kam, rannte Wolfgang hinunter in den Feuerwehrraum. Er riss den Feuerlöscher von der Wand und half dem alten Kaiser beim Löschen.

„Das Wasser läuft wieder“, schrie Heidi vom Küchenfenster aus dem alten Kaiser zu.

„Ist ja gut, wenn’s wieder läuft“, sagte der Alte und ging seiner Wege.

Kaum war der alte Kaiser abgezogen, rief die Briefträgerin aus dem dunklen, winterkalten Hausflur: „Post!“ Wolfgang sprang wie angestochen die schmale, hohe Treppe hinunter. „Vom Theater in Erfurt“, sagte die Postfrau. „Darauf habe ich schon lange gewartet“, hoch erfreut riss Wolfgang ihr den Brief aus der Hand.

Er stürmte ins Wohnzimmer, ließ sich auf einen der Drehsessel fallen und begann Landowskys Brief zu lesen, der mehr und mehr einem Verriss gleichkam: „Der Streit zwischen André und der Brigade über Kultur ist gut geschrieben, aber ist er auch kulturpolitisch wichtig? Wollen Arbeiter wirklich nur Sonntagsfahrten und eine Leinwand mit viel Fleisch?“, schrieb Landowsky. „Natürlich gibt es solche Bauarbeiter – aber welche sind für unsere Zeit und unseren Weg typisch? Stinkt die Moral der Arbeiter wirklich so?“ Wolfgang las immer hastiger: „So geht meiner Meinung nach die große Anklage des André nicht. André klagt nicht nur die Arbeiter an, sondern es scheint, Sie – der Autor – klagen die Arbeiterklasse in der DDR überhaupt an. Auch schmeckt mir die ganze Brigade nicht: von fünf Personen sind bei Ihnen drei ausgemachte Schweinehunde. Die Brigade ist nicht typisch für unser Leben. Statt Menschen aus Fleisch und Blut versuchen Sie, ein Lebensprinzip zu beschreiben, und ich habe Sie im Verdacht, dass Sie das Prinzip der ewigen Veränderung, der Unruhe, der Auflösung des Bestehenden beschreiben wollen.“ Wolfgang blätterte atemlos um und las weiter. „Gravierende Fehler machen Sie auch beim Figurenaufbau: André ändert sich, während der Karrierist Frank, Andrés Gegenspieler, immer ekelhafter wird. Frank ist ein Brunnenvergifter, aber keine lebendige Theaterfigur. An welcher Universität hat der eigentlich studiert, fragt man sich. Und was ist das für ein sozialistisches Land, wo Studenten zu solchen Schweinen erzogen werden? Da stimmt es eben in Ihrer Dramaturgie noch nicht.“ Im letzten Satz schrieb Landowsky: „Schreiben Sie doch über Menschen aus Ihrem Leben, mit all ihren Fehlern und Schwächen. Und denken Sie dabei an die dialektischen Grundregeln ...“

Enttäuscht legte Wolfgang das vernichtende Urteil Landowskys aus der Hand. Nie mehr würde er das Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“ in die Hand nehmen, nahm er sich vor.