Gut, mensch zu sein

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Politisch unkorrekt

Es gibt Entscheidungen im Leben, die einem schwerer fallen als andere. Meine Entscheidung, ein Versprechen zu brechen, das ich einem hohen Beamten des Innenministeriums gegeben hatte, fiel definitiv in erstere Kategorie.

Juni 2015 in Traiskirchen. Die Uhr in meinem Auto zeigte 14:34 Uhr, als mein Navi mich in die Otto-Glöckel-Straße 24 zur sogenannten Erstaufnahmestelle Ost des Bundesministeriums für Inneres lotste. Wenn es einen Ort in Österreich gibt, an dem man die Flucht- und Migrationsgeschichte unseres Landes wie an Jahresringen eines Baumes abzählen kann, dann ist es dieses weitläufige Kasernenareal, 20 Autominuten außerhalb von Wien. Zuerst k.u.k. Artillerie-Kadettenschule, später Bundeserziehungsanstalt und Kaderschmiede der Nazis, nach dem Krieg Lazarett und seit Bestehen der Zweiten Republik schließlich Flüchtlingslager – seit vielen Jahrzehnten also erste Adresse für geflüchtete Menschen in Österreich. Nach dem Volksaufstand in Ungarn 1956 war das so, nach dem Prager Frühling 1968 und vor allem auch nach den Kriegen in Bosnien und dem Kosovo. 2015 waren es vor allem die Konflikte in und um Syrien, der Krieg in Afghanistan und die gekürzten Essensrationen in den großen Flüchlingslagern, verursacht durch die fehlende internationale Hilfe, die Traiskirchen füllten. Seit Wochen geisterten Meldungen durch die Nachrichten, wonach die Erstaufnahmestelle völlig überlastet wäre. Allein: Journalistinnen und Journalisten waren in Traiskirchen unerwünscht, Bilder aus dem Inneren des Lagers drangen nicht nach außen – so wie heute Bilder aus den griechischen Flüchtlingslagern auf Lesbos mittels Geldstrafen unterbunden werden sollen. Ganz so, als sollte es entweder „hässliche Bilder“ oder – noch besser! – gar keine geben.

Als ich endlich einen Parkplatz gefunden hatte, klopfte ein junger Bursche an das Fenster meines Autos: „Do you have a cigarette forme, please?“ Ich reichte ihm eine Zigarette, zündete mir selbst eine an. Ja, ich hatte wieder zu rauchen begonnen. Vor einigen Wochen auf dem sogenannten Schiffsfriedhof in Sizilien war ich rückfällig geworden. An einem Strand, an dem dutzende gekenterte Flüchtlingsboote im Sand steckten, hatte ich mir die erste Zigarette nach langer Zeit angesteckt. Viel Stress und viel Emotion heißt in meinem Fall leider auch oft: viel Nikotin. Und auch an diesem sonnigen Juni-Nachmittag sollte ich angesichts der Bilder, die mich im Innern des Lagers erwarteten, noch viele Zigaretten rauchen. In Wahrheit rauchte ich das ganze Jahr hindurch. Denn was auf meinen Besuch in Traiskirchen folgte, waren Wochen und Monate harter politischer Auseinandersetzungen. Was folgte, war eine unwürdige Herbergssuche von geflüchteten Menschen in unserem Land und im Herbst 2015 schließlich eine Solidaritätskrise innerhalb Europas. Menschen auf der Flucht, die sich zu Hunderttausenden und zum Teil zu Fuß auf den Weg durch halb Europa machten. Dieser Herbst wurde für Österreich und Europa in vielerlei Hinsicht zum Wendepunkt. Spielfeld und Nickelsdorf. Der Kühl-Lkw bei Parndorf mit 71 Toten. Alan Kurdi, der kleine syrische Bub, der im Alter von zwei Jahren im Mittelmeer auf der Flucht ertrank und dessen Leichnam an einem Strand nahe Bodrum am 2. September 2015 angespült wurde. Die Bahnhöfe und die Überforderung der Behörden. Doch all das war an diesem Juni-Nachmittag in Traiskirchen noch weit entfernt. Hier stand ich nun: gemeinsam mit Kardinal Christoph Schönborn und dem leitenden Beamten des Lagers. Der Kardinal bat um einen Termin in der Erstaufnahmestelle, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Ich bot mich kurzerhand an, ihn zu begleiten. „Fotografieren ist hier verboten. Wir müssen unter allen Umständen die Privatsphäre der Leute schützen“, sagte der Verantwortliche der Erstaufnahmestelle zu Beginn unserer Führung durchs Lager. Ich willigte ein …

In den vergangenen 13 Jahren, seit ich für die Caritas tätig und im Einsatz bin, hatte ich oft mit Politikerinnen und Politikern unseres Landes zu tun. Mit Ministerinnen und Ministern und mit ihren Beamtinnen und Beamten. Mit Bürgermeistern (meist Männern) und Landespolitikerinnen und Landeschefs (auch sie fast ausschließlich männlich). Es ist Teil des Jobs. Unser Motto: so viel Zusammenarbeit wie möglich, so viel Kritik wie nötig. Unser Ziel: das Leben der Menschen, für die wir uns einsetzen, zu verbessern. Wir stoßen mit unseren Anliegen und Ideen dabei erfreulicherweise deutlich häufiger auf offene als auf verschlossene Türen. Meist verlaufen diese Gespräche mit Verantwortungsträgern konstruktiv, nur in seltenen Fällen findet man sich – ob gewollt oder nicht – auch als Gegenspieler der Politik wieder. Letzteres geschah häufiger in diesem Schicksalsjahr 2015 – auch infolge meines Besuchs in Traiskirchen. So war es aber auch schon früher gewesen, als die Stadt Wien etwa den Wiener Stadtpark von Obdachlosen räumen ließ. Oder einige Jahre später, als wir von Teilen der Bundesregierung heftig und über Monate hinweg attackiert wurden. Wir hatten es damals gewagt, Kritik am politischen Umgang mit armutsbetroffenen Menschen zu üben – Stichwort: „soziale Hängematte“.

Bei all diesen Gelegenheiten erhielt ich Einblicke in den politischen Maschinenraum unserer Republik. Im Zuge der Ereignisse 2015 erlebte ich etwa einen schreienden Kabinettsmitarbeiter am Telefon, der sich wenig Mühe gab, seine Drohungen meiner Person gegenüber zu verklausulieren. Einen Minister, der mich wegen meiner Wortmeldungen in der Öffentlichkeit mit unterdrückter Nummer anrief, um zu erfragen, wer mich eigentlich beauftragt habe, ihn „fertigzumachen“. Ich begegnete vielen Menschen aus dem Politikbetrieb mit dem ehrlichen Anliegen, Dinge zum Positiven verändern zu wollen. Ich erlebte ebenso, wie mit Stimmung Stimmen gemacht werden und wie sich engagierte Politikerinnen in unseren Einrichtungen auch von vorhandener Not abseits von Scheinwerfern und Blitzlicht berühren lassen. Ein jovialer (und hochrangiger) ehemaliger Landespolitiker erklärte – in der Annahme, witzig zu sein – bei einem öffentlichen Termin vor knapp 50 Gästen, dass er mich und unsere Arbeit zwar schätze, dass es aber auch schon unzählige Gelegenheiten gegeben habe, bei denen er mir „gerne mit einer Glasscherbe das Gesicht rasiert“ hätte. Und eine Ministerin traf ich vor Jahren am Neujahrstag spontan und privat, weil sie meine Position in einer öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung im Nachhinein ehrlich besser verstehen wollte. Ich erlebte Höflichkeiten und konstruktive Gespräche auf Polit-Gipfeln und an Runden Tischen, aber auch Niederträchtigkeiten und schwere Fouls in der politischen Bassena. Kurzum, ich machte die Erfahrung: Politikerinnen und Politiker sind auch nur Menschen. Aber um auch das klar zu sagen: Unterm Strich überwiegt mein Respekt für die Arbeit, die sie Tag für Tag leisten. Die Verantwortung, die sie tragen. Der Druck, dem sie ausgesetzt sind. Ich möchte nicht tauschen. Doch seit den Erfahrungen aus dem Jahr 2015 merke ich, wie ich bis heute öfter als zuvor an der Politik verzweifle.

Bereits wenige Minuten, nachdem unsere Führung durch die Erstaufnahmestelle begonnen hatte, wurde mir klar, worum es dem Leiter des Lagers wohl tatsächlich ging, als er sagte, wir sollten auf keinen Fall Fotos machen, um die „Privatsphäre der Leute“ zu schützen. Das Bild, das sich dem Kardinal und mir bot, war verheerend. Es war ein humanitärer Skandal: Knapp 3.000 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt in Traiskirchen untergebracht. Knapp ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Aber nur für 1.800 Menschen gab es einen „festen Schlafplatz“. 480 Personen waren seit Kurzem auf dem nahen Ausbildungsgelände der Polizei in Zelten untergebracht, erzählte der Beamte. „Wo schlafen die anderen Menschen?“, fragte ich irritiert. „Für 700 Leute gibt es aktuell weder Betten noch Matratzen. Am Abend lasse ich die Garagen, Wartesäle und den Kindergarten öffnen. Hinlegen darf man sich dort aufgrund der gesetzlichen Vorgaben und Auflagen nicht. Doch die Leute sind zum Teil völlig erschöpft und legen sich natürlich mit Decken auf den harten Boden oder schlafen im Sitzen ein.“ Beim Rundgang über das Gelände beobachteten wir ewig lange Schlangen bei der Essensausgabe, weinende Kinder und fast unter jedem Baum schliefen Menschen unter freiem Himmel. Daneben weiße Zelte, wie ich sie sonst nur aus Flüchtlingslagern im Libanon oder in Jordanien kannte. Und das Ganze mitten in Österreich – einem der wohlhabendsten Länder dieser Welt. Insgesamt waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Erstaufnahmestelle durchaus bemüht, das Beste aus der Situation zu machen. Aber wie sollten sie die Versäumnisse der verantwortlichen Politiker nur ansatzweise kompensieren? Es wollte jedenfalls nicht in meinen Kopf: 700 obdachlose Menschen in einer von der Republik Österreich geführten Flüchtlingseinrichtung. Während 75 Prozent der österreichischen Gemeinden zum damaligen Zeitpunkt keinen einzigen Asylwerber bei sich aufgenommen hatten, schliefen Kinder hier unter freiem Himmel. Das war mir zu viel.

Ich ließ mich allmählich zurückfallen und begann, mit meinem Handy heimlich zu fotografieren und somit mein Versprechen bewusst zu brechen. Im Beisein des Kardinals hielt ich nicht Wort und verstieß gegen eine Vorschrift. Ich hatte Gewissensbisse und haderte damit. Doch intuitiv sah ich mich zu diesem Akt des zivilen Ungehorsams gezwungen. Am nächsten Morgen postete ich meinen Bericht samt Belegungszahlen und Fotos auf Facebook in der Hoffnung, dass sich etwas zum Positiven verändern würde. In der Hoffnung, dass Bund, Länder und Gemeinden endlich so etwas wie einen nationalen Aktionsplan Asyl ausrufen und die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen würden. In der Hoffnung, dass sich weitere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in ganz Österreich finden würden, die schutzsuchende Frauen, Männer und Kinder bei sich aufnahmen.

 

Es war einer jener Augenblicke, in denen der Caritas im Allgemeinen und mir im Speziellen vorgeworfen wird, „zu politisch“ zu sein. Jene Tage und Wochen, in denen etliche Politikerinnen und Politiker hochrangigen Kirchenvertretern ausgedruckte Tweets und Presseaussendungen von mir vorlegten, weil sie glaubten, mich damit „zur Vernunft“ bringen oder, noch besser, ruhigstellen zu können. Ich lernte damals, dass Druck immer Gegendruck erzeugt und dass vielen eine kirchliche Hilfsorganisation lieber wäre, die sich still um Ausspeisungen von in Not geratenen Menschen kümmert. Stumm, wenn es eigentlich darum geht, auch die Ursachen der Not konkret zu benennen. Frei nach dem Motto: „Hände falten, Gosch’n halten“ und Suppe schöpfen. Dabei gehört es zu unserem Kernauftrag, uns auch einzumischen. „Nur eine lästige Caritas ist eine gute Caritas“, ruft Kardinal Schönborn regelmäßig öffentlich in Erinnerung. Das Evangelium ist kein Parteiprogramm. Wir sind weder türkis oder schwarz noch rot oder blau, nicht grün oder pink – unser Auftrag ist kein parteipolitischer, sondern ein gesellschaftspolitischer. Wir wollen nicht an der Seite irgendeiner Partei, sondern an der Seite jener Menschen stehen, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Ganz gleich, ob pflegebedürftig, geflüchtet, obdachlos oder armutsbetroffen. Ganz egal, ob hier bei uns oder in anderen Teilen der Welt. Doch diese anwaltschaftliche Aufgabe, die zweite wesentliche Säule unserer Arbeit, ist vielen Politikern bis heute suspekt und verdächtig.

Ich erinnere mich besonders gut an die Auseinandersetzungen rund um Weihnachten 2018 – wenige Monate nach der Angelobung der damaligen Bundesregierung. Ein Interview, das wir kurz vor Weihnachten gegeben hatten und in dem wir Kritik am Umgang der Regierung mit armutsbetroffenen Menschen geübt und den politisch Verantwortlichen ein „Empathiedefizit“ attestiert hatten, wurde von den jungen Vertretern der noch jungen Regierung zum Anlass genommen, eine regelrechte Kampagne gegen die Caritas und andere Hilfsorganisationen zu führen. Wir kritisierten damals die drohenden Kürzungen im Bereich der Mindestsicherung – des letzten sozialen Netzes – und wurden umgekehrt für unseren Einsatz für geflüchtete Menschen diffamiert. Die Stimmungsmacher in der Regierung wechselten also kurzerhand Thema und Spielfeld, streuten Nebelgranaten, lenkten von der Armutsfrage ab und versuchten uns stattdessen einmal mehr als naive „Willkommensklatscher“ abzustempeln. Wir waren in der Vergangenheit immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt, aber erstmals waren es die Spitzen der Regierung selbst, die über Wochen hinweg die Legitimität zivilgesellschaftlicher Kritik grundsätzlich infrage stellten – „NGO-Wahnsinn“ inklusive. In Interviews und in den sozialen Medien wurde mal dezent, mal sehr brachial Stimmung gemacht – von Verantwortlichen beider Regierungsparteien. Es war in jener Zeit, in der auch kritisch berichtende Medien von der Politik immer offener unter Druck gesetzt und in Zweifel gezogen wurden. Ein Hauch von Trump und Orbán wehte damals und in Wahrheit bis heute durch unser Land. Der politische Diskurs wurde zunehmend rauer und politische Parteien standen sich zuallererst verfeindet gegenüber. Ich kann an der Stelle weniger für die Caritas als für mich selbst sprechen, wenn ich sage: Die Brutalität, mit der Einzelne diese Angriffe vornahmen, verfehlte ihre Wirkung nicht. Zumindest vorübergehend nicht. Ich brauchte Zeit, um meine Schlüsse daraus zu ziehen. Und ich brauchte wohl auch Zeit, um etwa mit derselben Entschiedenheit wie zuvor wieder für die Anliegen schutzsuchender Menschen einzutreten – ganz einfach, weil mich die Situation verunsicherte und das Ausmaß der Angriffe auch an meinen Kräften zehrte.

Mein Blick auf die Politik veränderte sich. Bis heute anerkenne ich die Arbeit, die im politischen Betrieb für das Wohl der Menschen in unserem Land geleistet wurde und noch immer geleistet wird. Jetzt während der Corona-Krise, aber auch im Blick zurück auf die vergangenen Jahrzehnte, in denen es gelang, ein dichtes Netz des sozialen Ausgleichs und der Achtsamkeit zu weben. Gemeinsam ist in diesen Jahrzehnten verdammt viel weitergegangen. Unser Land erlebte Jahrzehnte des Wohlstands und des sozialen Zusammenhalts. Wir lernten den Wert des politischen Kompromisses schätzen – also die Fähigkeit, ein und dieselbe Sache aus verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven zu betrachten, zu bewerten und gemeinsam zu entscheiden. Unter dem Eindruck von Krieg und Lagerstraße stärkten wir die wechselseitige Dialogbereitschaft und versuchten das Verständnis füreinander zu schärfen. Ja, auch ich weiß, dass Proporz und Kammernstaat im Rückblick besser nicht verklärt und zum Himmel auf Erden hochgejazzt werden sollten, dass vieles zäh, intransparent und mit der Zeit auch anachronistisch war. Doch letztlich hielt dieser Gedanke große und weite Teile der Gesellschaft zusammen und im Gespräch. Aber plötzlich war vieles davon nur mehr sehr wenig wert.

Schuld an allem ist die Politik! Das wäre viel zu einfach. Nichts liegt mir ferner, als in bloßes Politikbashing zu verfallen. Aber damals – im Winter 2018/2019 – erlebte ich hautnah, dass Politik vor allem immer eines zum Ziel haben muss: die Durchsetzung und Akkumulation von Macht und Hegemonie im öffentlichen Diskurs. Es wäre naiv zu glauben, dass das früher einmal anders war. Neu war jedoch, dass viele Hemmungen bei der Wahl der Mittel gefallen schienen – nicht nur, weil NGOs kritisiert wurden (das halten wir schon aus), sondern weil auch Parteien der Mitte dazu übergingen – wie in anderen entwickelten Ländern der Welt auch –, die Glaubwürdigkeit seriöser Medien zu untergraben und sich immer mehr von jenem „System“ zu distanzieren, dem sie selbst so lange noch erfolgreich angehört hatten. In Opposition zur eigenen Vergangenheit und zum eigenen Land. Neuer Stil in alten Schläuchen.

Tatsächlich bin ich bereits einige Male gefragt worden, ob ich mir einen Wechsel in die Politik vorstellen könnte. Für unterschiedliche Parteien zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zwei Mal wurde es tatsächlich konkret. Und auch wenn ich diese Option für mich nicht für alle Zukunft ausschließen möchte, bin ich doch froh, diesen Schritt bislang nicht gesetzt zu haben. Zwar hätte mich die Vorstellung durchaus gereizt, die Erfahrungen, die ich als Verantwortlicher einer Hilfsorganisation mache, auch ganz unmittelbar in den politischen Prozess einfließen zu lassen, doch am Ende ließ mich stets etwas zögern. Vielleicht war es die Stimme meines Vaters, der mich schon in jungen Jahren davor warnte, mir einen Stempel aufdrücken zu lassen. Vielleicht ist es mein starker Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit. Vielleicht aber waren es auch die Gespräche mit ehemaligen Politikerinnen und Politikern, die ich geführt habe und in denen diese erklärten, wie froh sie wären, diesen Kräften nicht mehr ausgesetzt zu sein. Und tatsächlich: Ich möchte nicht mit ihnen tauschen. Ich beneide sie nicht. Nicht um die Zwänge, denen sie ausgesetzt sind, nicht um den immensen Druck, dem sie standhalten müssen, die flüchtigen Allianzen, nicht um den doppelten Boden, auf dem sie stehen, nicht um die Posen, die sie einnehmen (müssen). Ehrlicherweise füge ich hinzu: Ich beneide sie aber auch nicht um die permanente Kritik, der sie sich gegenübersehen. Der Kritik des politischen Gegenübers, der Expertinnen und Experten, der Medien – nicht zuletzt auch jener von Stimmen aus der Zivilgesellschaft. Stimmen wie meiner. Auch wenn wir immer wieder bemüht sind, politische Fortschritte, die aus unserer Sicht für Menschen in Notsituationen erzielt wurden, als solche zu benennen, so sind es doch zuallererst die kritischen Töne, die gehört und medial verstärkt werden. Und vermutlich bin es auch ich selbst, der im Wissen um Letzteres, großzügiger Kritik austeilt, als Anerkennung zu zollen. Kompromisslos vorgetragen – kompromissloser, als es Politikerinnen und Politiker, die zumindest in der Theorie stets die Interessen vieler vor Augen haben sollten, können.

Eine jener Frauen, die mich in den vergangenen Jahren stark geprägt hat, war Gertrude Pressburger – der breiten Öffentlichkeit als „Frau Gertrude“ bekannt. Jene 93 Jahre alte Holocaust-Überlebende aus Wien, die sich im Jahr 2016 in der entscheidenden Phase des Bundespräsidenten-Wahlkampfes mit einem viel geteilten Video zu Wort meldete und darin vor einer Politik warnte, „die das Niedrigste und nicht das Anständige aus den Menschen herausholt“. Ich lernte Gertrude bereits kurz vor ihrem öffentlichen Auftritt auf einer Veranstaltung kennen. Wir kamen ins Gespräch und haben uns seither immer wieder getroffen. Gertrude und ich sind Freunde geworden. Ihre Worte haben mich wie viele andere auch sehr bewegt. Und es wäre jetzt ein Leichtes, ihre Worte zu nehmen und damit auf aktive Politikerinnen und Politiker hinzuweisen. Ich glaube, Gertrudes Worte gelten auch mir und uns allen.

Auch eine kirchliche Hilfsorganisation ist nicht unfehlbar. Auch wir können irren. Wenn unsere Kritik pauschal ist oder überzogen, wenn wir zu moralisierend auftreten, wenn wir bestehende Fronten verhärten, statt aufeinander zuzugehen. Ich nehme für unsere Organisation in Anspruch, dass uns diese Gratwanderung in der Regel gut gelingt. Doch auch uns – und mir persönlich – können Fehler passieren. An zwei erinnere ich mich konkret.

Als sich im Frühjahr 2015 das bisher größte Flüchtlingsunglück im Mittelmeer ereignete, ein Boot mit mehr als 700 Menschen vor Lampedusa kenterte und innerhalb von nur zehn Tagen mehr als 1.000 Menschen an der südlichen EU-Außengrenze starben, sah ich rot. Wie so viele andere Menschen auch war ich entsetzt und fassungslos. Ich fasste kurzerhand den Entschluss, eine Gedenkveranstaltung am Minoritenplatz in der Wiener Innenstadt zu organisieren. Gemeinsam mit mehreren Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen luden wir zu einer „stillen Kundgebung“ auf den Platz zwischen Innen- und Außenministerium. Über 4.000 Menschen versammelten sich, Bundespräsident Heinz Fischer hielt eine Rede, die gesamte Bundesregierung nahm teil. Gemeinsam mit der Journalistin Corinna Milborn moderierte ich diese Trauerfeier. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: an den Stress. An die Emotionen. Die Bühne musste in kürzester Zeit organisiert werden, ein Programm gestaltet, die Veranstaltung angemeldet und die Rednerliste abgestimmt werden. Besonders wichtig war mir damals, dass auch möglichst viele Politikerinnen und Politiker vor Ort waren. Sie sollten sehen und hören, spüren und fühlen, dass es uns nicht egal sein kann, wenn tausende Menschen im Meer vor den Toren Europas ertrinken und wenn jenes Meer, an dem wir im Sommer so gerne unsere Urlaube verbringen, von Woche zu Woche mehr zu einem Massengrab wurde. Als Corinna Milborn und ich die Bühne betraten, sah ich tausende Menschen dicht gedrängt auf dem Platz. Nicht nur die Trauer, auch die Empörung der Anwesenden war groß, meine eigene Empörung war vielleicht noch größer. Noch nie hatte ich vor so vielen Menschen gesprochen und so redete ich mich in Rage. Ich sprach von einer „Schande für Europa“, von der Verantwortung der österreichischen Bundesregierung, die mitschuldig sei, die das Massensterben im Mittelmeer nun endlich beenden müsse. In der Menge sah ich an einer Stelle meinen kleinen Sohn, der mir auf den Schultern meines Bruders zulächelte und winkte. Weiter hinten im Publikum die politischen Spitzen der Republik mit gesenkten Köpfen und betroffenem Blick. Meine Worte ließen keinen Zweifel: Die Politik – auch jene unserer Regierung – traf Schuld. So still, wie es auf der Einladung der Veranstaltung geschrieben stand, lief die Kundgebung jedenfalls nicht ab.

Ich fand mit wenigen Worten Schuldige. So war es auch gewesen, als ich die Spitzen der Wiener Stadtregierung und der Wiener Polizei Jahre zuvor persönlich zur Verantwortung zog, weil obdachlose Menschen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Wiener Stadtpark vertrieben wurden. Ihr ganzes Hab und Gut entsorgt. Obdachlose Menschen auf Basis einer schwindligen Verordnung aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit verbannt. Auch damals ließ ich wenig Zweifel daran, wer diese Räumung zu verantworten hatte – auch damals stellte ich aus meiner Sicht zwar nachvollziehbare, aber auch kompromisslose Forderungen, die sicherstellen sollten, dass eine solche Räumung fortan nicht mehr möglich ist.

 

Ich habe bei diesen Gelegenheiten Konflikte gesucht und dabei die Suche nach Kompromissen und Dialogen aus dem Blick verloren. Das sind Momente, die mir nachträglich leidtun. Weil ich mich am Minoritenplatz und damals im Stadtpark plötzlich außerstande sah, noch den Menschen hinter dem Politiker oder hinter der Politikerin zu sehen. Weil ich in diesen speziellen Situationen vermutlich das Meine dazu beigetragen habe, diese Menschen in eine Ecke zu drängen, in der sie sich selbst nicht nur nicht sahen, sondern aus der sie sich in weiterer Folge vielleicht auch umso schwerer wieder befreien konnten. Ich habe mich an der einen oder anderen Stelle verhärtet, statt im Gespräch zu bleiben. Ganz einfach, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass es im gut geölten Politikbetrieb in der Regel nur zwei Wege gibt, sein Ziel zu erreichen: durch Kampagnisieren oder Antichambrieren. Durch Dialog – oft auch abseits der Öffentlichkeit. Und erst, wenn dieser Weg nicht zum Ziel führt – mit massivem, hartnäckigem und öffentlichem Druck. Doch ich habe gelernt: Druck kann ich auch aufbauen, ohne dass das Gegenüber dabei das Gesicht verlieren muss.

Wenn wir uns eine Politik wünschen, die das Freund-Feind-Denken überwindet und das Gemeinsame vor das Trennende stellt, dann muss dieses Prinzip auch für uns gelten – für die Zivilgesellschaft, für uns alle. Vielleicht wäre es ein Anfang, sich wechselseitig nicht von vorneherein den guten Willen abzusprechen. Dem Gegenüber zuzugestehen, dass er oder sie – bei allem, was einen ideologisch voneinander unterscheiden mag – auch an Lösungen interessiert ist. Raus aus der Dauerempörung, rein in mehr Gelassenheit und Verständnis. Dort die Bösen und hier die Guten – das geht sich nicht aus. Vielleicht habe ich dieses Bild in der Vergangenheit das eine oder andere Mal zu oft gezeichnet. Und vielleicht ist es mir nicht immer gelungen, unserem Grundsatz, das Gegenüber nie persönlich mit unserer Kritik zu adressieren, treu zu bleiben. Hart in der Sache, aber nicht persönlich.

Ich bin überzeugt: Wir brauchen ein neues Miteinander in Gesellschaft und Politik, das den Wert des Kompromisses mit neuem Leben füllt. Kein Zurück zu Proporz und Kammernstaat. Aber ein Zurück zu einer Haltung des wechselseitigen Respekts. Mehr Toleranz vor der Meinung des Anderen, auch wenn ich sie nicht teile. Zurück zu einer Politik, die nicht das Niedrigste, sondern das Anständige aus den Menschen herausholt; die die Bereitschaft zum Dialog nicht aus dem Blick verliert; die Vielfalt und Vielstimmigkeit als Stärke zu nutzen weiß. Eine Politik, die die Antworten auf aktuelle Herausforderungen nicht allein in der Vergangenheit sucht, die Visionen entwickelt anstatt alte Rezepte aufzuwärmen. Zurück zu einer Sprache, die uns nicht in ein „Wir“ und „die Anderen“ unterteilt. Die das Gute in der Gesellschaft nährt und damit den Boden bereitet für eine Kultur der Achtsamkeit und der Solidarität. Kein Schüren von Ängsten, sondern eine Politik, die Hoffnung macht und Zuversicht stärkt. Raus aus den Echokammern, rein ins Gespräch!

Wer auf andere zugeht, kommt ans Ziel. Es mag nicht immer der kürzeste Weg sein, dafür aber ein Weg, der breit getragen wird. Das ist in einer gelingenden Beziehung zwischen zwei Menschen nicht anders als in zukunftsfähigen Gesellschaften insgesamt. In Österreich. In Europa. Und auch im weltweiten Kontext. Wenn es um die Bekämpfung von Armut geht. Um Flucht und Migration. Oder dann, wenn wir nach der Pandemie auch die Klimakrise in den Griff bekommen müssen.

Zukunftsfähig sind wir nur, wenn wir gemeinsame Ziele weiterhin außer Streit stellen und uns darauf einigen können, wofür sich der gemeinsame Einsatz bei aller Unterschiedlichkeit lohnt. Das ist kein Appell, der sich nur an „die da oben“ richtet – er richtet sich an uns alle: An dich. An mich. Wenn ich zuerst die Frage stelle, was mich mit meinem Gegenüber eint – und erst dann, was mich von ihm unterscheidet. Wenn ich versuche, meinen Nächsten richtig zu verstehen anstatt, ihn bewusst falsch zu interpretieren. Brücken dort zu schlagen, wo andere tiefe Gräben ziehen. Wenn wir weiterhin querdenken, ohne dadurch zu Querdenkern zu werden. Kritisch bleiben. Mutig. Mit wachen Augen und einem weiten Herzen. Wie können wir die unteilbare Würde jedes einzelnen Menschen wieder außer Streit stellen? Warum ist es so schwer zu verstehen, dass Menschenrechte ausnahmslos für alle Menschen gelten? Und welche Verantwortung trage ich – tragen wir alle? Die Zukunft, von der wir träumen, wird gestaltet – nicht nur in den Parlamenten und Regierungssitzen, nicht nur alle Jahre wieder an der Wahlurne, sondern Tag für Tag. Wir haben Tag für Tag die Wahl. Die Wahl, uns von Neuem zu entscheiden, aufeinander zuzugehen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Der Leiter der Erstaufnahmestelle Ost des Innenministeriums in Traiskirchen hat es mir im Übrigen bis heute nicht verziehen, dass ich die Bilder aus dem Inneren des Lagers öffentlich gemacht habe. Ich hatte gehofft, dass er meinen Schritt mit zeitlichem Abstand würde nachvollziehen können. Dass auch er rückblickend sieht, dass er – bei allem persönlichen Einsatz und Engagement – zu diesem Zeitpunkt eben nur ein kleines Rad in einem nicht mehr funktionierenden Getriebe war. Nicht Traiskirchen war damals das Problem, sondern der Unwille und die fehlende Bereitschaft von Bund und Ländern, Menschen auch menschenwürdig unterzubringen. Mein Versuch, mich ihm Wochen nach meinem Besuch zu erklären und ihm darzulegen, warum ich tun musste, was ich tat, misslang. Er wollte und konnte mir nicht verzeihen. In seinem kurze Zeit später erschienenen Buch arbeitete er sich an der Caritas, vor allem aber an mir und auch an anderen Hilfsorganisationen ab. Dass die Aussprache nicht gelang, tut mir zwar leid, aber dennoch bereue ich den Schritt von damals nicht. Er ist mir nicht leichtgefallen, trotzdem war er notwendig. Nachdem der Bericht und die Bilder in der Welt waren, nahm die politische Debatte endlich Fahrt auf. Freiwillige Initiativen entstanden. Essen wurde verteilt, Kleidung gesammelt, die medizinische Versorgung wurde ausgebaut. Die Bundesregierung installierte mit Christian Konrad einen eigenen Flüchtlingskoordinator, der mit seinem Team in kurzer Zeit viel voranbrachte und zusätzliche Quartiere organisierte.

Mit Aleyna, einer jungen syrischen Frau, die ich in Traiskirchen kennengelernt habe, habe ich bis heute ein wenig Kontakt. Ich begegnete ihr und ihrem Baby damals auf der Krankenstation in Traiskirchen. Unter Tränen erzählte sie dem Kardinal und mir vom Krieg, von den Toten und von ihrer Flucht über das Mittelmeer. Sie sprach von tagelangen Fußmärschen durch Mazedonien, von kalten Nächten in serbischen Wäldern und von Verhaftungen in Ungarn. Sie wurde von ihrem Mann getrennt. Aleyna und ihr Mann leben heute in Graz, sie haben ein zweites Kind bekommen, sie vermissen ihre Heimat bis heute, aber sind glücklich über ein Leben in Sicherheit hier in Österreich. Über ihre Zeit in Traiskirchen möchten sie heute nicht mehr sprechen.

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