Im Paradies des Teufels

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Eigentlich bestand der große Basar aus vielen Einzelbasaren, die jedoch alle miteinander durch schmale Gassen und Irrwege verknüpft waren.

Die einzelnen Basare wurden im Süden vom Tigris begrenzt und der Rashid bildete die nördliche Grenze. Die Waren wurden den jeweiligen Basaren zugeordnet. So gab es linker Hand des Rashid, zwischen der Ahrar- und der Sabataschbrigde, den Kupfer- und Messing-Souq, den Gold-Souq, den Textil-Souq, danach den Möbel-, Werkzeug-, Hausrat- und den Fahrzeugteile-Souq. Ihnen schlossen sich die Basare für Schuhe, Teppiche, Ziergegenstände, Lederwaren und Kosmetik an, alles unter Arkaden in hunderte Meter langen, verzweigten Gängen.

Bevor man vom Rashid aus in den Basar gelangte, kam man an der Kalifenmoschee in der Khulafa Street vorüber, von deren Minarett der Sage nach der Kalif Harun Al Rashid gemeinsam mit seinem Wesir als Kraniche verwandelt durch das Land flogen, um heimlich vom Volk zu erfahren, was die einfachen Menschen über den Kalif sprachen.

Diese Moschee unterschied sich erheblich von den anderen Moscheen in Bagdad, sie war aus sandfarbenen Steinen gemauert und wies nicht die sonst gebräuchlichen üppigen Farben auf. Die Bauweise dieser Moschee ist im Land einzigartig. Das Minarett wurde 1289 n. Chr. auf die Fundamente der Moschee von 908 n. Chr. gebaut, die Moschee selbst wurde jedoch erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts im maurischen Stil errichtet.

Wir gingen stets zuerst in den Kupfer-Souq, weil man von dort aus alle anderen Basare erreichen konnte. Das Angebot war überwältigend und erstreckte sich von traditionellen bis hin zu individuellen Arbeiten, die auf Wunsch der Kundschaft angefertigt wurden.

Wir suchten in diesem Labyrinth nach jenem Kupferschmied, der auf vielen Ansichtspostkarten Iraks zu sehen war und fanden ihn schließlich tatsächlich durch puren Zufall unter geschätzten zweitausend Kupferschmieden. Er war allerdings inzwischen etwa achtzig Jahre alt, saß auf einem Hocker vor seiner kleinen Werkstatt und diente nur noch als Aushängeschild und Werbefigur für seinen eigenen Laden, den längst sein Sohn führte.

Der einstige Ruhm schien ihn aber nicht reich gemacht zu haben, denn sein Laden war recht armselig, im Gegensatz zu den früheren Fotos.

Nach angemessenem Aufenthalt bei jenem Kupferschmied ließ ich mir bei einem anderen Meister einen großen Wandteller anfertigen, auf den alle von mir gewünschten Motive eingemeißelt wurden.

Es waren Motive des Landes, wie der Löwe von Babylon, der Palast von Ktesiphon, das Spiralminarett von Samarra und der Nimrud von Ninive.

Uns war dieses Geschäft aufgefallen, weil es größer und prächtiger ausgestattet war, als die meisten Läden im Basar. Außerdem lag dieses Geschäft direkt an einem Knick der Gasse und war somit von zwei Seiten einzusehen.

Auch dort bot ich dem Kupferschmied eine Zigarette an und wir bekamen im Gegenzug den obligatorischen Tee, der dieses Mal jedoch nicht vom Händler selbst zubereitet wurde, sondern er bestellte ihn bei einem vorbeilaufenden Jungen, der uns den gesamten Vorgang, vom Zubereiten des Getränks bis zum Einschenken, kunstvoll und mit unglaublichem Geschick zelebrierte. Er spülte die Gläser mit heißem Wasser aus einem umgehängten Thermokanister aus, gab Tee und Zucker in die Gläser und füllte sie mit heißem Wasser auf, das er dann aus einer Kanne aus einer Höhe von etwa vierzig Zentimetern in die Gläser goss, ohne einen Tropfen Wasser zu vergeuden.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass eben jener Kupferschmied einer der berühmtesten Meister seines Faches auf diesem Basar war und dass ich ihn noch oft besuchen und auch so manchen Kollegen zu ihm hinführen würde.

An diesem Tag feilschte ich erfolgreich um den Preis und ich freute mich, dass ich statt der vierzehn Dinare nur elf bezahlen musste.

Ich stellte jedoch bald fest, dass mit der englischen Sprache allein auf diesem Basar nicht überall auszukommen war, also beschloss ich, so schnell wie möglich Arabisch zu lernen.

Wir besuchten natürlich auch einige andere Basare und vor allem der Textil-Souq und der Gold-Souq machten mich sprachlos. Unzählige aneinandergereihte kleine Läden boten eine riesige Vielfalt an Waren, deren Pracht sich gegenseitig übertraf. Allein der Gold-Souq, in denen der schönste arabische Brautschmuck zu Hunderten in den Schaufenstern hing, suchte seinesgleichen.

Einige Stunden später beendeten wir mit durstigen Kehlen und müden Füßen unseren Basarbesuch und schlossen diesen schönen Tag bei einem Bier in dem schon genannten Lokal ab.

Der nächste Tag begann stürmisch und ständig wehten Windhosen über die Baustelle, die für eine Weile den Himmel verdunkelten und eine Menge Sand über uns hinweg fegten. Die Zeit der Sandstürme war inzwischen in vollem Gange.

Der Wüstensturm hatte die Kraft und die Eigenschaft, Landschaften zu verändern und neu zu formen. Bekanntes verlosch und ließ Unbekanntes auferstehen. Landkarten schufen zwar wichtige Rahmenbedingungen, konnten verwehte Straßen allerdings nicht sichtbar machen.

Auch die Menschen blieben von den Sandstürmen nicht verschont und wir bekamen auf unseren Baustellen Akkupunkturen von feinen Sandkörnchen, wie von tausenden kleiner Nadeln.

Mal kam so eine Windhose völlig unvermittelt und streute ihren graugelben Sand über uns, ein anderes Mal konnte man schon am Horizont die dunkle Wand nahen sehen, die dann unsere Baustelle mit unvorstellbaren Massen Sandes überzog, so dass man die Hand vor Augen nicht mehr sah.

Der feine Sand drang in alle Poren der Haut, in Mund, Augen, Nase und Ohren, kroch in die Öffnungen des Hemdes, in den Hosenbund und sogar in die Schuhe und unter die Sockenränder, so dass man das Gefühl hatte, der Körper wäre in Sandpapier gebettet. Unsere Fahrzeuge waren mit jenem Sand überzogen, die Frontscheiben waren nicht mehr zu durchblicken und gaben die Sicht erst wieder frei, wenn die Scheibenwischer ihre kraftvolle Bahn gezogen hatten, selbst in den Fahrzeugen hatte der Sand eine feine Schicht auf Sitze und Armaturenbrett gelegt.

Während der Zeit der Sandstürme war es besonders wichtig die Dachplatten auf unseren Hallen so schnell wie möglich zu verlegen und auch zu befestigen. Am First blieb allerdings immer ein Spalt offen, der mit sogenannten Firstblechen geschlossen werden musste.

Diese Bleche waren etwa einen Quadratmeter groß.

Damit wir an jenem Morgen das Dach unserer Halle so schnell wie möglich zugedeckt bekamen, hatten wir entlang des Dachfirstes bereits diese Blechplatten in langer Reihe ausgelegt, ein schwerwiegender Fehler, wie sich bald herausstellte.

Zwei Kollegen waren bereits damit beschäftigt diese Bleche zu bohren, damit sie befestigt werden konnten, als unvermittelt wieder so eine Windhose mit großer Kraft und hoher Geschwindigkeit über die Baustelle fegte. Plötzlich wurden die Bleche mit Urgewalt durch die Luft geschleudert und flogen wie Geschosse über das Dach. Ich warf mich instinktiv flach auf den Bauch und die anderen Kollegen taten das Gleiche, alle in der Hoffnung, dass wir ungeschoren davon kommen würden, denn so ein Blechgeschoss konnte einem, ähnlich einem Scharfrichterschwert, mit dieser ungemeinen Wucht leicht den Kopf abtrennen. Zum Glück war uns, abgesehen von einigen Prellungen und Schnittverletzungen, nichts Ernsthaftes geschehen, aber der Schreck saß uns allen in den Knochen.

Die Baustelle glich einem Schlachtfeld. Wandplatten von sechs bis neun Metern Länge waren auf einer Riesenfläche verstreut. Abfallmaterial, Verpackungen und Bretter hatte die Windhose ebenfalls mitgenommen.

Wir selbst sahen auch ziemlich desolat aus: zerzaust, mit feinem, orangefarbenem Sand überzogen und trotz der Sonnenbräune recht blass, aber glücklicherweise gesund!

An ein sofortiges Weiterarbeiten war jedoch im Moment nicht zu denken. Wir stiegen erst einmal vom Dach, um uns den Staub aus dem Mund zu spülen.

Für mehrere Wochen wurden wir fast täglich von diesen Stürmen heimgesucht.

Als die Zeit der Sandstürme abebbte, rauschte ein anderer Sturm über uns hinweg. Es waren arabische Frauen, in ihren schwarzen Gewändern. Sie kamen in Gruppen von zehn bis fünfzehn Frauen und Mädchen von etwa vierzehn bis vierzig Jahren. Die Anführerinnen hatten stets Brecheisen dabei.

Eines Tages kam so eine Gruppe direkt auf uns zu und die Frauen erweckten irgendwie keinen besonders friedlichen Eindruck, mit ihren Brecheisen, Knüppeln und Hanfseilen in den Händen.

Etwa fünfzig Meter vor unserer Baustelle schwenkten sie jedoch nach links ein und schritten zielgerichtet auf unsere Abfallberge zu.

Dort hatten wir die Bretter und die übrige Verpackung unserer Materialcollies auf einen Haufen geworfen, der dann von Zeit zu Zeit abgebrannt wurde – wir praktizierten Müllbeseitigung auf Arabisch.

Wir machten uns keine Gedanken darüber, dass die Bewohner der umliegenden Dörfer diese Abfälle als Baumaterial für ihre Schafställe oder ähnliches brauchen könnten, denn Palmen, die vereinzelt wuchsen, ließen sich nicht zu Brettern verarbeiten, da sie faserig waren, und andere Bäume gab es im weiten Umkreis nicht.

Die Kräftigste der Frauen lud sich eine Kistenrückwand auf den Kopf und ließ sich Bretter und Kanthölzer darauf stapeln und mit den Stricken festzurren, ebenso machten das anschließend ein paar andere Frauen, bis sie so stattliche Haufen auf den Köpfen hatten, dass sie endlich wankend davonzogen.

Da das nächste Dorf ein paar Kilometer weit entfernt war, musste das für sie ein unerhörter Kraftakt gewesen sein.

Hans-Joachim, von allen Kollegen nur „Hajo“ genannt, rief ihnen aus Spaß zu, dass sie uns Bakschisch da lassen sollten, aber die Frauen reagierten natürlich nicht darauf und zogen unbeirrt weiter.

 

Einige Tage später waren die Frauen erneut im Anmarsch und unser Abfallberg war bereits wieder beträchtlich angewachsen. Wir riefen Hajo zu, dass wir wieder einmal Besuch von den „Fledermäusen“ bekämen, da stieg er vom Träger herunter, auf dem er gehockt und Dachriegel montiert hatte, und ging in unseren Brennstoffcontainer. Dort entnahm er einen Benzinkanister, goss den Inhalt über den Holzhaufen, ließ die Frauen noch ein Stück heran kommen und zündete dann das Holz an.

Mit einem Schlag stand der Haufen in hellen Flammen und brannte lichterloh.

Seit diesem Tag habe ich nie wieder einen Menschen so pfeilschnell durch die Wüste jagen sehen, wie unseren Hajo, von fünfzehn laut schreienden arabischen Frauen verfolgt, die dabei wütend ihre Knüppel und Brecheisen schwangen.

Haken schlagend, gelang es Hajo endlich, einen unserer Container zu erreichen und die Tür zu verschließen. Wir mussten die Frauen sogar von der Baustelle vertreiben, sonst hätten sie Hajo verprügelt, wenn sie ihn habhaft geworden wären.

Es hatte sich bei den Bewohnern der umliegenden Dörfer nach diesem Ereignis schnell herumgesprochen, dass am Rande des Flughafens eine Firma arbeitet, die brauchbares Holz verbrannte und wenige Tage später fuhr ein Kleintransporter vor, dessen Fahrer uns das Holz für einen geringen Obolus abkaufte und sich auch das Vorverkaufsrecht sicherte. Wir sortierten dann für ihn sogar das brauchbare Holz aus und für das empfangene Trinkgeld organisierten wir eine Feier für alle Kollegen.

Für den folgenden Donnerstag wurden Richard und ich von ein paar Kollegen zu einer Party zu ihnen nach Bagdad eingeladen.

Wie jeden Tag duschten wir gleich nach dem Feierabend und fuhren mit unserem Einkäufer Edgar, der in Bagdad die Post für die Kollegen abholte, in die City. Edgar nahm dabei allerdings eine andere Route als der Linienbus und fuhr mit uns einige Kilometer über die kürzlich fertiggestellte Stadtautobahn, von dort über die Omar Bin Yasir Street in Richtung Karrada. Dabei kamen wir am Gebäude der Baath Partei vorüber.

Das war ein riesiges, prunkvolles Gebäude, auf dessen vier Ecken des Daches ich MG-Stellungen entdeckte. Edgar erklärte mir, dass diese Maßnahme bei öffentlichen Gebäuden völlig normal wäre und dass es strengstens verboten war, etwa vor der Baath Partei mit dem Auto zu wenden oder dieses Gebäude, wie übrigens auch alle anderen öffentlichen Einrichtungen, Brücken oder militärischen Objekte, zu fotografieren. Bei Zuwiderhandlung wurde sofort geschossen, im günstigsten Fall wurde man jedoch zumindest in das Gefängnis geworfen.

Die Fahrt verlief anschließend über die vierspurige Karrada auf den Saadun und von dort in ein Wohngebiet, in dem sich die Unterkünfte für die Kollegen in Bagdad befanden. Es waren gepflegte, angemietete Häuser mit Gärten, an deren Mauern Hibiskussträucher und andere wohlriechende Pflanzen wuchsen. In den Gärten gediehen neben den verschiedensten Blumen und Pflanzen auch Kakteen und Sukkulenten. Besonders häufig war jedoch der Jasmin zu bewundern, der mit seinem betörenden Duft und seiner Pracht in kaum einem Garten fehlte.

Da alle unsere Häuser in Bagdad von der Oberbauleitung intern nummeriert worden waren, entfiel auf das Haus, in dem wir zu Gast waren, die Nummer acht, das Haus der Oberbauleitung hatte die Nummer eins bekommen, die Häuser in Abu Ghraib die Nummern vier und fünf.

Als wir ankamen, war bereits alles vorbereitet und wir wurden mit Gejohle empfangen. Der Koch, der die Mitarbeiter der Geschäftsleitung in Bagdad versorgte, ließ es sich nicht nehmen, für alle Kollegen zu grillen, denn er wohnte ebenfalls im Haus acht.

Die Bratwürste und die Schweinesteaks hatten wir aus Deutschland mitgebracht, da Schweinefleisch im Irak, bis auf Ausnahmen, tabu war. Alles andere wurde in Bagdad besorgt. Neben Bier gehörten zu unserer Feier auch ein paar Flaschen Rotwein.

Der Wein wurde von uns, entgegen den üblichen Gepflogenheiten, eisgekühlt getrunken und war auch bald alle.

Ein Kollege fragte mich, ob ich ihn zu einem Händler begleiten würde, dessen Shop sich nur eine Straße weiter befand, um bei ihm noch ein paar Flaschen Wein zu besorgen. Ich erklärte mich dazu gern bereit.

Der überaus freundliche Mann empfahl uns wortreich einen Beaujolais aus einer sonnigen Südhanglage Frankreichs, den er kürzlich geliefert bekommen hätte und der ausgezeichnet munden würde.

Im Sechser-Karton könne er uns sogar einen Sonderpreis machen. Sein relativ preiswertes Angebot für diesen edlen Wein nahmen wir natürlich gerne an. Als wir dann zurückkamen, legten wir den Wein sofort in die Kühltruhe, entgegen den Empfehlungen, den Rotwein auf sechzehn bis achtzehn Grad Celsius zu temperieren, damit sich der Geschmack entwickeln kann. Wir bevorzugten jedoch gekühlten Wein. Nach einer halben Stunde war er kalt und konnte von uns genossen werden.

Nun allerdings folgte die Überraschung. Als ich die Eiskristalle von der ersten Flasche wischen wollte, löste sich das Etikett vom „edlen“ Beaujolais und es kam ein Etikett eines irakischen Rotweins zum Vorschein.

Der musste allerdings an einem sehr schattigen Nordhang gewachsen sein, denn er war so sauer, dass er nur unter Beimischung von zwei gehäuften Teelöffeln Zucker pro Glas genossen werden konnte. Leider war es inzwischen schon so spät, dass wir den Wein nicht mehr umtauschen konnten, da der Händler sein Geschäft längst geschlossen hatte.

Trotz dieser kleinen Panne gab es an jenem Abend viel Spaß und die Party zog sich bis tief in die Nacht hinein.

Richard hatte wohl zum Wein etwas zu viel Arrak getrunken, eine überaus tiefschlaffördernde Wirkung, wie sich herausstellte, denn er schlief im Gartensessel ein und war nicht mehr wach zu bekommen. Ein Spaßvogel stellte hinter Richard die Gartendusche an, aber als auch das keinen Erfolg brachte ihn munter zu bekommen, ließen wir ihn in seinem Sessel weiter schlafen und gingen zu Bett.

Am nächsten Morgen ereilte uns dann eine Überraschung. Der Sessel war leer, von Richard weit und breit keine Spur, aber auf der Wäscheleine hing fein säuberlich, mit Wäscheklammern befestigt, Richards Geld.

Ein-Dinar-Scheine, Fünf-Dinar-Scheine, Zehn-Dinar-Scheine und sogar ein Fünfundzwanzig-Dinar-Schein, in Euro gerechnet zum damaligen Kurs immerhin etwa der fünffache Wert, hingen neben einem Teil von Richards Wäsche. Er selbst aber war weder im Haus noch im Garten zu finden und so musste ich schließlich nach der Stärkung in einem kleinen Straßenlokal nahe der Bushaltestelle allein nach Hause fahren.

Als Richard dann am Abend noch immer nicht aufgetaucht war, meldete ich sein Ausbleiben dem Bauleiter Kurt.

Der Mann war schwer in Ordnung, hatte allerdings eine ganz spezielle Gedächtnisschwäche, er konnte (oder wollte) sich von den meisten Kollegen nicht die Namen merken. Deshalb sagte er der Einfachheit halber zu jedem Kollegen „Jauchenfisch“.

Auf diese Weise hatte er selbst seinen Spitznamen bekommen. Wenn bei den Kollegen von Kurt die Rede war, dann nannten wir ihn ebenfalls „Jauchenfisch“, was keinesfalls despektierlich gemeint war. Er wusste das natürlich.

Als ich ihm allerdings sagte, dass Richard fehle, da wusste er sofort, um wen es sich handelte, diesen Namen kannte er. Ich erfuhr, dass dies nicht Richards erste Kapriole war und er deshalb schon auf der „Abschussliste“ der Oberbauleitung stand. Bei seinem letzten Vorfall fuhr er unter Alkoholeinfluss einen Toyota Pickup zu Schrott.

Als Richard am nächsten Morgen noch immer nicht aufgetaucht war, machte ich mir ernsthaft Sorgen.

Auf der Baustelle angekommen, ging ich meiner Arbeit nach, doch meine Gedanken kreisten ständig um meinen Stubenkameraden. Was war da passiert und wo könnte er stecken, ohne Geld und fast ohne Kleidung.

Gegen Mittag fuhr dann ein jordanischer Truck auf unsere Baustelle, drehte eine Runde und hielt schließlich an. Plötzlich wurde die Beifahrertür geöffnet und aus dem Fahrerhaus kletterte Richard heraus, nur mit Shorts und Sportschuhen bekleidet. Über die letzten Stunden konnte er allerdings keine Auskunft geben, angeblich hatte er einen Blackout. Er meldete sich beim Bauleiter und wurde von ihm postwendend nach Abu Ghraib in unser Haus gefahren.

Als ich nach der Arbeit nach Hause kam, packte Richard bereits seine Koffer. Schon mit der nächsten Maschine, der Fluggesellschaft Iraqi Airways, musste er nach Deutschland zurückfliegen.

Richard war für mich ein guter Kamerad gewesen und ohne ihn hätte ich Bagdad und seine Basare nicht so rasch kennengelernt. Natürlich musste man auch die Bauleitung verstehen, die irgendwann ein Exempel statuieren musste, denn die Vorfälle, die sich unter Alkoholgenuss mehrten, wurden allmählich zu einem sehr ernst zu nehmenden Problem in unserer Firma, auf allen Baustellen des Irak.

HERMANN, DER FEIGE HUND

Wenn am Abend die größte Hitze vorbei war und sich die Temperatur unter 40° Celsius eingepegelt hatte, ging ich gern noch in unserer näheren Umgebung spazieren, um ein paar Eindrücke zu sammeln. Naturgemäß hatte kaum ein Kollege Lust, mich zu begleiten, die meisten waren froh, abends ihre Ruhe zu haben.

Richard war inzwischen ausgereist.

Aus diesem Grund hatte ich mich mit einem Hund angefreundet, der in unseren beiden Häusern lebte. Das Tier pendelte immer hin und her, je nachdem, wer Zeit für ihn hatte. Die Kollegen hatten ihm den Namen „Hermann“ gegeben, auf den er auch recht gut hörte. Hermann war ein Mischling, von der Größe eines Schäferhundes, hatte allerdings eine kleine Macke, er konnte keine Kinder leiden. Wahrscheinlich hatte er mit ihnen irgendwann schlechte Erfahrungen gemacht, denn die Kinder bewarfen die Hunde im Wohngebiet gern mit Steinen.

Hermann hörte recht gut auf meine Befehle und deshalb hatte ich kühn beschlossen, den Hund zu meinen Spaziergängen mitzunehmen, natürlich ohne Leinenzwang.

Eines Abends war ich einmal wieder mit Hermann unterwegs. Wir gingen eine ziemlich große Runde und machten an einem Straßenlokal Rast. Ich trank dort einen kühlen Saft und rauchte eine Zigarette, schaute den Jugendlichen beim Fußball spielen zu und machte ein paar Fotos von ihnen, Hermann wurde mit einer Schale Wasser zufriedengestellt. Inzwischen kannte man uns hier schon und ich unterhielt mich mit englischen Vokabeln und viel Handarbeit mit den Jugendlichen und dem Mann hinter der Theke. Anschließend setzten wir wie immer unsere Runde fort. So auch dieses Mal, aber es sollte nicht enden wie sonst.

Als wir ein Stück gegangen waren, kam uns ein etwa zehnjähriger Junge entgegen gelaufen.

Er hüpfte lustig von einem Bein auf das andere und nahm uns beide gar nicht wahr. Als er nur noch wenige Meter von uns entfernt war, bemerkte der Junge zunächst mich und sogleich auch den Hund und machte nun einen folgenschweren Fehler. Er sprang zur Seite und lief fort. Hermann, der nicht angeleint war, sprang natürlich in langen Sätzen hinterher, laufen konnte der nämlich auch sehr gut. Er sah das Ganze wohl für einen sportlichen Wettkampf an. Der Junge lief im Zickzack und wollte über die Straße fliehen, aber er schaffte es nicht mehr, denn von hinten kam ein Bus angefahren, der den Kleinen erfasste. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Junge einige Meter durch die Luft geschleudert und blieb schließlich an der Seite liegen.

Hermann zog es sofort vor, sich zu verdrücken, aber ich stand wie gelähmt auf der Stelle und wollte den Jungen natürlich nicht seinem Schicksal überlassen, ohne zu helfen, doch meine Sorge um den Jungen wäre mir um ein Haar zum Verhängnis geworden.

Der Bus hielt an, die Türen öffneten sich und sofort schloss sich ein Ring von Menschen um mich.

Ich hatte bereits ein paar Mal gehört, was mit Ausländern passiert war, wenn bei Unfällen Kinder in Mitleidenschaft gezogen wurden. Und auch bei mir begann die Situation bald zu eskalieren. Abgesehen vom kreischenden Geschrei der Frauen und von den Drohgebärden der Männer, bestand zunächst keine direkte Gefahr, doch schon bald putschte sich die Masse gegenseitig auf, die Frauen stießen mich in die Seite und die Männer zogen und schubsten an mir herum und verpassten mir den einen oder anderen Faustschlag.

Glücklicherweise schlug der Junge seine Augen bald wieder auf, wurde von den Leuten abgetastet, und als er aufstehen konnte und fortlief, öffnete sich der Ring um mich und man ließ mich schließlich mit einigen Knüffen und Tritten ebenfalls ziehen.

Ich war schwer gedemütigt, weil ich die Prügel ohne mich zu wehren entgegen nehmen musste, doch mich gegen den aufgebrachten Mob zu wehren, wäre wohl mein Untergang gewesen. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was die Leute mit mir gemacht hätten, wenn dem Jungen etwas Schlimmeres passiert wäre.

 

Nachdenklich ging ich nach Hause und fühlte mich im doppelten Sinn angeschlagen, außerdem war mir der Schreck gehörig in die Glieder gefahren. Hermann war weit und breit nicht zu sehen, wahrscheinlich hatte er ein schlechtes Gewissen und lag hinter einer schützenden Hausecke, der feige Hund.

Am nächsten Tag blieb ich nach der Arbeit zu Hause und verbrachte den Abend auf unserer Dachterrasse, das war ungefährlicher.

Auf der Terrasse gegenüber saß ein junges Mädchen, von vielleicht siebzehn Jahren, das offenbar für die Schule lernte, denn sie las in einem Buch, dass sie von Zeit zu Zeit senkte und dann vor sich her sprach. Ich hatte dieses Mädchen schon ein paar Mal auf der Dachterrasse gesehen und stellte an jenem Nachmittag fest, dass auch sie mich beobachtete. Sie tat so, als lese sie in ihrem Buch, aber ich bemerkte, dass sie über den Buchrand hinweg schaute und als sie sich ertappt sah, lächelte sie schüchtern.

Ich winkte ihr heimlich zu, da stand sie auf und ging ein paar Meter zur Seite, bis sie durch eine Mauer vor den Blicken der Nachbarn geschützt war. Dann winkte sie zaghaft zurück und warf mir ein paar Küsschen zu. Ich dachte, ich hätte Halluzinationen. Einem Mann ein Küsschen zuzuwerfen war für ein irakisches Mädchen mehr als gewagt, einem ausländischen dazu noch viel verwegener.

Das hatte sie sicher in einem europäischen oder amerikanischen Film gesehen.

So schäkerten wir einige Tage, bis ich ihr plötzlich, nach einem abendlichen Spaziergang, vor ihrem Haus am mit Hecken bewachsenen Gartenweg begegnete. Ich schaute mich kurz um, ob wir unbeobachtet waren, und lud sie ins Kino ein. Sie errötete und war völlig verlegen, sagte aber „maybe“- vielleicht.

Leider waren wir aber doch nicht ganz unbeobachtet, denn ihr Bruder, ein Bürschchen von etwa zehn bis zwölf Jahren, erlauschte unser kurzes Gespräch aus sicherem Versteck.

Als ich nämlich am anderen Abend wieder am Haus vorbei ging, schaute das Mädchen durch die Scheibe eines Fensters der oberen Etage und auf mein Zeichen, nach unten vor das Haus zu kommen, schüttelte sie ihren Kopf und bedeutete mir mit einer Geste, indem sie die flache Hand auf ihre Wange legte, dass sie am vorigen Abend Ohrfeigen bekommen hatte, wohl weil ihr Bruder sie verpetzte. Ich ging dann die paar Schritte nach Hause und schrieb einige Zeilen an sie. Anschließend näherte ich mich wieder ihrem Haus und zeigte ihr, wohin ich den Zettel legte. Ich selbst ging dann weiter, beobachtete aber, ob das Mädchen den Zettel aufhob.

Sie kam tatsächlich aus dem Haus und wollte das Papier aufheben, jedoch in jenem Moment, als sie sich danach bückte, sprang ihr Bruder aus dem Gebüsch, stürzte sich auf den Zettel und lief davon. Es war nur eine simple Kinoeinladung, aber für ein arabisches Mädchen war das völlig unmöglich. Hätte ich mich nicht erst einige Wochen in diesem Land aufgehalten, dann wäre mir das bekannt gewesen.

Ein paar Tage sah ich das Mädchen dann nicht mehr, aber irgendwann stand sie wieder in ihrem Gartenweg und winkte mir heimlich zu. Das ermutigte mich, aus dem Haus zu gehen. Ich schlenderte in ihre Richtung und als ich ein paar Meter von ihr entfernt war, ging sie einige Schritte zurück, streckte ihre Hand aus und machte eine Handbewegung, die mir bedeutete, dass ich ihr folgen sollte.

Jedenfalls legte ich ihre Handbewegung so aus, denn ich wusste bis dahin nicht, dass eben diese Handbewegung im Irak genau das Gegenteil von dem bedeutete, was wir in Deutschland darunter verstehen.

Ich folgte dem Mädchen also, die eilig im Haus verschwand und durch das Fenster die gleiche Bewegung machte. Als ich dann verwundert im Haus stand und das Mädchen nicht mehr zu sehen war, überlegte ich kurz, ob ich wohl die Treppe hinaufgehen und nachsehen sollte, wohin sie verschwunden war. Der Umstand, dass ich es nicht tat, rettete mir höchstwahrscheinlich das Leben, denn irgendetwas in meinem Unterbewusstsein sagte mir, dass ich mich schleunigst zurückziehen sollte.

Ich hatte ein äußerst ungutes Gefühl und verließ das Haus – keine Minute zu früh.

In dem Moment nämlich, als ich aus dem Gartenweg auf die Straße trat, bog ein Pickup um die Ecke, den ich als den Wagen ihres Vaters erkannte. Der Mann hatte irgendwo in Bagdad ein Elektrowarengeschäft und kam normalerweise immer sehr spät nach Hause, an jenem Tag aber war das anders. Ich war mir nicht sicher, ob er gesehen hatte, woher ich soeben gekommen war. Auf alle Fälle sah ich zu, so schnell wie möglich unser Haus zu erreichen.

Auf dem Weg dorthin hatte ich ständig die Befürchtung, in jedem Moment einen schlanken Stahl zwischen meinen Schulterblättern zu spüren.

Endlich hatte ich unser Haus erreicht, schlüpfte durch das Gartentor und schloss es hinter mir. Nun fühlte ich mich sicherer, trotzdem konnte ich ein inneres Beben nicht verhindern.

Ich ging auf die Dachterrasse, auf der sich bereits einige Kollegen befanden und den Feierabend genossen. Ihr spöttisches Grinsen übersah ich großzügig, suchte mir einen Platz an der Brüstung, schaute auf die Gärten der Nachbarhäuser und versuchte cool zu wirken.

Ein paar Minuten später machten mich die Kollegen allerdings auf das drohende Unheil aufmerksam, dass sich unaufhaltsam unter mir zusammenbraute, denn sie hatten die Ereignisse auf der Straße schon längere Zeit beobachtet und sich köstlich darüber amüsiert.

Nun wurde es jedoch brenzlig.

Der Vater des Mädchens kam nämlich laut schimpfend die Straße entlang, im Schlepptau den Bruder des Mädchens. Diese Tatsache allein war bereits einigermaßen besorgniserregend, doch was mich außerordentlich beunruhigte, war der Gegenstand, den er in seiner rechten Hand trug.

Es handelte sich dabei nämlich um einen Karabiner, den er wild schwenkte. Als der Junge mit dem Finger auf mich zeigte, war im Nu unsere Dachterrasse leer.

Ich wollte mir allerdings keine Blöße geben und blieb vorerst an der Brüstung stehen.

Inzwischen war der Mann mit dem Karabiner direkt unterhalb von mir angekommen und rief Beschimpfungen zu mir herauf, die ich zwar nicht verstand, jedoch konnte ich seinen Unmut begreifen. Vielleicht war es taktisch unklug, ihm dabei direkt ins Gesicht zu schauen, denn plötzlich riss er den Karabiner hoch und legte auf mich an. Nun wurde es mir doch äußerst mulmig und ich wollte den Bogen nicht überspannen. Deshalb trat ich aufgesetzt lässig von der Brüstung zurück, doch als ich außer Reichweite des Karabiners war, konnte ich das Zittern meiner Knie nicht mehr unterdrücken.

Da ich erst kurz in diesem Land lebte, war mir nicht bewusst, dass ich in den Augen des Vaters gegen die „Schariah“, das islamische Gesetz, verstoßen hatte. Ein Gesetz, das unter anderem besagt, dass sich kein abendländischer Mann ungestraft einer Araberin nähern dürfe.

Allerdings lernte ich die islamischen Sitten und die arabische Tradition erst allmählich kennen und akzeptierte sie natürlich.

Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was mir passiert wäre, wenn das Mädchen meine Einladung angenommen hätte und ich mit ihr nach Bagdad in das Kino gefahren wäre.

In den folgenden Tagen ging ich vorsichtshalber nach der Arbeit nicht mehr vor unser Haus und ich sah auch das Mädchen nicht mehr auf der Dachterrasse. Ich stieß unzählige Stoßgebete aus, dass dieser Zyklus ohne Folgen enden möge.

Glücklicherweise konnte ich diesen Abschnitt wenige Tage später tatsächlich unversehrt beenden, denn ich wurde auf eine neue Baustelle umgesetzt.