Klaus Mann - Das literarische Werk

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Nun hatten sie schon ihre kleinen Laternen an den Lenkstangen angesteckt, obwohl es am glasig grünblauen Himmel noch ein wenig Helligkeit gab.

Auf der Brücke, die über die Singelgracht führt, stieg eine kleine Gesellschaft junger Leute von den Rädern, um über das Brückengeländer ins träge, stehende Wasser zu schauen und recht nach Herzenslust sentimental zu sein. Sie stellten ihre Räder an die steinerne Brüstung, gegen die sie sich selber lehnten; sie legten einander die Arme um die Schultern, und nun sangen sie. Es war etwas recht wehmütig Gedehntes, Zärtliches und dabei Rauhes; Abel fand, daß es hübsch und rührend klang. Wahrscheinlich waren die jungen Leute im Vondelpark spazierengefahren, und dort waren sie derartig stimmungsvoll geworden, daß sie sich nun einfach nicht mehr beherrschen konnten, sondern singen und dabei ins Wasser schauen mußten.

Aus dem Wasser hoben sich Nebel. Allmählich wurde es kühl.

An einem Tisch in Benjamins Nähe sprachen zwei beleibte Herren deutsch miteinander. Abel war empfindlich gegen den Klang der deutschen Sprache geworden; er fuhr immer ein wenig zusammen, wenn er sie unvermutet neben sich gesprochen hörte.

Das Mädchen mit den Tulpen hatte sich zurückgezogen; sie ging wohl jetzt gegenüber, vorm Café »Trianon« oder dem »Lido«, mit ihrem bunten Körbchen herum. Statt ihrer hatte sich ein Drehorgelmann eingefunden; eigentlich waren es zwei: der eine bediente das große, weiße, goldverzierte Instrument, das auf Rädern fortbewegt wurde; der andere ging mit seiner Mütze von Tisch zu Tisch und kassierte das Kleingeld. Er machte große Schritte, beinah rannte er; denn es galt, einem kleinen Malaien zuvorzukommen, der Erdnüsse anbot und auch gerne kleine Münzen haben wollte. Der Malaie, ein altes Männchen, wirkte so mitleiderregend, daß mancher ihm gab statt dem Abgesandten der prächtigen Drehorgel. Die kleine Jammergestalt aus den warmen Zonen schien ganz erbärmlich zu frieren. Seinen viel zu großen alten Hut hatte er sich tief in die Stirn gedrückt, und der Kragen seines häßlich braunschwarzen Überziehers war bis über die Ohren hochgeschlagen. Sein Gesicht, mit den breiten Wangenknochen und den schmalen traurigen Augen, bräunlich-schwarz wie der Paletot, verschwand fast zwischen Kragen und Hut; was man jedoch von diesem armen Menschenantlitz sah, genügte, um den Eindruck unendlichen Elends, trostloser Verlassenheit stark werden zu lassen.

Professor Abel reichte ihm eines der spielzeughaft kleinen Zehncentstücke, die er in seiner Tasche fand. ›Ein Heimatloser, auch er‹, dachte er, nun seinerseits sentimental. ›Anderswo zu Hause als hier, durch weiß Gott welche Zufallsfügungen in diese Stadt verschlagen. Sein Gesicht scheint nur aus Runzeln zu bestehen. Er ist vertrocknet, eingeschrumpft – wie eine Pflanze, die man aus der Erde gerissen hat, in die sie gehört. Ein Heimatloser, er auch …‹

Einer der deutschen Herren am Nebentisch ließ, überlaut, seine Stimme hören, die sowohl fett als auch hart war: »Es gibt immer Möglichkeiten, Reichsmark zu transferieren. Setzen Sie sich doch mal mit Kohn aus Elberfeld in Verbindung.«

Abel hatte genug. Er stand auf.

Die Zeit verging; nun war Abel schon vier Wochen in Amsterdam. ›Das hätte ich auch wieder hinter mich gebracht, auch wieder geschafft‹, empfand er, wenn ein Tag oder eine Woche vorüber war. So zählen Gefangene in ihren Kerkern die langsam dahingehenden Stunden und Tageszeiten. Sie warten auf etwas: auf das große Datum, das die Freiheit bringt. Auf was aber wartete Abel? Doch nicht auf »den Sturz des Regimes« in Deutschland? Er meinte, innerlich mit dem Lande fertig zu sein, das ihn davongejagt hatte. Täglich mindestens einmal sagte er sich selber: ›Ich würde in dieses Land nicht zurückkehren, sogar dann nicht, wenn man mich riefe. Ich habe abgeschlossen mit Deutschland‹, versuchte er sich zu überzeugen. ›Mit Deutschland bin ich fertig, ganz und gar.‹

Nein, es war wohl wirklich nicht »der Sturz des Regimes«, dem er entgegenharrte. Er zählte die Tage, die Wochen, weil er die Lebensumstände, in denen er sich befand, als durchaus provisorisch betrachtete. So konnte es doch nicht bleiben; so, wie es nun war, konnte es doch keinesfalls ewig weitergehen.

Es ging eine ganze Zeitlang so weiter. Für Benjamin war es fast etwas wie eine Ewigkeit.

Während der ersten zehn Tage seines Amsterdamer Aufenthaltes hatte er in einem großen Hotel am Bahnhof gewohnt. Die Nähe der »Centraal Station« war ihm tröstlich; sie bedeutete ihm ein Symbol für das Unverbindliche, Vorläufige seines Zustandes.

Auf die Dauer konnte er sich einen solchen Lebensstil nicht leisten. Das Hotel war teuer: fünf Gulden am Tag, nur für Zimmer und erstes Frühstück – man kam sich ja wie ein Hochstapler vor. Die Ersparnisse, die er noch besaß, waren gering; im wesentlichen war man auf eine kleine Pension angewiesen, und leider lag es durchaus im Bereich des Möglichen, daß auch diese Unterstützung plötzlich wegfiel; der nationale Staat konnte es müde werden, einem »geistigen Landesverräter« auch noch Geld ins Ausland nachzuwerfen.

Außerdem fand Abel, daß zu viele Deutsche im Hotel ein und aus gingen. Manchmal sprach ein deutscher Herr ihn wohl sogar an, im Lift, in der Bar oder in der Halle. Sehr wohl möglich, daß er nur eine harmlose Plauderei beginnen wollte – unverbindliche Konversation zwischen Landsleuten, die sich in der Fremde begegnen: »Na, auch mal auf Reisen, wie gefällt es Ihnen in Amsterdam, ich muß jedes Jahr geschäftlich ein paarmal rüber, kann Ihnen eine kleine Kneipe empfehlen, wo famoses Bier ausgeschenkt wird, fast wie im Münchner Hofbräuhaus, hahaha …« So etwa schwatzten die Herren. Professor Abel aber zuckte zusammen, als hätte man ihn schon nach seiner Weltanschauung, seiner politischen Gesinnung und seinen Familienverhältnissen ausgefragt. Man wußte doch nie, mit wem man es zu tun hatte.

Professor Abel, der keine deutschen Zeitungen mehr las und in den holländischen nur die unpolitischen Rubriken, studierte im »Telegraaf« und im »Handelsblad« die Annoncen, in denen möblierte Zimmer angeboten wurden. Er besichtigte mehrere Häuser; sie sahen sämtlich eines wie das andere aus. Immer führte eine schmale, sehr steile und sehr sauber gehaltene Treppe hinauf zu den Stuben, die gleichfalls ordentlich gehalten und bescheiden möbliert waren. Schmuck und Überfluß bestand meistens nur in einer Vase mit Tulpen auf dem Tisch und in einer gerahmten Photographie der Königin an der Wand.

Nachdem Benjamin fünf oder sechs Zimmer betrachtet und mit fünf oder sechs Hausbesitzerinnen verhandelt hatte, entschloß er sich für irgendeinen Raum, der ihm nicht besser und nicht schlechter schien als die übrigen. Er fand es angenehm und passend, in der Mozart-Straat zu logieren, die übrigens im stillsten, freundlichsten Viertel der Stadt gelegen war. Man befand sich an der südlichen Peripherie und hatte keinen weiten Weg, wenn man ins Freie wollte. Um die Mozart-Straat herum gab es lauter hübsche, vielversprechende Straßennamen: Richard-Wagner- und Beethoven-Straat, Apollo-Laan, Euterpe-Straat, Clio-Straat, Brahms-, Chopin-, Schubert-, Händel-Straat oder Straßen, die nach Rubens, Velázquez, van Gogh, van Eyck, Tizian, Murillo, Michelangelo, Holbein, Tintoretto hießen. Von allen diesen schönen, ruhmreichen Namen – so meinte der Professor aus Bonn am Rhein – müßte doch ein wohltätiger Einfluß auf die Menschen ausgehen, die hier wohnten.

Er versuchte, sich sein Zimmer mit Büchern und Photographien möglichst wohnlich zu machen. Aber er brachte es niemals fertig, sich in diesem Raum zu Hause zu fühlen. Jeden Abend fürchtete er sich vor dem Heimkommen, welches eigentlich gar kein »Heimkommen« war; deshalb hielt er sich regelmäßiger und länger in Lokalen auf, als dies früher seine Art gewesen.

Besonders quälte es ihn, daß es in seiner Stube immer nach den Mahlzeiten roch, die er hier einsam verspeiste. Es nützte nichts, die Fenster aufzureißen; der fatale Duft nach Saucen und Suppen schien zäh in den dicken Plüschportièren, im abgeschabten Teppich zu nisten. Ja, er haßte diesen Geruch, und er verabscheute auch den anderen, mit dem das dämmrig dunkle Treppenhaus ihn empfing und in dem die Aromas von Staub und Speisen, von alten Stoffen und schwitzenden Mägden sich unerfreulich miteinander vermischten.

Übrigens kam der Professor, im Lauf der Wochen und Monate, dem Haus in der Mozart-Straat allmählich hinter allerlei unheimliche Eigenschaften. Ziemlich lange hatte er nicht gewußt, was es mit dem Brummen für eine Bewandtnis hatte, dessen gedämpfter Laut in seiner Stube fast ununterbrochen zu hören war und das sich verstärkte, wenn man die steile Treppe hinunterging und an einer bestimmten Türe des ersten Stockwerkes vorüberkam. Ohne Frage, hinter dieser Türe hauste ein Brummer; irgend jemand, der auf eine dumpf-melodische Art Tag und Nacht vor sich hin brummte – es war ziemlich schaurig, diesem trostlos monotonen Geräusch zu lauschen. ›Wer mag der Brummer sein?‹ mußte der einsame Professor immer wieder mit einer mechanischen, lustlosen Neugierde denken. Als er der geheimnisvollen Person des Brummers dann von Angesicht zu Angesicht begegnet war, begriff er nicht mehr, wie er jemals erpicht auf ein so makabres Zusammentreffen hatte sein können. Beinah, um ein Haar, wäre Benjamin mit dem Brummer im dämmrigen Korridor zusammengestoßen. Dabei erwies sich, daß es sich um einen alten, mächtig großen, gebückt gehenden Mann mit schlohweißem Haar handelte. Er schwankte dem bestürzten Professor wie ein Betrunkener entgegen. Mit den langen Armen ruderte er, als hätte er gegen Widerstände zu kämpfen und bewegte sich nicht durch Luft, sondern durch eine zähflüssige Materie. Er tastete mit den gespreizten Händen ins Leere; wahrscheinlich war er blind, aber selbst Blinde laufen nicht auf so bedenkliche Art im Zickzack, und Blinde taumeln nicht, wie dieser erschreckende Alte es tat. Der da war geschlagen mit einer gräßlichen Krankheit, er hatte nicht nur den Verstand verloren, sondern auch jede Balance und die simple Fähigkeit, geradeaus zu gehen: ohne Frage, er war aufs schlimmste beschädigt im Zentrum des Organismus, sein Rückenmark war lädiert. Mit diesem Unglückseligen, der in eine geschlossene Anstalt gehörte, hauste Professor Abel also unter einem Dach, schon seit Wochen – und dem verzweifelten Brummkonzert, das der heillos von Gott Geschlagene morgens, mittags und mitternachts veranstaltete, mußte man lauschen, während man versuchte, die verwirrten und gequälten Gedanken auf geistige und reine Gegenstände zu konzentrieren. ›Das ist ja schaurig‹, dachte Benjamin, und er tat entsetzt einen Sprung beiseite; denn der Brummer war im Begriff, auf ihn zuzuschwanken. Die getrübten Augen des Kranken hatten wohl die Gestalt des Professors, deren vage Umrisse sie erkennen mochten, als nächstes Ziel visiert.

 

Der Brummer kam näher, lallend, singend, mit den krampfig gespreizten Händen fuchtelnd – und das ärgste war, daß sein taumelnder Zickzacklauf auf schlimme Art einen lustigen Charakter hatte; er erinnerte an gewisse Sprünge, die Kinder manchmal auf der Straße tun, wobei sie ganz bestimmten Spielregeln folgen, die den Erwachsenen mysteriös und unbegreiflich bleiben. Übrigens hatte auch die dumpfe Melodie, die der Schwankende hören ließ, einen munteren, fast hopsenden Rhythmus. Es war deutlich, der Unglückselige fühlte sich relativ wohl; in seinem umnachteten Inneren war ihm nach Tanz und Gedudel und schauerlichem Hopsasa zumute. Er war seiner Pflegerin ausgerissen und wollte nun selbständig schäkern und ein wenig übermütig sein. ›Gott steh mir bei‹, dachte Benjamin, der sich vor Grauen nicht mehr bewegen konnte und erstarrt, so wie in einem bösen Traume stand. ›Gott sei mir gnädig, noch ein paar Sekunden, und er wird mich erreicht haben, er wird mich an den Schultern packen – ich sehe es ihm doch an, was er im Schilde führt: er will sich ein wenig mit mir im Kreise drehen, ein Morgentänzchen, hier auf dem Treppenabsatz, das ist es, wonach der Sinn dem armen Unhold steht …‹

Da war der im Nervenzentrum schwer lädierte Greis nah herangekommen an den erstarrten Professor. Benjamin spürte schon den Atem des Kranken an der Wange; das blinde, große, öde Antlitz des Brummers stand dicht vor seinem Gesicht, gleich würde das Schreckenstänzchen beginnen. ›Ich überlebe es nicht‹, dachte Abel. ›Ich falle hin und bin tot, wenn ich mit diesem da tanzen muß‹: da kam endlich Rettung in Gestalt der Pflegerin – einer rüstigen Person mit Zwicker auf der Nase, hoch aufgerichtet, in ihrer grauen Schwesterntracht: warum fand sie sich jetzt erst ein? – und sie ließ eine gebieterische Stimme hören: »Kom dadelijk hier, mijnheer van Soderbloem!«

Damit hatte das arge Vorkommnis im Treppenhaus des »Huize Mozart« sein Ende gefunden. Der Greis wandte sich gehorsam, hörte für ein paar Augenblicke zu brummen und zu fuchteln auf, und nun konnte er sogar die wenigen Schritte, die ihn von seiner Beschützerin und Meisterin trennten, ohne viel Taumeln zurücklegen. Die Pflegerin schleuderte, während sie ihren tiefgebeugten Patienten hinwegführte, Professor Abel einen mißbilligenden Blick über die Schulter zu, als hätte er sich unpassende Spiele und Scherze mit einem armen Kranken erlaubt. Benjamin schwor sich, von nun ab jede Begegnung mit dem Brummer peinlichst zu vermeiden und stets, ehe er die Treppe hinunterging, sorgfältig zu lauschen, ob auch keine tappenden Schritte auf Stufen oder Korridor zu hören seien.

Je länger er über den traurigen und unheimlichen Fall nachdachte, als desto auffallender, unstatthafter und tadelnswerter erschien es ihm, daß man ein solches Menschenwrack in einer Pension, Tür an Tür mit Gesunden, brummen ließ, anstatt es einer geschlossenen Anstalt zu übergeben. Tagelang nahm er sich vor, mit der Dame des Hauses in diesem Sinne zu sprechen; aber am Ende kam er zu dem Entschluß: ›Nein, ich habe wohl kaum das Recht, über irgend etwas Klage zu führen, mich aufzuspielen als den anspruchsvollen großen Herrn und der Inhaberin eines holländischen Hauses mit Beschwerden lästig zu fallen. Ich bin ein Fremder, hier nur eben geduldet und übrigens nicht vertraut mit den Sitten des Landes, das mir Obdach gewährt. Die anderen Mieter im »Huize Mozart« scheinen an der Existenz des Brummers nicht Anstoß zu nehmen; ein armer Emigrant sollte nicht empfindlicher sein als niederländische Herrschaften, die vielleicht sehr fein und wohlhabend sind …‹

Immerhin konnte Abel sich nicht enthalten, mit dem jungen Mädchen, das sein Zimmer aufräumte und ihm die Mahlzeiten brachte, gelegentlich über den beunruhigenden Gast im ersten Stockwerk zu sprechen. Das junge Mädchen erklärte ihm, daß Herr van Soderbloem ziemlich reich sei und schon seit Jahren die teuersten Stuben der Pension innehabe. »Er ist ganz ungefährlich«, erfuhr Benjamin. »Wie ein Kind läßt er sich von seiner Pflegerin spazierenführen und füttern. Man würde von seiner Existenz überhaupt nichts bemerken, wenn er nicht eben die Angewohnheit hätte, zu brummen und manchmal, wenn die Laune ihn ankam, ein paar drollig tappende Tanzschritte zu tun. – Mich hat er auch schon einmal um die Taille gefaßt«, erklärte kichernd das Mädchen.

Sie hieß Stinchen und war ein niedliches Ding; blutjung, noch keine neunzehn Jahre alt. Abel unterhielt sich gerne mit ihr. Wochenlang war sie der einzige Mensch, mit dem er sprach. Sie sah gut gewaschen, appetitlich, fast verführerisch aus in ihrer hellblauen, steif gestärkten Schürze und mit ihrem pfiffig-unschuldigen Gesicht eines dreizehnjährigen Buben. Das Hübscheste an ihr, fand Abel, war die geschwungene Linie des Hinterkopfes. Das mattblonde Haar trug sie kurz geschnitten, links flott gescheitelt.

›Eigentlich eine etwas ungewöhnliche Manier, sich herzurichten, für so ein junges, dummes Stinchen vom Lande‹ mußte Benjamin denken. War es die große Einsamkeit seines Lebens, die ihn mißtrauisch werden und ihn allerorten sonderbare, etwas unheimliche Zusammenhänge wittern ließ? Er begann zu argwöhnen, daß es auch um das brave Stinchen weniger harmlos stünde, als er es zunächst gehofft und vorausgesetzt hatte.

Während der ersten Wochen seines Aufenthaltes im »Huize Mozart« hatte es ihm viel Spaß gemacht, gelegentlich eine Viertelstunde mit Stinchen zu verplaudern. Sie redete gar nicht deutsch, war auch zu ungeübten Verstandes, um die Worte einer Sprache, die doch mit ihrer eigenen so intime Verwandtschaft hatte, zu erraten. Abel sah sich gezwungen, all seine Kenntnisse des Holländischen zusammenzunehmen, um sich verständlich zu machen. Das bedeutete eine gute Übung, und Benjamin konnte sie wohl gebrauchen. Stinchen war nachsichtig, munter und geduldig. Gutmütig lachte sie über die groben Schnitzer, von denen jeder seiner Sätze wimmelte, und es vergnügte sie, den feinen gelehrten Herrn zu korrigieren.

Es war Stinchens Mutter, eine rüstige und derbe Person, deren schwere Schritte und rauhe Stimme gewaltig durch das Haus hallten, die dem einsamen Fremden das kleine Trostvergnügen nicht gönnen wollte. Zu Anfang hatte sie sich um das Verweilen ihrer Tochter in der Stube des deutschen Mieters kaum gekümmert; mit der Zeit aber schien sie mißtrauisch und gereizt zu werden. Meistens brachte sie nun selbst die Mahlzeiten zu Abel hinauf, und wie böse schaute sie ihn an, wenn sie die Schüsseln so hart vor ihn hinstellte, daß es einen Knall und ein Geklapper gab. Erschien aber doch noch einmal das Stinchen, und verweilte sie auch nur ein paar Minuten lang, gleich ließ die Mutter ihre erzürnte Stimme hören. Stinchen ward bleich, traute sich kein Wort mehr zu sagen, sondern machte nur noch mit den Händen hilflose kleine Zeichen – und entschwand.

Was für eine sonderbare Frau war Stinchens Mama! Professor Abel fürchtete sie fast ebensosehr wie den garstigen Brummer im ersten Stock. Weibliche Züge schienen der kräftigen Person ganz zu fehlen. Gang und Stimme, ja, Form und Bildung ihres Gesichtes und ihrer Hände waren durchaus viril. Die Haare trug sie kurz geschnitten wie Stinchen; aber sie hatte sie nicht gescheitelt, sondern streng nach hinten gekämmt. Über einem steif gestärkten, stets blendend weißen Stehkragen zeigte ihr kantiges Gesicht harte und strenge Züge; doch wirkte es nicht nur herrisch, sondern auch verstört und leidend; in den engen Augen gab es irre Flackerlichter.

Häufig machte sie ihrem Stinchen maßlos heftige Szenen; während das arme Ding auf dem Boden kniete, den sie mit dem Putzlappen bearbeitete, stand die unmütterliche Mama, breit- und steifbeinig wie ein Grenadier, daneben und grollte, tobte, klagte, schalt und weinte. Wenn solche Ausbrüche vorüber waren, ging sie mit einem verzweifelten Gesicht umher, schloß sich wohl auch stundenlang in ihre Kammer ein, die sie mit Stinchen teilte, in die das Kind dann aber keinen Zutritt hatte – und wenn sie wieder zum Vorschein kam, zeigte sie blutig zerbissene Lippen und geschwollene Augen.

Wunderliche Verhältnisse – dem armen Abel gaben sie viel zu denken. ›In was für undurchsichtig trübe Dinge man verwickelt wird, wenn man sich in die Fremde wagt‹, war sein bestürztes Empfinden. Die Eifersucht, mit der die maskuline Alte jeden Schritt des kleinen Stinchens verfolgte, schien ihm auf eine verdächtige Art übertrieben. Das war nicht mehr die natürliche Sorge der Mutter um die Tugend der Tochter; vielmehr die gespannte, leidend wilde Wachsamkeit der Liebenden.

Welche Gründe die Eifersucht der hysterischen Magd auch immer haben mochte, sie konnte für Benjamin gefährlich werden. Er durfte sich schmeicheln, daß er dem Stinchen nicht ganz gleichgültig war. Ihre freundlichen Blicke, ihr Erröten, wenn er in die Nähe kam, verrieten, daß der interessante einsame Mann ihr kindliches Herz beeindruckte und beschäftigte. Sehr angenehm, sehr niedlich und erfreulich! Aber doch auch wieder beängstigend, unter den Umständen, wie sie nun einmal waren. ›Die Alte brächte es fertig, mir Gift einzugeben‹, fürchtete sich Benjamin Abel. Jedes Gericht, das aus der Küche kam, wo die gar zu liebevolle Mutter schaltete, konnte den Tod bringen …

Benjamin hatte längst beschlossen, möglichst bald umzuziehen; aus einer Trägheit, die allmählich den Charakter einer totalen psychischen Lähmung bekam, brachte er es nicht über sich, seinen vernünftigen Vorsatz auszuführen. Er blieb – obwohl alles, was ihn umgab, ihm täglich unheimlicher und gespenstischer wurde.

Recht schaurig war zum Beispiel, daß vor dem Krankenhaus, das dem »Huize Mozart« gegenüberlag, täglich mindestens einmal das schwarze Leichenauto stationierte. Häufig hatte Benjamin, der soviel Zeit unbeschäftigt am Fenster verbrachte, schon beobachten können, wie der Sarg aus dem Portal der Klinik getragen und in das sinister-elegante, schwarz lackierte Fahrzeug verladen wurde. Während der ersten Wochen seines Aufenthaltes war ihm dergleichen nie aufgefallen. War damals die Sterblichkeit im Hospital geringer gewesen? Oder hatte man die soeben Verblichenen auf dezentere Art aus dem Hause geschafft? Es war ja wohl im allgemeinen üblich, den Abtransport derer, die da ausgelitten haben, auf eine Stunde zu legen, die von den Lebenden verschlafen wird … mit diesen zivilisierten Usancen also hatte das »Ziekenhuis«, auf dessen saubere Front Benjamin den Blick hatte, rigoros gebrochen. Am hellen Tage ging hier mit zynisch-unbekümmerter Sachlichkeit vonstatten, was sonst, mit zarter Rücksicht auf die natürliche Aversion der Atmenden gegen die Erstarrten, im schonenden Dämmerlicht und an versteckter Stelle erledigt wurde.

Übrigens konnte Abel sich nicht verhehlen, daß er die Abreise der stummen Gäste in ihren schwarz verhangenen, motorisierten Luxuskarossen mit Neugierde, ja, nicht ohne ein gewisses schlimmes Vergnügen beobachtete. Er ertappte sich bei Gedanken, die zu mißbilligen und absurd zu finden, er denn doch die moralische Kraft noch aufbrachte. ›Wie behaglich muß es sein‹, empfand er sehnsuchtsvoll, ›wie so sehr angenehm und behaglich, wenn man nicht mehr darüber nachgrübeln muß: Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Vaterland? Wo werden meine Dienste verlangt? Was fange ich an mit den Gaben, die mir Gott gegeben? Wie verwende ich sie …? Die schmale, langgestreckte, schwarz lackierte Kiste wird zum Vaterland, ein anderes kommt nicht mehr in Frage … Von mir genommen die Qual der Zweifel, der Enttäuschungen, Schmerz … Eine dunkle Kutsche steht vor dem Tore und erwartet mich … Freundliche und kräftige Männer in schicklicher schwarzer Tracht holen mich ab, und wer vorüberkommt, nimmt den Hut ab … Denn ich bin ein freier Herr geworden, ich bin vornehm …‹ Wenn der Einsiedler mit seinen abwegigen, defaitistischen und unerlaubten Gedanken bis zu diesem Punkte gekommen war, spürte er wohl einen Schrecken und gesunde, kräftige Empörung gegen sich selbst. ›Was ist das alles denn für abgeschmackter Unsinn! Ich habe doch noch manches in dieser Welt auszurichten, und es wird wohl irgendwo noch Leute geben, die mich brauchen können! Bleibt mir wirklich nur noch die fragwürdige Behaglichkeit des Leichenautos übrig, weil in meinem Vaterland zur Zeit das Pack die honetten Leute schikanieren darf …? Ich komme ja innerlich ganz aus der Form, weil ich zuviel allein bin und mich noch auf keine ernsthafte Arbeit konzentrieren kann. Jetzt gebe ich mir aber einen Ruck, ziehe meinen guten blauen Anzug an und besuche ein paar holländische Kollegen.‹

 

Die Visiten im Haag und in Leiden verliefen angenehm. Abel hatte menschenfreundliche, gescheite und gerechte Männer angetroffen. Was hielt ihn davon ab, diese Besuche zu wiederholen, einen regelmäßigen, intimeren Verkehr mit den niederländischen Gelehrten herzustellen? Sie waren ihm wohlgesinnt, schätzten seine Arbeit, nahmen Anteil an seinem Schicksal. Recht herzlich war er, sowohl in Leiden als im Haag, aufgefordert worden, sich bald einmal wieder zu melden. Der Umgang mit den angesehenen, wohlbestallten Forschern hätte von bedeutendem Nutzen sein können. Hatte der eine von ihnen nicht schon vielversprechende Andeutungen gemacht? »Köpfe wie Sie können wir brauchen«, hatte er zu Abel gesagt. »Vielleicht zunächst einmal eine Gastprofessur …« Es bestand kein Anlaß, dergleichen für leere Höflichkeitsfloskeln zu halten. Abel hätte auf dieses halbe Angebot sofort eingehen sollen, und er hätte sich nicht zu schämen brauchen, später dringlich darauf zurückzukommen. Er unterließ es. Warum unterließ er es denn …?

Er ging herum, ließ die Zeit verstreichen. Die holländischen Freunde – genauer gesagt: die Bekannten, die wohl dazu bereit gewesen wären, seine Freunde zu werden – suchte er nicht mehr auf. ›So heruntergekommen, so würdelos, daß ich fremden Leuten lästig fallen möchte, bin ich denn doch noch nicht‹, dachte er, bitter und stolz.

Das ärgste, quälendste war, daß er nicht arbeiten konnte. Er hatte vorgehabt, seine unfreiwillige Freiheit zur Ausführung eines literarischen Planes zu nutzen, der ihn seit langem lockte und ihm reizend erschien. Es handelte sich da um einen entzückend zarten und empfindlichen, schwierigen, geistig komplexen Gegenstand. Er hatte sich darauf vorbereitet und darauf gefreut, ein kleines – aber nicht gar zu kleines – Buch über die Wiener literarische Schule um die Jahrhundertwende zu schreiben. Die Abhandlung sollte den lyrischen Charme einer Liebesgeschichte, gleichzeitig aber das solide Gewicht einer literaturgeschichtlichen Studie haben. Im Zentrum der Betrachtung würden die Figuren Hugo von Hofmannsthals und Arthur Schnitzlers stehen: beide waren sie Benjamins Lieblingsautoren seit seiner Gymnasiastenzeit. Was für ein hübsches, anmutiges und interessantes Buch könnte das werden! Aber damit war es nun nichts. Zu einer solchen Arbeit braucht man einen freien Kopf, ein unbeschwertes Herz, einen geschärften Verstand, eine zugleich gespannte und freudig lockere Stimmung der Seele.

Trost kam von keiner Seite. Annette Lehmann zum Beispiel die tüchtige Freundin, die in Köln zurückgeblieben war, hätte wohl die Macht und Möglichkeit gehabt, etwas Trost zu spenden; aber sie dachte gar nicht daran, augenscheinlich hatte sie ganz andere Gedanken im Kopf. Wie lange war nun schon kein Brief mehr von ihr eingetroffen? Im letzten hatte sie mitgeteilt, daß sie zunächst nicht daran denken dürfe, nach Holland zu kommen. Ihr Geschäft nehme sie mehr in Anspruch denn je. Annette Lehmann versicherte ihrem alten Freund, er könne sich keine Vorstellung davon machen, was für ein Auftrieb und freudiger Elan im »neuen Deutschland« spürbar sei. Ja, die liebe alte Annette schrieb wirklich: »im neuen Deutschland …«

In der Tat: dem Professor war ganz und gar nicht danach zumute, sich die Stimmung freudigen Elans in Köln am Rhein und im Antiquitätenladen Annettes auszumalen. Ihm schien das Wort »Deutschland« vergiftet. Er dachte es nie ohne Qual, und da er es häufig dachte, hatte er ein großes Maß an Qualen auszuhalten. Darauf war er kaum gefaßt gewesen: daß er, als nicht mehr ganz junger Mann, noch ein Gefühl, einen zehrend heftigen Affekt würde kennenlernen und gründlich erfahren müssen, der ihm seiner ursprünglichen Anlage, seiner Erziehung und seinem Temperament nach so fern gelegen hatte: den Haß.

Wie lange war es her, daß er keine Zeitungen oder nur die unpolitischen Rubriken in den Blättern gelesen hatte? Nun verfolgte er, mit gierig-leidender Spannung, jede neue Schandtat oder Dummheit, Infamie oder Entgleisung, die das verhaßte Regime dort drüben sich zuschulden kommen ließ. Er las alles, merkte sich alles. Mit tausend Einzelheiten, immer neuen und immer krasseren Details nährte er das quälende und berauschende Gefühl seines Hasses.

Besonders quälend und erst recht berauschend wurde es dadurch, daß er es in so vollkommener Einsamkeit ertrug. Er erwog kaum die Möglichkeit, mit anderen Emigranten – die doch mindestens die Gefühle »Haß und Heimweh« mit ihm gemeinsam haben mußten – den Kontakt zu suchen. Die Idee, Haß und Schmerz fruchtbar zu machen – sich, um ihretwillen, in eine kämpferische Front, in irgendeine aktivistische Gemeinsamkeit einzufügen – kam ihm noch nicht.

Sein stolz und trotzig selbstgewähltes Teil war die Einsamkeit, begleitet von der monotonen Melodie des »Brummers«.

Sein Teil war die Einsamkeit.

Sie ist die treueste Begleiterin auf den unendlichen Spaziergängen in der Stadt Amsterdam.

Wie gut kannte der Professor nun schon diese Stadt: bis zum Überdruß genau, wollte ihm scheinen, war er vertraut mit ihren Straßen, Plätzen, Brücken, Parks und Grachten. Es war sonderbar, dachte er oft, daß man in einer Stadt mit solcher Intimität Bescheid wissen konnte, ohne sich doch in ihr »zu Haus« zu fühlen. Sie blieb die Fremde – obwohl man nun schon bald jede ihrer Straßenecken ebenso genau kannte wie die Straßenecken in den heimatlichen Städten Köln, Worms und Bonn.

Übrigens war es eine liebenswürdige Fremde. Wenn Abel seine vergleichsweise guten Tage, seine nicht gar zu niedergeschlagenen Stunden hatte, dann fand er, und machte es sich ausdrücklich klar, daß Amsterdam eine schöne Stadt war, abwechslungsreich und voll von sehenswerten, liebenswerten Plätzen und Dingen.

Auf seine zurückgezogene, einsiedlerische Art nahm Abel doch ein wenig teil am Leben. Von den Lokalen, den Bierstuben, Bars und Dancings hielt er sich allerdings mehr und mehr fern. Man traf dort überall Deutsche; das störte ihn – nicht nur, weil die Gegenwart der Landsleute ihm lästig und sogar peinigend war; sondern vor allem, weil er zu spüren meinte, daß ihre massenhafte Anwesenheit den Holländern ein Ärgernis bedeutete. Kleine, an sich unbedeutende, aber doch charakteristische Erlebnisse bestätigten ihm dieses Empfinden und waren geeignet, es noch zu verstärken.

In einer Bar am Rembrandt-Plein, im Zentrum der Stadt, wo Benjamin gelegentlich spätnachts noch einen Bols getrunken hatte, saß hinter der Theke ein geschminktes, hochblondes, üppiges, dummes und freundliches deutsches Mädchen. Sie war recht beliebt bei den holländischen Stammgästen. Eines Nachts kam Benjamin dazu, als ein wohlbeleibter, rotgesichtiger, gutgelaunter, ziemlich stark alkoholisierter Amsterdamer Geschäftsmann mit der kessen und gutmütigen Berlinerin scherzte. Den Hut keck im Nacken, den Paletot aufgeknöpft, die dicke Zigarre im Mund, saß der muntere Bürger auf dem hohen Barstuhl und versuchte, einen Berliner Witz zu erzählen. Benjamin nahm neben ihm Platz und wechselte seinerseits ein paar deutsche Worte mit dem Mädchen, das er nicht zum ersten Mal sah. Daraufhin verstummte der Holländer und sah ihn mißtrauisch an. Nach einer etwas bedrohlichen Pause fragte er, die Augen böse zusammengekniffen: »Auch Deutscher?«