Klaus Mann - Das literarische Werk

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Im Herbst 1933 kamen sie beide gerade rechtzeitig über die Grenze – illegal, ohne Pässe.

Zu Anfang wurden sie in Prag unterstützt: Ernst von seiner Partei; Hans von einer linken humanitären Organisation, an die kommunistische Freunde ihn empfohlen hatten.

Ihr Leben war ganz erträglich. Beide hatten noch niemals in einer anderen Stadt als Berlin gelebt. Nun lernten sie plötzlich etwas Neues kennen. Sie fanden, daß Prag wundervoll war. Stundenlang konnten sie sich herumtreiben: am Wilsonbahnhof, auf dem großen Wenzelsplatz, wo es die verführerischen Automatenbuffets gab, oder am »Graben«, wo sie in die Auslagen der eleganten Geschäfte starrten; auf den Moldaubrücken oder am anderen Ufer, auf der geheimnisvollen »Kleinseite«. Sie stiegen zum Hradschin hinauf und sagten: »Hier wohnt der alte Masaryk: ein sehr anständiger Kerl.« Sie fanden es aufregend im engen Alchemistengäßchen – »da haben sie früher mal Gold gemacht! Junge, Junge!« – und sie tauschten Erinnerungen an die Geschichtsstunden, als sie nebeneinander vor den hohen Mauern standen, die das Wallenstein-Palais umgeben. Vorm Czernin-Palais sagten sie: »Mensch, det is pures Rokoko! So wat Schönes haben wir nich in Berlin!« Sie waren sehr empfänglich für die mannigfachen Reize der Stadt Prag. Sie lernten auch nette Mädchen kennen, die relativ wenig Geld verlangten. Manchmal nahmen sie sich zwei Mädchen mit in ihr enges Zimmer; manchmal nur eines, weil das billiger kam.

Jede Woche zwei- oder dreimal trafen sie in einem kleinen Bierlokal ein paar Kameraden aus Deutschland, mit denen sie die politische Situation diskutierten. Sie untersuchten, warum alles so gekommen war, und was man dafür tun könnte, daß es anders würde. Ein Gescheiter, mit Hornbrille auf der Nase, erklärte: »Wir sind selber schuld an dem ganzen Unglück! Wenn die Linksparteien einig gewesen wären, hätte der Hitler es nie geschafft!« Dann nickten sie alle nachdenklich. Aber einer von der Kommune sagte, halb scherzhaft, halb wirklich böse, zu Ernst gewendet: »Mit euch Sozialfaschisten konnte ein anständiger Mensch doch nicht zusammen gehen!« – Daraufhin Ernst: »Ihr Kommunisten seid gar keine deutsche Partei gewesen, ihr wart doch abhängig von den Russen! Und was habt ihr denn für eine Politik gemacht? Eure schlaue Theorie war: Die Nazis sollen nur kommen, die werden bald abgewirtschaftet haben, und dann sind wir an der Reihe. Na, da haben wir die Pastete …« Der mit der Hornbrille lachte bitter: »Da streiten die sich schon wieder!!« – Hans sagte: »Wir hätten eben nur eine große Partei haben dürfen. In die hätte ich vielleicht dann auch gepaßt …«

Die Monate vergingen. Hans und Ernst hatten Sorgen; die Unterstützung war ihnen reduziert worden. Sie machten Gelegenheitsarbeiten; aber das war unerlaubt und konnte mit der Ausweisung bestraft werden. Es ging nicht anders, wenn sie ihr Zimmer halten und nicht in eines von den »Lagern« ziehen wollten, wo viele von ihren Kameraden untergebracht waren. Schon das Wort »Lager« war unangenehm; es erweckte Erinnerungen ans Dritte Reich … Hans und Ernst trugen Koffer von den Bahnhöfen in die Hotels; sie halfen in einer Gärtnerei; spülten Teller ab; verkauften deutsche antifaschistische Literatur in den Cafés … Nach und nach kam das Heimweh. »Berlin war doch besser«, sagten sie immer häufiger. Die lange Trambahnfahrt vom Wenzelsplatz nach Košire wuchs ihnen zum Halse heraus. Sie fanden auch, daß die Stadt schmutzig war; der Kohlenstaub machte die Hemden, das Gesicht und die Hände schwarz. »In Berlin ist man nicht so dreckig geworden«, meinten sie verdrossen, wenn sie sich abends wuschen. – Dabei zitterten sie immer davor, ausgewiesen zu werden.

Hans gebrauchte immer häufiger seine alten, grimmigen Redensarten: »Man sollte alles zerschlagen. Es muß ein großer Krach kommen, der alles kaputt macht. Alles ist Scheiße.«

Manchmal aber sagte er zu seinem Freund Ernst: »Ich komme mir selbst schon ganz ulkig vor, weil ich mich an so komische Sachen klammere und über Dinge nachdenke, die in Wirklichkeit sicher ganz unwichtig sind. Dieses Mädel da, die Freundin vom Konni, der ich immer Briefe schreiben muß – ich habe so ein Gefühl – die ist eine brave Person; die wäre vielleicht was für mich; die könnte mir vielleicht helfen …«

»So’n Quatsch«, sagte Ernst.

Kikjou war bei Martin geblieben. Das Zimmer im Hotel »National«, wo es nach Staub und nach Jasminparfüm roch, war eigentlich zu eng für zwei Personen. Aber sie merkten es nicht.

Sie sahen fast niemanden, immer nur einer den anderen. Manchmal trafen sie Marion für eine halbe Stunde. »Marion ist wunderbar«, sagten sie, wenn sie sich wieder von ihr getrennt hatten. »Aber ohne sie ist es doch noch besser.«

Wie lange dauerten diese ersten Tage der unendlichen Gespräche und der unendlichen Umarmungen? Eine Woche, oder zwei, oder drei? – In Wahrheit mochten es vielleicht zehn Tage sein.

Als Martin eines Morgens aufwachte, kauerte Kikjou neben ihm im Bett und schaute ihn sinnend an aus den vielfarbigen Augen. Den Unterkiefer hatte er vorgeschoben; mit beiden Händen hielt er einen Strohhalm, an dem er eifrig kaute. Sein bleiches Gesichtchen glich dem Antlitz eines müden, zarten kleinen Affen.

»Mon petit singe!« lachte Martin. »Was ist mit dir los? Du siehst aus wie ein zwölfjähriger Junge, der eine fürchterliche Unart ausbrütet. Was hast du vor?« – »Ich muß wegfahren«, erwiderte Kikjou, immer noch den Strohhalm zwischen den Zähnen. Und als Martin sich erschrocken erkundigte: »Wohin?« – sagte er, mit einer sanften Stimme, die aber keinen Widerspruch duldete: »Nach Belgien, zu meinem Onkel. Vielleicht wird er mir verzeihen.« – Was der Onkel ihm denn verzeihen solle, wollte der fassungslose Martin wissen. – »Daß wir soviel gesündigt haben«, war die ernste Antwort des kleinen Kikjou.

Nun ärgerte sich Martin ein bißchen. »Wenn das Sünde ist …« machte er beleidigt.

Kikjou legte ihm begütigend die Hand auf die nackte Schulter. »Sei nicht böse!« Dabei hatte er die Augen voll Tränen. »Ich weiß nicht, was Sünde ist. Niemand weiß es. Sogar der Onkel weiß es wohl nicht genau. Vielleicht ist dem lieben Gott besonders wohlgefällig, was die Menschen in ihrer Torheit für entsetzlich halten. Uns wird nicht mitgeteilt, wann wir Anstoß und wann wir Freude erregen. – Aber ich brauche ein paar stille Tage, um nachzudenken.«

Als Kikjou abgereist war, wurde Martin sehr traurig. Wenn er mit Marion, Helmut Kündinger und den anderen Freunden in einem Montparnasse-Café saß, sehnte er sich nach der Einsamkeit seines Zimmers. Dort aber war es noch ärger, und er lief zu Professor Samuel oder zur Schwalbe, weil er es nicht aushielt, allein zu sein. Kikjou hatte die Adresse des frommen Onkels in Belgien nicht verraten. »Ich werde von mir hören lassen – wenn es Zeit ist …« hatte er beim Abschied geheimnisvoll gesagt. Martin konnte ihm nicht einmal schreiben.

Manchmal dachte er: ›Es ist vielleicht gar nicht Kikjou, nach dem ich mich sehne. Ich sehne mich nach Berlin. Ich habe Heimweh nach den Straßen von Berlin, nach ein paar Lokalen und ein paar Menschen, und vielleicht sogar nach den alten Korellas … Ich habe mich doch recht an sie gewöhnt in all den Jahren, obwohl sie mir oft entsetzlich auf die Nerven gingen. Es war so angenehm, Menschen zu haben, die sich immer Sorgen um einen machten. Man braucht das, es erhöht das Selbstgefühl …

Nein‹, beschloß er dann wieder, ›in Berlin möchte ich gar nicht sein. Es ist gräßlich dort. Ich bin froh, daß ich diese Stadt nicht mehr sehen muß. Heimweh nach der Stadt habe ich sicher nicht. Es ist die eigene Kindheit, nach der ich Heimweh habe. Ich möchte wieder mit Marion im Garten Murmeln spielen oder Krocket und mich vom Vater ein bißchen schimpfen lassen, weil ich zu spät nach Hause komme zum Abendessen. Was für gute Zeiten sind das gewesen! Nach ihnen sehne ich mich … Sogar das Kranksein hatte seine Reize. Die schmeichelhafte Sorge, von der man umgeben wurde, war dann am stärksten und zärtlichsten … Mutter hatte viel Talent zur Krankenpflegerin … Wie alt mag ich gewesen sein, als ich die Nierenkoliken hatte, die so ungeheuer schmerzhaft waren …? Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt … Sonderbar eigentlich: später habe ich nie wieder mit den Nieren zu tun gehabt … Die arme Korella rang vor Entsetzen die Hände, wenn ich mich in Schmerzen wand. Vielleicht krümmte ich mich sogar mehr, als unbedingt nötig war, weil es mir Vergnügen machte, Mutter die Hände ringen zu sehen … Außerdem hatte ich wohl auch noch andere Gründe, meine Qualen zu übertreiben. Denn ich mochte das Mittel sehr gern, das der Hausarzt mir verabreichte. »Da müssen wir wohl etwas Linderndes geben«, sagte der Onkel Doktor und schmunzelte wie der Weihnachtsmann, ehe er die Geschenke auspackt. Dann applizierte er mir eine Spritze ins Bein. Ich hatte erst etwas Angst vor dem Stich; aber bald gewöhnte ich mich daran. So angenehme Gefühle kamen über mich nach der Injektion … Stundenlang lag ich mit geschlossenen Augen auf dem Bett; aber geschlafen habe ich nicht. Obwohl ich wach war, kamen die Träume. Recht hübsche Träume, wie ich mich erinnere … Die Nierenschmerzen, so arg sie waren, nahm ich gern in Kauf, um der reizenden Träume willen …‹

An diesem Abend besuchte Martin allein eine Music Hall im Faubourg Montmartre. Dort trat ein Clown auf, über den er sich früher einmal in Berlin amüsiert hatte. Er versprach sich eine Zerstreuung davon, ihn wiederzusehen. Aber das Programm langweilte ihn. Der berühmte Komiker sollte erst nach der Pause erscheinen. Martin hatte sich eine billige Karte genommen, die ihn nur zum Aufenthalt im »Promenoir«, dem Stehparterre, berechtigte. Die Luft dort war heiß und stickig. Martin fühlte sich müde und angewidert. Im Zwischenakt trank er einen doppelten Cognac am Buffet. Dann verließ er das Theater und ging zum Boulevard de Clichy hinauf.

 

Er trank noch mehrere Cognacs in mehreren kleinen Bars, und schließlich blieb er in einem stillen Café, nahe der Place Blanche, sitzen. Er bestellte sich einen Pernod Fils; dann noch einen. Der Kopf wurde ihm ziemlich schwer. ›Hier ist es relativ angenehm‹, dachte er und legte die heiße Stirn in die Hände. ›Hier bleibe ich eine Weile. Wenn ich sehr spät nach Hause komme und ziemlich viel Pernod getrunken habe, werde ich vielleicht schlafen können.‹

Es gab fast keine Gäste im Lokal. Das elektrische Klavier spielte die Ungarische Rhapsodie von Liszt. Der Barmixer – ein sehr magerer, bleicher Bursche mit tiefen Schatten um die trostlos blickenden Augen – unterhielt sich, über die Theke weg, mit einem Mann, der Martin den Rücken zudrehte. Es kam dem Einsamen vor, als ob die beiden über ihn sprächen. Der Mixer schaute mehrfach zu ihm hin, und der Mann an der Bar drehte sich einmal um, um ihn schnell und scharf zu fixieren. Aber Martin war nicht neugierig auf die Geheimnisse der zwei. ›Vielleicht überlegen sie sich, ob sie mir ein Mädchen verkaufen können‹, dachte er verächtlich. ›Wahrscheinlich die dicke Alte, die dort drüben in der Ecke schlummert.‹ Er schloß die Augen. ›Diese Ungarische Rhapsodie ist ein hundsordinäres, aber immer wieder effektvolles Stück. Komisch, wie mich das rührt … Jetzt könnte ich weinen. Aber das wäre ein zu idiotisches Benehmen: einsam in einer kleinen Montmartre-Bar sitzen, diese gemeine Musik hören und Tränen vergießen … Wenn ich nur Kikjous Adresse wüßte, dann könnte ich ihm gleich ein paar Zeilen schreiben – das wäre jetzt die beste Beschäftigung … Seine Geheimnistuerei mit dem katholischen Onkel ist etwas kindisch … Ob er wirklich an den lieben Gott glaubt …? Alter Herr Korella wurde immer ein bißchen gereizt, wenn Mama den lieben Gott erwähnte. Liebe Hedwig, sagte er, der Junge ist wirklich schon zu groß, um ihm Ammenmärchen zu erzählen. Du weißt doch, ich mag das nicht. – Ein sehr aufgeklärter Mann!‹ Martin kicherte höhnisch in sich hinein. ›Alter Herr Korella ist Freidenker. Das hat auch etwas Drolliges. Schade, jetzt ist die Rhapsodie zu Ende. Die alte Hure dort drüben schnarcht aber wie drei besoffene Kutscher. Ich sollte mir noch einen Pernod kommen lassen. Der Mixer hat seltsame Augen. Es muß ja auch melancholisch stimmen, die ganze Nacht hier zu sitzen. Wahrscheinlich schläft er tagsüber. Martin, es ist ungesund, tags im Bett zu liegen – hat alte Frau Korella mir oft versichert. Wieso eigentlich …? Ob meine alten Herrschaften sehr unter diesen Nazis zu leiden haben? Papa ist ein so guter Patriot. Als ich abreiste, hat Mama mir gesagt: Wir haben nichts zu fürchten, mein Sohn. Unser Gewissen ist rein. Rührende alte Frau! Vielleicht werde ich sie nie wieder sehen; das würde mir doch leid tun, ganz entschieden.‹ – »Garçon, un autre Pernod, s’il vous plaît!« rief Martin und schlug die Augen auf. Da bemerkte er, daß der Mann, der sich vorhin nach ihm umgedreht hatte, neben ihm am Tische saß. – »Bonsoir, Monsieur«, sagte der Mann.

Er sah sehr ramponiert aus und war wohl noch ziemlich jung. Sein gedunsenes, schlaffes Gesicht zeigte grauweiße Färbung. Die Pupillen in den nah beieinander liegenden, dunklen und engen Augen waren auffallend klein: glitzernde schwarze Punkte, winziger als ein Stecknadelkopf. »Bonsoir, Monsieur«, sagte auch Martin, und er dachte: ›Wieso habe ich ihn nicht gehört, als er an den Tisch kam? – Mein Gott, der Mensch will sich mit mir unterhalten! Das hat mir gerade noch gefehlt!‹

Wirklich begann der andere eine Konversation über gleichgültige Gegenstände. Er sprach über das Wetter, die Fremdensaison, die Kriegsgefahr und die hohen Preise. Martin antwortete, so gut er konnte, in seinem noch recht ungewandten, stockenden Französisch. ›Worauf will er hinaus?‹ überlegte er sich. ›Der führt doch irgend etwas im Schilde …‹ – Sein Nachbar hatte eine merkwürdig prüfende, fast lauernde Art, ihn zu beobachten. Zuweilen lächelte er, plötzlich und überraschend, als wollte er sagen: ›Wozu machen wir uns gegenseitig etwas vor, lieber Freund? Es wird allmählich Zeit, daß wir zur Sache kommen!‹ – ›Zu welcher Sache?‹ erwiderte Martin ihm stumm, nur durch Blicke. ›Ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie meinen, mein verehrter, ungesund aussehender Monsieur.‹

Es gab im sinnlosen Gespräch eine Pause. Nach dem kleinen Schweigen erkundigte sich der Fremde, bedeutungsvoll grinsend: »Schmecken Ihnen die Drinks?«

»Ja – warum?« machte Martin erstaunt. »Es ist guter Pernod.«

»Sie sehen nicht wie ein Alkoholiker aus«, sagte der Mann.

»Es kommt auch ziemlich selten vor, daß ich trinke«, sagte Martin.

»Ach so«, nickte der Mann. Und, nach einer Pause, besonders hinterhältig: »Wahrscheinlich haben Sie gerade nichts – anderes?«

Martin deutete durch erstauntes Achselzucken an, daß er nicht begriff. Der andere, statt sich zu erklären, fragte nebenbei: »Wer hat Ihnen denn diese Adresse empfohlen?«

Welche Adresse? – wollte Martin wissen. »Ich bin zufällig hierher gekommen.«

»So, so«, sagte der Fremde. »Da haben Sie Glück gehabt. Sie sind an der richtigen Stelle.«

Nun begann Martin sich zu interessieren. »An was für einer Stelle denn?« fragte er neugierig.

»Stellen Sie sich nicht dumm!« bat ihn der Bleiche, nun seinerseits etwas enerviert und gelangweilt. »Ich weiß doch, worauf Sie aus sind. Ich habe Blick für so was.«

Und er flüsterte heiser, den Oberkörper vorgeneigt, das fahle, dicke Gesicht mit den brennenden kleinen Augen unheimlich in Martins Nähe gerückt: »Ich bin Pépé.«

»Sehr erfreut«, sagte Martin. »Mein Name ist Fritz Meier.«

»Haben Sie noch nie von mir gehört?« Pépé schien enttäuscht. »Es ist ein Vertrauensbeweis, daß ich mich vorgestellt habe. Aber mein Instinkt trügt mich nie. Sowie ich Sie gesehen habe, wußte ich: Das wird ein Kunde für mich.«

»Was verkaufen Sie denn?« – Martin fing an zu verstehen.

Pépé lachte wie bei einem guten Witz. Nachdem er sich genug amüsiert hatte, erklärte er, wieder ernst: »Ich habe eine ganz neue Sendung. Prima Ware. Heute erst aus Marseille gekommen.«

»Was ist es denn?« forschte Martin.

Pépé rückte noch näher an ihn heran. »Sie meinen – K. oder H.?« fragte er, anzüglich grinsend.

Martin erkundigte sich naiv: »Was ist das – K. oder H.?«

Pépé lachte wieder ein bißchen, ehe er flüsterte: »Kokain oder Heroin! Sie scheinen aber wirklich noch ein rechtes Kind zu sein! Ein Anfänger, wie ich sehe! Deshalb gefallen Sie mir gerade. Sie sind sicher ein besserer Mensch – ein Intellektueller; so was merke ich doch. – Man muß immer vorsichtiger werden! Die Polizei ist überall hinter uns her. Gestern ist wieder eine Razzia gewesen. Kommen Sie mal mit mir auf die Toilette!«

Er erhob sich und schlenderte zu der Türe, wo »Messieurs« stand. Martin zögerte eine Minute, ehe er folgte.

Es war eine recht primitiv eingerichtete Lokalität. Nicht einmal eine Sitzgelegenheit gab es; sondern, neben dem Abtritt, nur zwei Stützpunkte für die Füße. Übrigens roch es garstig.

Pépé hatte schon die Brieftasche gezogen. Er entnahm ihr ein Päckchen aus starkem, rotem Papier. »Eine Qualität wie für Prinzen!« verhieß er noch, ehe er das Päckchen öffnete, und küßte sich, selbst entzückt von der Feinheit dessen, was er zu bieten hatte, die Fingerspitzen. »Schauen Sie mal, wie das funkelt! Wie lauter kleine Kristalle!« – Martin blickte neugierig hin; was er in der kleinen roten Hülle entdeckte, war ein grauweißes Pulver. »Es sind drei gute Gramm«, erklärte Pépé und wog seinen leichten Schatz liebevoll auf der Handfläche. »Ich lasse es Ihnen für zweihundert Francs.«

Martin, seinerseits ziemlich heiser flüsternd, brachte hervor: »Ich weiß aber gar nicht – ob ich Kokain überhaupt mag …« Und war doch schon fast entschlossen, dem verdächtigen Gesellen sein Zeug jedenfalls abzukaufen.

»Dummerchen!« Pépé sagte es beinah zärtlich, mit den gedunsenen, fahlen Lippen nah an Martins Ohr. »Ich sehe doch, daß du kein Typ für Koks bist. Koks ist eine Droge für kleine Huren. Du hast ein Gesicht wie ein Philosoph. – Es ist Heroin, feinste Sorte!« Martin spürte seinen Atem an der Wange; er ekelte sich, wandte sich aber nicht ab. »Wenn du mir nicht so sympathisch wärst«, raunte der Händler, »würdest du das gute Zeug gar nicht kriegen! Hast du denn eine Vorstellung, was ich riskiere, indem ich dir so was anbiete? – Aber ich kenne dich, ich kenne dich schon … Du bist ein feiner Kerl, du hast Weltschmerz, vielleicht ist eine Geliebte dir weggelaufen, da brauchst du ein bißchen Trost. Der Pernod genügt dir nicht, du mußt etwas Besseres haben. Da ist etwas Besseres … Da …« flüsterte er verlockend. »Ich lasse es dir für nur zweihundert Francs, weil ich weiß: du wirst ein guter Kunde von mir. Du kommst wieder, und oft – da habe ich gar keine Zweifel …« Pépé legte ihm einen schweren, weichen Arm um die Schulter. Martin spürte, daß ihm gleich übel werden würde: vom Gestank des Aborts und von der Nähe dieses Menschen.

»Gut. Ich nehme es«, sagte er mühsam und langte schon nach dem Geld. Dann zögerte er noch einmal: »Wie konsumiert man solches Zeug eigentlich?«

»Mach nur schnell, nimm endlich das Päckchen«, drängte Pépé. Er schien weniger gierig danach, das Geld zwischen seinen Fingern zu spüren, als er drauf aus war, das Pülverchen in der Hand seines Kunden zu sehen. ›Er ist wie der Satan‹, mußte Martin plötzlich denken. ›Wie der Teufel, der es nicht erwarten kann, die Blutsunterschrift seines Opfers unter dem verhängnisvollen Vertrag zu haben …‹

»Auf welche Art man es konsumiert?« kicherte der Böse. »Ganz, wie’s beliebt, Herzchen, ganz, wie es dir Spaß macht, du wirst’s schon noch lernen – wenn du es wirklich noch nicht weißt. Du kannst es durch die Nase hochziehen: so!« Er nahm eine kleine Prise auf den Handrücken und schnupfte sie mit Genuß. »Oder du kannst es in Wasser auflösen und dir einspritzen. Darauf kommst du bald genug, mein Schatz!«

Martins Hände zitterten, als er die Fünfzigfrancsscheine hinzählte und das Päckchen zu sich steckte. Pépé ließ ihn noch wissen: »Mich findest du immer hier, das ist mein Stammlokal. Mittags zwischen elf und zwölf und abends ab zehn Uhr kannst du mich gar nicht verfehlen – solange ich die Adresse nicht aus Vorsichtsgründen ändere. – Au plaisir, mon vieux, à bientôt. Ich bleibe noch einen Moment auf dem Lokus.«

Martin kam leicht taumelnd in die Bar zurück.

»Ich zahle zwei Pernod Fils«, sagte er zum Mixer und versuchte, sich ein würdig unbefangenes Aussehen zu geben. Der Bursche musterte ihn mit einem Lächeln, das höhnisch, aber nicht ohne eine gewisse gutmütige Mitleidigkeit war, von oben bis unten. »Sonst zahlen Sie nichts?« fragte er. Jetzt fiel es Martin auf, daß auch der Mixer in seinen dunklen, hungrigen Augen die winzig kleinen, stechenden Pupillen hatte.

Martin nahm sich ein Taxi an der Place Blanche und ließ sich zum Hotel »National«, Rue Jacob, fahren.

In seinem Zimmer zog er das Päckchen aus der Tasche, ehe er noch seinen Hut abgelegt hatte. Das dunkelrote, starke Papier war kunstvoll zusammengelegt; kein Stäubchen des Pulvers konnte verlorengehen. Martin schüttete sich ein wenig von der weißlichen Substanz auf den Handrücken, wie er es Pépé hatte machen sehen. Er trat vor den Spiegel, führte die Hand vorsichtig zur Nase und zog das Pulver hoch. Es kitzelte in der Nase, reizte die Schleimhäute und ließ die Augen feucht werden. Gleichzeitig spürte er einen bitteren Geschmack, hinten am Gaumen und in der Kehle. ›Wahrscheinlich ist das Ganze ein Schwindel‹, dachte er ärgerlich. ›Ich bin irgendeinem kleinen Halunken hereingefallen, und meine zweihundert Francs bin ich los …‹

Er setzte sich aufs Bett und wartete. Würde sein Zustand sich ändern? ›Ich verlange ja gar kein Glück‹, dachte er, ›ich beanspruche keine plötzlichen Wonnen. Was ich möchte, ist nur ein wenig Erleichterung. Daß diese Last weg wäre von meiner Brust! Daß diese fürchterliche Spannung sich löste! Daß ich ruhig würde! Mehr erhoffe ich nicht …‹

Und während er es dachte, war er schon ruhig geworden. Das Wohlgefühl, das sich einstellte, war unbeschreiblich. Es enthielt Frieden und eine schöne Erregung zugleich. Es war Entrückung und gesteigertes Leben. Übrigens brachte es auch etwas physische Übelkeit und leichten Brechreiz mit sich. Aber das störte kaum. Die Annehmlichkeit war zu groß. ›Welch magische Pulversubstanz hat dieser Pépé mir da für zweihundert Francs kredenzt!‹ dachte Martin benommen. ›So wohlig war mir nicht mehr zumute – seit wann? Seit mir der Onkel Doktor Injektionen gegen Nierenkolik verabreichte. Seit damals habe ich soviel Wohligkeit nicht gekannt … Jetzt möchte ich arbeiten … Ich habe unendlich zahlreiche und sehr gute Gedanken im Kopf … Ich werde mich nicht an den Tisch setzen, davon würde mir schlecht. Ich hole mir den Schreibblock ans Bett …‹

 

Nicht umsonst, nicht zufälliger- oder ungerechtfertigterweise haben die Deutschen den Ruf, das gründlichste Volk der Erde zu sein. Ihre Emigration dauerte erst ein paar Monate lang, sie hatte gerade begonnen; es ließ sich noch gar nicht absehen, welchen Umfang sie annehmen, welche Kreise und Typen sie in sich einbeziehen würde – da gingen exilierte deutsche Intellektuelle schon daran, sich über die »Soziologie der Emigration« zu unterhalten. David Deutsch – Kulturkritiker und Nationalökonom – erklärte, daß er eine größere Arbeit über diesen Gegenstand vorbereite. »Ein sehr faszinierendes Thema«, behauptete er. »Faszinierend gerade deshalb, weil die Menschengruppe, um die es sich hier handelt, durchaus kein einheitliches Gebilde, keine Gruppe also im eigentlichen Sinn des Wortes darstellt; vielmehr ein höchst zufälliges Gemisch von Individuen, denen durch sehr verschiedenartige Umstände ein ähnliches Schicksal aufgezwungen wurde.«

Man saß in dem kleinen Lokal, das die Schwalbe in einer engen Nebenstraße des Boulevard Montparnasse, ein paar Schritte vom »Café du Dôme« und der »Coupole«, eröffnet hatte. Es gab hier recht gutes Bier; billige Mahlzeiten deutschen oder österreichischen Stils; man traf alte Freunde, machte Bekanntschaften, besprach die politischen Neuigkeiten und bekam Kredit bis zu einer gewissen Grenze, die durchaus willkürlich und je nach ihren unberechenbaren Sympathien von der Schwalben-Wirtin bestimmt wurde. Die Stammgäste waren fast sämtlich Deutsche. Zuweilen brachten sie ihre französischen Freunde mit; Marion etwa erschien mit Marcel Poiret, oder Martin führte Kikjou ein.

»Ich glaube kaum, daß es jemals eine so uneinheitliche Emigration gegeben hat wie unsere«, sagte David und machte beim Sprechen seine schiefen, sinnlosen kleinen Verbeugungen vor Dora Proskauer, die ihm aufmerksam lauschte. »In fast allen anderen historischen Fällen war die Zusammensetzung der Exilierten bestimmt durch soziale, nationale oder gesinnungsmäßige Charakteristika: eben jene psychologischen oder ökonomischen Eigenschaften, die ihren Trägern den Aufenthalt in der Heimat unter gewissen politischen Umständen unmöglich machten. Was uns betrifft, so ist ein solches einigendes Moment, ein solcher Generalnenner kaum festzustellen.«

David Deutsch war sehr animiert. Auf seinem geisterhaft bleichen, wächsernen Gesicht wurden zarte rosa Farbtöne sichtbar; mit den dünnen, nicht eigentlich hageren, aber wie aus einer gewichtslosen, unirdischen Materie gebildeten Fingern fuhr er sich durch das blauschwarze, dichte, starre, negroid gekrauste Haar: das einzige an ihm, was von einer soliden, haltbaren, sturm- und wetterfesten Substanz zu sein schien.

»Hallo!« machte er plötzlich schreckhaft – so, als hätte sich jemand einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt: ihn etwa mit einem kalten Metall am Nacken gekitzelt. »Hallo! Nun habe ich aber etwas Riskantes gesagt, etwas Schlimmes!« Er drohte sich selbst mit dem Zeigefinger, zugleich erheitert und schaurig berührt von der Gewagtheit seiner eigenen Bemerkung. »Ei weh!« sagte er noch und wiegte schelmisch-klagend den Oberkörper, während Fräulein Proskauer ihn ernsthaft und interessiert beobachtete. »Wenn das stimmte, daß bei uns ein ›einigendes Moment‹ nicht vorhanden ist; wenn das Wort für Wort wahr wäre, was ich gerade unbedacht genug war anzudeuten – dann hätte der Hitler ein verdammt leichtes Spiel. Natürlich gibt es etwas, was wir alle gemeinsam haben – und wäre es zunächst nur der Haß.« Er war nun wieder ganz ernst geworden. In der Geisterblässe seines Gesichtes hatten die dunklen, kurzsichtigen Augen einen wilden Glanz. »Und sei es zunächst nur der Haß!« wiederholte er drohend, den schmalen Oberkörper schief nach vorne gereckt. »Beim Haß aber bleibt es nicht, und übrigens hat es mit ihm nicht angefangen.« Er sprach jetzt in einem heftigen Flüsterton; gleichsam raunend, beschwörend. »Angefangen hat es mit der Liebe. Wir haben alle unser Land geliebt – wie hätten wir sonst so fürchterlich betroffen sein können von seiner Heimsuchung, seiner Entwürdigung, seinem Sturz? – Nur haben wir es leider auf gar zuviel verschiedene Arten geliebt; hier liegt die Wurzel zu großem Unglück. Der eine verstand die Liebesform des anderen nicht; er beschimpfte sie wohl gar als Verräterei. So erklärt sich, daß die Dinge treiben konnten, wohin sie trieben.«

Er atmete schwer und schien recht erschöpft. Die Hand hatte er an die Stirne gepreßt, als wäre dort eine Wunde und er müßte das rinnende Blut aufhalten. – »Wir werden lernen müssen, alle gemeinsam eine Zukunft zu lieben«, sprach er schwer atmend, beinah keuchend weiter. »Das wird zunächst nicht leicht für uns sein; aber die Feinde jeder besseren Zukunft, die deutschen Herren, erleichtern es uns.« Er versuchte noch einmal, zu lächeln. Es mißlang; die imaginäre Wunde auf der Stirne tat ihm wohl gar zu weh. »Sie erleichtern es uns: indem sie uns nämlich das exakte Gegenteil zeigen von dem, was wir alle lieben wollen. Der Haß, durch den wir nun hindurch müssen, ist eine gute Schule. Haben wir sie erst hinter uns, so werden wir kundiger geworden sein – in der Liebe …«

Wußte er noch, daß die häßliche Proskauer ihm zuhörte? Es war deutlich, daß er monologisierte; daß er tausendmal Gedachtes, Überlegtes, Durchlittenes im raunenden Flüsterton aussprechen mußte, gleichgültig, in wessen Gegenwart. Freilich gab es niemanden – bei der »Schwalbe« nicht und nirgendwo sonst – der es so verstand wie die Proskauer, sich selber auszuschalten, gleichsam unsichtbar zu werden, nur Gehör zu sein. Die kleinen, runden, goldbraunen Augen, deren kluger Blick behindert schien durch die ungeheure, gebogene Nase, hingen andächtig und gerührt an den beweglichen Lippen des David Deutsch.

Der besann sich plötzlich, daß er nicht alleine war und wovon er hatte sprechen wollen. Einem Dozenten ähnlich, der vom Thema seines Vortrages abgeschweift ist und nun das Auditorium um Verzeihung bittet, sagte er, die rechte Schulter schief nach vorne drehend (wobei er endlich die Hand von der Stirne nahm – man war erstaunt, sie blank und unversehrt zu finden): »Aber wohin lasse ich mich entführen? Warum unterbrechen Sie mich nicht, liebe Dora?«

»Die Abweichung hat sich gelohnt«, konstatierte die Proskauer, ruhig und sachlich; ihre Worte kamen unter der enormen Nase hervor wie ein gleichmäßig plätscherndes, nüchtern freundliches Bächlein unter einer jäh vorspringenden Felszacke.

»Das Problem unserer Emigration« – David Deutsch sprach nun in einem Ton und mit einer Mimik, als wendete er sich an eine größere Versammlung – was wiederum nur eine andere Form des Monologisierens war – »das Problem unserer Emigration wird kompliziert, fast möchte ich sagen: korrumpiert, durch den Umstand, daß ein erheblicher Teil unserer Leidensgenossen nicht aus Überzeugung, sondern nur durch Zwang ins Exil gekommen ist. Ich rede von den Juden.«

Er machte eine effektvolle kleine Pause. Die Proskauer nickte ihm aufmunternd zu. David rückte nervös die Schulter, räusperte sich und fuhr fort: »Wie viele deutsche Juden würden sich mit dem infernalischen Phänomen ›Nationalsozialismus‹ herzlich gern abfinden – wenn der Nationalsozialismus nicht antisemitisch wäre?« Der Redner stellte die Frage mit unheilverkündender Strenge. »Die totale Barbarei, die der Nationalsozialismus bedeutet – und von welcher der Antisemitismus nur ein besonders krasses, fast möchte ich sagen: besonders pittoreskes Symptom ist – wie viele deutsch-jüdische Bankiers, Theaterdirektoren oder Feuilletonredakteure würden denn nun wirklich Anstoß an ihr nehmen – wenn sie nicht eben dazu gezwungen wären?!«