Klaus Mann - Das literarische Werk

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»Vielleicht«, gab Martin zu bedenken – jedes seiner Worte mit einer selbstgefälligen Langsamkeit schleppend – »vielleicht ist diese brave Attitüde durch den schönen Einfluß einer gewissen Tochter zu erklären …«

»Vielleicht. Bis zum gewissen Grade.« Marion biß sich in die Knöchel der geballten Faust, wie es ihre Angewohnheit war, wenn sie konzentriert nachdachte. »Aber mein Einfluß« – beschloß sie – »hat gewiß keine entscheidende Rolle gespielt. Die Seydewitz konnte ja gar nicht anders handeln, als sie es getan hat!« Dabei schüttelte sie, wie triumphierend, wieder das prachtvolle Purpurgelock. Martin lächelte, sphinxhaft, zärtlich und verschlafen.

In der Tat: Frau von Kammer, die geborene Baronesse von Seydewitz, konnte gar nicht anders, als sich mit gelassener, hochmütiger Unbedingtheit gegen das suspekte Phänomen des Nationalsozialismus zu stellen. In allen politischen Dingen war sie vollkommen ahnungslos; aber für den neudeutschen »Erlöser« und seinen Anhang hatte sie nur das angewiderte Achselzucken, mit dem sie einen schlecht gebauten alten Klepper abgelehnt hätte, den man ihr als Rennpferd anzubieten wagte. Ihr Instinkt für biologische Werte – viel schärfer entwickelt als ihr Gefühl fürs Moralische – bewahrte sie davor, auf die Tricks der Demagogen auch nur eine Sekunde lang hereinzufallen. Hinzu kam ihr höchst empfindliches Gefühl für die Würde ihrer Familie, das durch die neue Staatsreligion verletzt wurde.

Denn das Rassendogma beleidigte das Andenken ihres verstorbenen Gatten. Der Geheimrat von Kammer war Jude gewesen; seine Töchter galten nach neuester deutscher Auffassung als »Nichtarierinnen«. Den Adelstitel hatte der Geheimrat von seinem Vater, einem einflußreichen Bankier, geerbt. Seit einem halben Jahrhundert unterhielt die Frankfurter jüdische Patrizierfamilie gute Beziehungen zur Aristokratie und sogar zum Kaiserlichen Hof. Marie-Luisens seliger Gatte, Alfred von Kammer – Internist von internationalem Ruf, Chef eines großen Berliner Krankenhauses – hatte das Faktum seiner jüdischen Herkunft niemals verleugnet, sondern es eher, auf seine unpathetische, jovial-scherzhafte Art, zu betonen geliebt. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als Marie-Luise, deren Vater, dem General, er die letzten Lebensstunden zwar nicht wesentlich verlängert, aber durch klug gewählte Tropfen und Injektionen doch ein wenig erleichtert hatte.

Familie von Seydewitz lebte in Hannover und hatte kein Geld. Der General war stockkonservativ; verachtete aber die meisten seiner Standesgenossen – wegen ihrer Unbildung und kulturellen Zurückgebliebenheit – womöglich noch mehr als die grauenhaften Sozialdemokraten. Abends, bei der Lampe, las er seiner Frau und den Töchtern aus den Schriften von Goethe, Stendhal, Lord Byron und Theodor Fontane vor. Als er krank ward, bestand er darauf, daß man den berühmten jüdischen Spezialisten rief. Professor von Kammer verliebte sich prompt in das spröde, arme, hochmütige und sehr hübsche Fräulein von Seydewitz. Während einer beinah zwanzigjährigen Ehe wurde er sich niemals darüber klar, ob sie ihn wiederliebte oder je wiedergeliebt hatte. Vielleicht hatte die kleine Baronesse ihn nur geheiratet, weil er eine gute Partie war. Das Problem – ob Marie-Luise ihn liebte – beschäftigte den großen Arzt zwei Jahrzehnte lang. Als er sich zum Sterben niederlegte, zeigte sie ihm, zum ersten Mal, eine heftige, bewegte Zärtlichkeit. Die Gebärde, mit der sie sich über sein Lager warf, hatte eine Vehemenz, die den Geheimrat an seiner reservierten Gattin verblüffte. »Bitte, bitte – stirb nicht!« flehte Marie-Luise – schamlos, fassungslos in ihrer Angst. Wovor fürchtete sich denn die geborene von Seydewitz? Sie gestand es selbst; denn sie schrie: »Dann wäre ich ganz allein!« Der Geheimrat starb aber doch. Das war im Jahre 1925.

Herr von Kammer hatte schon am 9. November 1918 beschlossen, nun wolle er nicht mehr lang leben. Die Niederlage des Reiches, der Zusammenbruch der Monarchie hatten ihn psychisch und physisch erledigt – übrigens auch finanziell. Er war ein glühender Patriot und fanatischer Anhänger des Hauses Hohenzollern – während Marie-Luise, was vaterländische Gefühle betraf, sich zwar korrekt, aber eher kühl verhielt und die kaiserliche Familie sogar ein wenig verachtete.

Der Geheimrat hinterließ seiner Witwe ein nur geringes Vermögen; den größten Teil seiner stattlichen Guthaben hatte er in Kriegsanleihe investiert – und also verloren. Der immer noch beträchtliche Rest zerschmolz ihm während der Inflation.

Marie-Luise verkaufte, Stück für Stück – übrigens nicht ohne kommerzielle Geschicklichkeit – die Renaissanceteppiche, Biedermeierkommoden und die kleine Bildersammlung – Böcklin, Schwind, Spitzweg, Leibl, Hans Thoma – die den Schmuck ihrer repräsentativen Wohnung in der Tiergartenstraße ausgemacht hatten. Das geringe Kapital brauchte sie noch nicht anzugreifen. Von den Zinsen und dem Erlös der Verkäufe konnte sie ihre bescheiden gewordene Existenz samt standesgemäßer Erziehung der Töchter bestreiten.

Es bedeutete entschieden eine Enttäuschung für die Mama, daß ihre Älteste, Marion, zum Theater wollte. Indessen war Marie-Luise zu intelligent, um Einspruch zu erheben. ›Wenn sie als Schauspielerin keine Karriere macht, wird sie heiraten‹, dachte sie und genehmigte Marion ein paar hundert Mark extra, damit sie mit einem anständigen Garderobebestand ins erste Provinzengagement reisen könne. Tilly ihrerseits erklärte, am Tage ihres siebzehnten Wiegenfestes, nicht ohne Feierlichkeit, daß sie sich zur Malerei berufen fühle. Die Mama schlug vor, ob sie es nicht zunächst mit der Herstellung von stilisierten Lampenschirmen und netten Glastieren versuchen wolle; dergleichen hatte mehr praktische Aussichten als Ölgemälde oder Kupferstiche. Tilly ging zur Kunstgewerbeschule. Frau von Kammer hoffte, daß wenigstens bei der kleinen Susanne jener Drang nach künstlerischer Aktivität, der bei den Älteren so heftig schien, ausbleiben werde. Freilich: sogar junge Damen aus erstklassigen und selbst noch wohlhabenden Häusern zeigten heutzutage eine gewisse Neigung, sich »auf eigene Füße zu stellen«. Trotzdem war die geborene von Seydewitz der Meinung, daß arbeitende Mädchen schwerer zu verheiraten seien als faule. Woher hatten Marion und Tilly ihre Talente und ihren unruhigen Ehrgeiz? In der Familie von Seydewitz kam dergleichen nicht vor. Sie mußten es von den Kammers geerbt haben.

Dabei konnte man nicht eigentlich sagen, daß Marion, äußerlich oder als Charakter, dem Vater glich. Ihr vehementer, aggressiver Charme, ihre begabte Nervosität, ihre Unrast, ihr Eigensinn waren weder in der jüdischen Patrizierfamilie noch in dem preußischen Aristokratengeschlecht vorher da gewesen. Die hohen und schmalen Beine hatte sie von der Mutter; den gescheiten, manchmal grüblerisch sich verdunkelnden Blick vielleicht vom Papa. Aber es blieb an diesem kompliziert zusammengesetzten und fast beunruhigend reizbegnadeten biologischen Phänomen, genannt »Marion«, ein großer Rest von durchaus fremdartigen Qualitäten; eine Fülle von Zügen, die der Mutter erstaunlich, unverständlich und beinah erschreckend schienen.

Tilly erinnerte auf eine klarere, eindeutigere Art an den Vater: schon durch ihre Neigung zur Rundlichkeit – sie tat gut daran, auf ihre Linie zu achten; aber auch durch Form und Ausdruck ihres intelligenten, weichen, gutmütig sinnlichen Gesichtes. Tillys Lippen, besonders, ließen Marie-Luise oft an den seligen Geheimrat denken: dieser genußfreudige, ein wenig zu üppige Mund, der immer ein wenig feucht wirkte – als hätte er gerade etwas Leckeres, Fettes, Honigsüßes verzehrt, oder als hätte er sich soeben erst von einem anderen nassen Mund gelöst, an dem er sich mit langem Kusse festgesaugt. Übrigens war es diesem Munde, auf eine überraschende, fast fürchterliche Art, auch gegeben, Schmerz, sogar Verzweiflung auszudrücken. Es geschah zuweilen, daß Tillys Lippen sich tragisch öffneten, wie zu einem stummen Schrei, und ehe die Augen noch Tränen vergossen, schienen die feuchten Lippen zu weinen.

Von dem Kind Susanne durfte man erwarten, daß eine veritable von Seydewitz aus ihr werde: sie brachte das Zeug dazu mit. Marie-Luise mochte als kleines Mädchen hübscher und wohl auch, auf ihre spröd befangene Art, liebenswürdiger gewesen sein. Gewisse Züge, die bei der Mutter erst jetzt, im Alter, hervortraten, waren bei Susanne schon in zarter Jugend auffallend: etwa das zu lange, hart geformte Kinn; die schmalen, aufeinandergepreßten Lippen und die ein wenig bitteren Falten, von denen die Mundwinkel abwärts gezogen wurden. Das Kind Susanne hatte wasserblaue, streng blickende Augen und frisierte sich das dünne, aschblonde Haar zu steifen kleinen Zöpfen, von denen man den Eindruck bekam, daß sie hart und kühl anzufühlen sein müßten wie Metall. Im Jahre 1931 wollte Susanne Mitglied einer nationalsozialistischen Jugendorganisation werden. Frau von Kammer mußte es ihr verbieten und sie auf die jüdische Abkunft ihres Vaters schonend aufmerksam machen. Susanne, die davon nichts geahnt hatte, wurde bleich und verstummte. Dann weinte sie lange. »Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen«, versuchte Marie-Luise sie zu trösten. »Er hat seinem Lande große Dienste geleistet.«

Die geborene von Seydewitz war keineswegs gewillt, mit irgend jemandem eine Philosophie und politische Konzeption zu diskutieren, der zufolge ihr verstorbener Gatte zu einem Bürger zweiter Klasse, einem Paria degradiert ward. Sie brach rigoros den Verkehr mit allen jenen unter ihren Bekannten ab, die der Rassedogmatik des Nationalsozialismus anhingen. Ihren Freundinnen – von denen die meisten zum mittleren preußischen Offiziersadel gehörten – erklärte sie: »Diese Nazis sind noch schlimmer als sogar die Kommunisten. Bei denen weiß man doch wenigstens, was sie sind: unsere Feinde. Die Nazis aber spielen sich als die Bewahrer unserer heiligsten Güter auf und sind in Wahrheit doch nur respektlose Plebejer.« Die Offiziersgattinnen schwiegen pikiert, wenn die geborene von Seydewitz scharf betonte: »Wer behauptet, ein Jude könne kein guter deutscher Patriot sein, der ist ahnungslos, oder er lügt. Mein seliger Vater – sicherlich ein preußischer Soldat von guter alter Art – zählte einige Juden zu seinen intimsten Freunden. Meine Mädels sind in einem tadellosen Geist erzogen worden. Soll ich es mir nun bieten lassen, daß man sie plötzlich wie Pestkranke behandelt?« Marie-Luise, sonst so fein und still, sprach mit einer vor Indigniertheit beinah klirrenden Stimme.

 

Was den verstorbenen General von Seydewitz betraf, so war es bekannt, daß er seiner Familie abends aus den Werken deutscher und sogar ausländischer Poeten vorgelesen hatte – was befremdlich genug wirkte – und daß er, seiner eigenen Kaste gegenüber, von einer sonderbaren Reserviertheit gewesen war. Und was gar die beiden jungen Fräulein von Kammer anging: da hatten Marie-Luisens gute Freundinnen recht gemischte – oder eigentlich schon: ganz eindeutige – Gefühle. Untereinander redeten sie, halb mitleidig, halb entrüstet, über Marion und Tilly. »Die arme Marie-Luise ist blind«, wurde getuschelt. »Sieht sie denn wirklich nicht, wie anstößig sich die jungen Dinger betragen?! Beide schminken sich ja, daß man meinen könnte, sie seien – ich will lieber gar nicht sagen, was!« Die Damen schüttelten die Köpfe und schnitten Grimassen, als hätte man ihnen etwas Widriges in den Tee geschüttet. »Kein Wunder«, sagten sie noch. »Die Rasse des Vaters schlägt durch.«

Frau von Kammer war keineswegs blind für die etwas riskanten Allüren ihrer beiden erwachsenen Kinder. Es schmerzte sie bitter, daß die Mädchen sich nicht ihren Umgang in den konservativen, vornehmen Kreisen suchten, die das Milieu der Mutter waren, und um deren Gunst der Geheimrat sich ein Leben lang mit Zähigkeit und Erfolg bemüht hatte. Woher kam ihnen nur der unglückselige Hang zur Bohème? Dieser extravagante kleine Pariser – Marcel Poiret – mit dem Marion fast ihre ganze freie Zeit verbrachte, war durchaus nicht nach dem Geschmack der Mama. Auch Martin Korella, den Marion schon als kleines Mädchen gekannt hatte, kam Frau von Kammer etwas unheimlich vor. Seine schleppende Art zu sprechen, sein verhangener, zu süßer und zu trauriger Blick, die selbstgefällige Ironie seiner Äußerungen. »Es paßt sich nicht für einen jungen Mann«, sagte Marions Mutter, »und überhaupt, er hat so gar nichts Frisches.«

Der Student, den Tilly ihren Bräutigam nannte, Konni Bruck, machte einen sympathischeren Eindruck; aber Frau von Kammer wußte, daß er sich mit Politik beschäftigte, und zwar auf ungehörige Weise. Er war mindestens Sozialdemokrat, vielleicht sogar Kommunist: die Geheimratswitwe wollte es gar nicht so genau wissen. Jedenfalls stand fest, daß er Tilly in politische Versammlungen schleppte – an Orte also, wohin junge Mädchen keineswegs gehören – ebensowenig wie in Nachtlokale, die Konni Bruck auch mit Tilly zu frequentieren pflegte.

All dies beschäftigte und betrübte Marie-Luise. Aber der Familienhochmut und ihre Liebe zu den beiden Mädchen verboten es ihr, jemals einem ihrer Bekannten gegenüber solche Sorgen anzudeuten. Schließlich war die Mutter auch stolz darauf, daß Marion und Tilly viele Freunde und Bewunderer hatten. In einer gewissen Gesellschaft spielten die zwei entschieden eine Rolle – wenngleich es nicht genau die Gesellschaft war, die Frau von Kammer-Seydewitz sich für ihre Töchter gewünscht hätte.

Als die Nazis zur Macht kamen, war man in Marie-Luisens Kreisen zunächst begeistert. Nur ganz wenige Hellsichtige ahnten schon, daß nun Personen und Tendenzen herrschend wurden, die einem aristokratischen Konservativismus durchaus nicht in allen Stücken freundlich gesinnt waren. Ahnungslos wie die berauschte Masse, die in den Straßen lärmte, jubilierten die Offiziersdamen aus Potsdam oder Ostpreußen darüber, daß nun Schluß sein sollte mit dem Schandvertrag von Versailles und mit dem verhängnisvollen Einfluß der Israeliten.

Marie-Luise stand mit ihrer Bitterkeit und ihrem Haß ganz allein. Sie dachte an ihren Gatten und gab niemandem mehr die Hand, der ein Hakenkreuz im Knopfloch trug oder Heil Hitler rief. Wenn sie einem Trupp von Braunhemden auf der Straße begegnete, hielt sie sich ostentativ die Nase zu, anstatt den Arm zu recken. »Nazis stinken«, behauptete sie und wäre einmal fast verprügelt worden, weil eine Kleinbürgersfrau, die neben ihr stand, es gehört hatte.

Marion war abgereist, nachdem die Geheime Staatspolizei mehrere ihrer nächsten Freunde verhaftet hatte. Auch Tilly, die sich mit dem jungen Bruck in linken Versammlungen gezeigt hatte, wurde gewarnt: es lägen bei der Gestapo Denunziationen gegen sie vor – anonyme Briefe, wahrscheinlich von den guten Freundinnen ihrer Mutter; sie sei in akuter Gefahr. Ihren Konni traf sie nur noch in aller Heimlichkeit; ein paar Nächte lang schlief sie nicht mehr zu Haus. Es war ein unhaltbarer Zustand. Marie-Luise empfand es als unter ihrer Würde, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte – wenn er noch lebte – Beleidigungen ausgesetzt gewesen wäre, und wo anständige Menschen ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten.

Tilly hatte erwartet, sie werde ihre Mama mit großer Eloquenz zur Abreise überreden müssen. In Wahrheit stand es bei Marie-Luise schon fest, daß im Dritten Reiche ihres Bleibens nicht war, ehe Tilly auch nur angefangen hatte zu sprechen. Ohne irgendwelches Aufheben zu machen, still und umsichtig, hatte die Mutter mit den notwendigen Vorbereitungen begonnen.

Tilly ihrerseits wäre für die Emigration nicht zu haben gewesen, wenn nicht der junge Bruck – dem die Vorstellung unerträglich war, daß die Freundin seinetwegen in Gefahr kommen könnte – sie dazu bestimmt hätte: Er mußte ihr gegenüber wirklich alle jene Überredungskünste anwenden, die bei der geborenen von Seydewitz überflüssig waren. Konni versprach, in ein paar Wochen oder Monaten ins Ausland nachzukommen. Es war das erste Mal, daß er Tilly belog. Seine entschiedene Absicht war es, in Berlin zu bleiben und der illegalen Opposition, die sich gleich nach der »Machtergreifung« zu formieren begann, alle seine Kräfte zur Verfügung zu stellen. Er war zwanzig Jahre alt, studierte Physik und glaubte mit einer Zuversicht, die jedem Widerspruch mit stolzem Achselzucken begegnete, daß die marxistischen Dogmen und Prophezeiungen in einem ebenso objektiven, indiskutablen Sinne »wahr« seien wie gewisse Naturgesetze oder mathematische Regeln. Man verhaftete ihn, als er versuchte, vor Beginn des Kollegs antifaschistische Flugblätter im Universitätsgebäude zu verteilen.

Das geschah kaum einen Monat nachdem Tilly mit ihrer Mutter in Zürich eingetroffen war. Die beiden saßen am Frühstückstisch – man hatte vom Hotelzimmer aus die schönste Aussicht über den See, auf dessen dunstiger Fläche die Segelschiffe zu schweben schienen; der Liftboy brachte den Brief, er war von einem Kameraden des jungen Bruck, trug den Poststempel »Prag« und war mit den Initialen »H.S.« gezeichnet. Tilly durchflog die Zeilen. Sie ließ das Papier zu Boden fallen, dabei schrie sie leise und faßte sich mit beiden Händen an die Brust, als hätte jemand ihr einen furchtbar schmerzhaften Schlag versetzt. Sie bekam keinen Atem mehr. Die Mutter dachte, mein Gott, es sind diese asthmatischen Zustände, die hat sie doch seit Jahren nicht gehabt. Tilly keuchte und bearbeitete mit kleinen hilflosen Faustschlägen ihre um Atem ringende Brust. In einem Gesicht, das weiß geworden war wie das Tischtuch, öffneten sich die weichen und nassen Lippen zur Klage. Die Augen waren noch trocken, aber sie schienen nichts mehr zu sehen: ehe noch die Tränen sie blind machten, nahm ihnen der betäubende Schmerz schon den Blick. Bei sehr großen Affekten, in der Wollust oder in der Verzweiflung, bleibt den Menschen nichts übrig, als das festgelegte, klassisch stilisierte Bild zu stellen. Gerade die ungeheuersten Gemütsbewegungen drücken sich in der höchst konventionellen Pose aus. Das Individuelle tritt zurück; was bleibt ist der menschliche Urtyp. Tilly von Kammer – am Frühstückstisch in diesem Züricher Hotelzimmer – stellte, sich die Brust schlagend und das Haupt mit den tragisch blicklosen Augen langsam hin und her wiegend, das klassische Bild: junge Frau, die Trauerbotschaft empfangend.

Auch die Mutter verhielt sich genauso, wie die Zeugin der Jammerszene, die an der Katastrophe primär Unbeteiligte, nur indirekt und nur durch Mitleid Betroffene sich nach den klassischen Regeln der Tragödie benimmt. Marie-Luise flüsterte mit bleichen Lippen: »Was ist dir, mein Kind?«

»Konni …« brachte das Mädchen hervor. Nun schien sie wirklich keinen Atem mehr zu bekommen. – »Ist er tot?« fragte die Mutter rasch; ihrem temperierten Gefühl hätte einzig und allein eine Todesnachricht Tillys maßlose Reaktion plausibel gemacht.

Tilly konnte noch sagen: »Nein … Es ist beinah noch schlimmer … Konzentrationslager … Sie haben ihn in ein Konzentrationslager gebracht …«

Frau von Kammer fand es schwierig, dazu irgend etwas zu äußern. Übrigens verband sie mit dem Begriff »Konzentrationslager« keine sehr genauen, plastischen Vorstellungen. Um doch nicht völlig stumm zu bleiben, sagte sie, etwas matt: »Armer Kerl!« Und fügte hinzu – was sie eine Sekunde später bereute: »Aber warum läßt sich ein begabter junger Mensch auch mit dieser schmutzigen Politik ein? Ich wußte immer, daß es nicht gut ausgehen würde …« – Tilly, die sonst ähnliche Bemerkungen der Mutter zu ignorieren pflegte, war diesmal fassungslos. Während sie schon durchs Zimmer stürzte – auf die Türe zu, in einer Haltung, als fliehe sie aus einem Raum, der in Flammen stand, und als hinge alles, selbst die Rettung Konnis, davon ab, daß sie die Türe in der nächsten Sekunde erreiche – murmelte sie zwischen den Zähnen: »Und sonst hast du mir nichts zu sagen, Mama?!« Ja, das war wohl Haß, was ihr nun die Züge zu einer schlimmen kleinen Grimasse verzerrte und was als ein flüchtiges, aber intensives Funkeln aus ihren Augen kam. Die Hand hatte sie schon an der Türklinke. Jetzt weinte sie endlich. Der Zorn über die Kränkung, welche die arme, ahnungslose Mutter ihr zugefügt, machte die Tränen frei: nun strömten sie ihr reichlich über die kindlich gerundeten Wangen. »In was für einer Welt lebst du denn?!« rief die Schluchzende noch über die Schulter. Dann war sie hinaus.

Frau von Kammer blieb in sehr aufrechter Haltung am Frühstückstisch sitzen. Sie sah alt aus – älter, als sie eigentlich war. Ihr Haar hatte jene unbestimmte, aschblonde Farbe, von der sich kaum feststellen ließ, ob es schon ergraut oder nur verblichen, glanzlos geworden war. Die Falten zwischen den Brauen und um die gepreßten Lippen hatten sich während der letzten Monate verschärft und vertieft. Der Anblick ihres zu schmalen, zu langen und zu harten Gesichtes, mit den eingefallenen Wangen, der feinen Nase und dem kantigen Kinn, ließ an ein sehr gutrassiges, abgearbeitetes, stolzes und etwas müdes Pferd denken.

Die Mutter stand seufzend auf. ›Wenn das mit Tillys Asthmaanfällen nun wieder losgeht‹, dachte sie, ›eine schöne Geschichte! – Konzentrationslager … Konzentrationslager … Welch ein Irrsinn!‹ – Sie wollte sich selber nicht zugeben, wie sehr es ihr leid tat, daß sie ihr großes Mädchen nicht tröstend in die Arme geschlossen hatte, anstatt sie durch ihre gefühllose Bemerkung noch weiter zu verletzen.

Tilly ging tagelang schweigsam, mit bleicher, verstörter Miene umher. Sie war beinah dazu entschlossen, nach Berlin zu fahren, um ihrem Konni zu helfen – auf welche Weise, war ihr selber nicht klar. Sie schrieb dem Kameraden des jungen Bruck – dem Mann, der so geheimnisvoll als »H.S.« signiert hatte – an seine Deckadresse in Prag und erkundigte sich bei ihm, was er von ihrem Reiseplan halte. Er erwiderte, kurz und bündig: Das ist Quatsch. Du kannst dem Jungen nichts nützen und bringst Dich selbst in Gefahr. – Merkwürdigerweise nannte der Unbekannte sie »Du«. Tilly wunderte sich darüber; fühlte sich aber auch geschmeichelt und, auf eine fast sinnliche Art, gereizt. Konnis Freund rechnete sie also zu den Zuverlässigen, den Genossen … Dabei hatte sie sich eigentlich nie für Politik interessiert. Nur um die Abende mit Konni verbringen zu können, hatte sie ihn zu den Meetings begleitet – die tödlich langweilig für sie gewesen wären, wenn er nicht neben ihr gesessen hätte. Sie liebte ihn. Jetzt erst, da sie ihn verloren hatte, ermaß sie es ganz, wie sehr sie ihn liebte und brauchte. Sie dachte immer an ihn, und sie weinte viel. Das ärgste war, daß keine Nachricht von ihm kam – keine Zeile. Erreichten ihn denn die langen Briefe, die sie ihm fast täglich schrieb? Auch der mysteriöse H.S. in Prag hatte seinerseits nichts von Konni gehört: er teilte es Tilly, die ihn brieflich mit Fragen bestürmte, lakonisch mit. – Wie mochte dieser H.S. aussehen? Tilly beschäftigte sich zuweilen mit der Frage. Seine Handschrift war sympathisch, übrigens recht kindlich steif und steil. Er hatte eine unbeholfene, aber kräftig volkstümliche und prägnante Art, sich auszudrücken. ›Sicher ist er ein sehr anständiger, einfacher Junge‹, beschloß Tilly. ›Ich glaube, daß ich ihn mögen würde.‹

 

Ernst und heroisch gestimmt, wie sie war, gab sie luxuriöse Gewohnheiten auf; zum Beispiel die, in Nachtlokale zu gehen, Whisky zu trinken und fünfzig Zigaretten am Tag zu rauchen. Sie verzichtete auch darauf, weiter die Kunstgewerbeschule zu besuchen. Ihrer Mutter teilte sie mit, daß sie Unterricht im Maschineschreiben und Stenographieren nehmen wolle, um möglichst bald selbst etwas zu verdienen. Frau von Kammer konnte nichts dagegen einwenden – obwohl die Vorstellung, eine ihrer Töchter als Sekretärin arbeiten zu sehen, ihr höchst peinlich war. Aber die Geldverhältnisse der Witwe verschlechterten sich rapide. Die Bilder und Kunstgegenstände, die ihr noch geblieben waren, hatte sie zwar samt ihrer Wohnungseinrichtung und der kleinen Bibliothek mit in die Schweiz nehmen können. Die besten Stücke aber waren längst verkauft, und von dem Barvermögen hatte sie erhebliche Teile für die »Reichsfluchtsteuer« opfern müssen.

In dem kostspieligen Hotel an der Seepromenade war Frau von Kammer mit ihrer Tochter nur einige Wochen geblieben. Die Dreizimmerwohnung, die sie nach langem Suchen gefunden hatte, war immer noch teuer genug. Sie lag in der Mythenstraße, die einen gediegen soignierten Eindruck machte. »Die Lage könnte nicht besser sein«, erklärte Marie-Luise ihren Bekannten, die kleinbürgerliche Enge der dunklen Parterrestuben mit der Vortrefflichkeit ihrer topographischen Situation gleichsam entschuldigend. »Man hat nur ein paar Schritte bis zum See, bis zu den guten Geschäften an der Bahnhofstraße, zum Paradeplatz, zum Kursaal, und – darauf lege ich ganz besonderen Wert! – man ist nah bei der Tonhalle. Die Konzerte hier sollen ja ersten Ranges sein …« Wirklich hatte sich die geborene von Seydewitz, obwohl sie gar nicht musikalisch war, ein Abonnement für die Symphoniekonzerte geleistet; dies glaubte sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig zu sein. »Wenn man aufhört zu repräsentieren«, versuchte sie Tilly klarzumachen, »ist man verloren. Die Leute sehen einen überhaupt nicht mehr an.«

Der Geheimrat hatte in Zürich viele gute Freunde gehabt – prominente Kollegen oder reiche Patienten; Marie-Luise durfte meinen, daß sie mit mehreren Damen aus Schweizer Patrizierkreisen in den herzlichsten Beziehungen stand. Nun meldete sie sich telefonisch bei ihnen. Man war erfreut, ihre Stimme zu hören; da sie als Adresse zunächst das luxuriöse Seehotel nennen konnte, nahm man an, sie befinde sich auf der Durchreise. Man lud sie zum Tee oder zum Abendessen ein. Sie nahm Tilly mit. »Du wirst sehen, wir werden bald einen reizenden Kreis hier haben«, versicherte sie siegesgewiß der Tochter auf der Taxifahrt zum Villenvorort, wo die lieben Bekannten wohnten.

Indessen erfror das Lächeln auf den Mienen der wohlhabenden Gastgeber, als Frau von Kammer gestand, daß sie diesmal nicht auf einer Vergnügungs- oder Erholungsreise sei, sondern sich hier niederzulassen gedenke. Es war, als hätte man die eben noch respektable Dame bei suspekten, wahrscheinlich kriminellen Machenschaften ertappt. »Ja, wieso denn?! Warum denn nur, meine Liebe?« forschte angstvoll die Hausfrau. Als Marie-Luise aber, artig und gelassen, erklärte, daß man ihr doch wohl kaum zumuten könne, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte heute als ein Aussätziger gelten würde – da fiel es wie ein eisiger Reif auf die gesellige Runde, und die gute Stimmung war weg. Nach einer fürchterlichen Pause bemerkte jemand, mit schonender Behutsamkeit: »Ja, freilich – der gute Geheimrat war ja … Er war ja wohl … hm …« als müßte man nun endlich den peinlichen Tatbestand zugeben, daß Herr von Kammer Zeit seines Lebens an einer stinkenden Krätze gelitten habe. Tilly bekam schon drohende Augen; sie war im Begriff, Dinge zu äußern, die ihre Mama für immer in diesem Zirkel unmöglich gemacht hätten. Einer der anwesenden Herren ahnte es vielleicht; denn er sagte begütigend: »Gewiß, gewiß, es ist wohl nicht alles, wie es sein sollte im neuen Deutschland. Manche Tendenzen – an sich vernünftig und lobenswert – werden ins Maßlose übertrieben. Das sind unvermeidliche Kinderkrankheiten …«

Frau von Kammer erklärte, ruhig, aber dezidiert: »Von Politik verstehe ich nichts; meine Kinder machen mir zum Vorwurf, daß ich nie Zeitungen lese. Aber soviel weiß ich doch: diese Nazis sind gemeine Plebejer. Man braucht sich nur ihre Gesichter anzuschauen! Sehen gutrassige Leute so aus?! Und benehmen Menschen, die eine Kinderstube haben, sich so, wie die Herren von Deutschland es tun?!«

Einer der Gäste – ein millionenschwerer Industrieller; Mann von strammer Haltung und strammer Gesinnung – räusperte sich schon recht indigniert. »Aber erlauben Sie, gnädige Frau«, ließ er seinen einschüchternden Baß vernehmen. »Aus der Art, wie Sie den Ausdruck ›Plebejer‹ verwenden, könnte man fast auf eine sehr rückständige Gesinnung bei Ihnen schließen. Die Männer des Volkes, die jetzt in Deutschland draußen, Gott sei’s gedankt, an der Macht sind, erfüllen eine eminente historische Aufgabe. Die Volksgemeinschaft ist hergestellt, die Hetze zum Klassenkampf gibt es nicht mehr. Wenn Sie die akute bolschewistische Gefahr bedenken, in der das Reich sich tatsächlich befand …«

Die Hausfrau rief flehend: »Aber lassen wir doch die Politik! Frau von Kammer hat ja selbst erklärt, daß sie sich mit dergleichen nicht befaßt! Und es gibt doch so viele andere Gesprächsthemen, die amüsanter sind.« Sie blickte hilfesuchend im Kreise umher.

Eine rechte Gemütlichkeit wollte sich nicht mehr herstellen. Frau von Kammer und ihre Tochter brachen früh auf. Im Wagen blieben sie beide eine Weile stumm. Marie-Luise saß in sehr aufrechter Haltung, den Blick starr geradeaus gerichtet. Tilly – die noch vor einer Viertelstunde sehr ärgerlich auf ihre Mutter gewesen war – spürte jetzt nur noch Mitleid. Sie überwand ihre Scheu und Befangenheit, die sie sonst in Gegenwart der Mama selten los wurde; vorsichtig streichelte sie die magere, harte Hand ihrer Mutter.

Frau von Kammer war leicht zusammengefahren; beinah hätte sie den Arm weggezogen. Sie hielt aber stille. Die kleine Liebkosung tat wohl. Mit einer ganz weichen, etwas heuchlerischen Stimme sagte sie: »Es war wohl nicht sehr unterhaltend bei Krügis – wie? Mir scheint, sie haben sich recht verändert. Früher ist es viel zwangloser und netter bei ihnen gewesen. Vielleicht war Frau Krügis durch irgend etwas präokkupiert …«

»Sei nur still, Mama!« Tilly schmiegte sich enger an die Mutter. »Wir müssen ja nicht mehr zu den Leuten. Wir wollen überhaupt nicht mehr solche Besuche machen – versprichst du mir das?«

Nun fand Frau von Kammer doch, daß ihre Tochter zu weit ging. Das war wieder jene Neigung zur Hemmungslosigkeit, die Marie-Luise so fremd und sogar beängstigend schien. »Es ist sehr wichtig für uns, daß wir von der Züricher Gesellschaft empfangen werden«, sagte sie, nicht ohne Strenge, und nahm wieder Haltung an. »Morgen sind wir zum Tee bei Wollenwebers.«