Klaus Mann - Das literarische Werk

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Auch am Nebentisch unterbrach man die Unterhaltung, um zuzuhören. Dort saß die Proskauer mit Germaine Rubinstein und dem jungen Helmut Kündinger. Die Proskauer arbeitete seit einigen Wochen in einem Comité für jüdische Flüchtlinge. Auf ihrem schrägen Nacken und den schmalen, gesenkten Schultern schien sie allen Kummer der Unglücklichen zu tragen, die sie betreuen half, und ihre raunende Stimme war voll von den tristen Geheimnissen, die ihr anvertraut wurden. »Das Elend ist unbeschreiblich«, murmelte sie oft. Mehr war kaum aus ihr herauszukriegen.

Helmut Kündinger sprach immer noch ziemlich viel und wehmutsvoll von Göttingen und seinem Freund, der sich erschossen hatte. Manchmal packte die Heimwehkrankheit ihn wie eine schwere Grippe. Die Attacke dauerte ein paar Stunden oder ein paar Tage. Dann überwand er sie wieder. Neuerdings hatte das labile Selbstbewußtsein des schüchternen Jünglings eine gewisse Stärkung erfahren; ein untergeordneter, aber doch nicht ganz unwichtiger Posten an der neugegründeten Tageszeitung war ihm anvertraut worden. Er durfte Korrekturen lesen und zuweilen auch selber etwas einrücken lassen. Seine Artikel handelten meistens von den Verhältnissen an den deutschen Universitäten. In diesem Milieu kannte er sich aus, und die Journalisten bestätigten ihm, daß er brauchbare Arbeit tue. Nun konnte er, im »Café du Dôme« oder bei der Schwalbe, gelegentlich auf die Uhr sehen und nervös aufspringen: »Mein Gott – ich muß in die Redaktion! Es ist Zeit zum Umbruch!« Oder er durfte abends mit bedeutsamer Miene sagen: »Ihr entschuldigt mich, bitte! Ich habe noch einen Aufsatz für die Sonntagsnummer fertigzumachen …«

Man richtete sich ein im Exil. Es dauerte kaum ein halbes Jahr und war doch schon kein Abenteuer mehr, sondern gewohnter Zustand. Alle hatten Pläne, die meisten schon irgendeine Beschäftigung, und manche verdienten sogar etwas Geld. Man bewegte sich in der fremden Stadt fast schon mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie einst in der Heimat; man hatte seine Stammlokale, seinen Bekanntenkreis. Aus dem Reich kam immer neuer Zustrom. Die »alteingesessenen Emigranten« empfingen die eben erst angekommenen nicht ohne einen gewissen Hochmut. »Habt ihr es nun auch eingesehen, daß man bei den Nazis nicht leben kann?« fragten sie, etwas mitleidig und etwas höhnisch. »Na, nun sollen wir euch wohl erst mal was von Paris zeigen!« – Man blieb unter sich, sprach immer noch deutsch miteinander. Die politisch Aktiven hatten zwar den Kontakt mit französischen Gesinnungsgenossen aufgenommen: man unterzeichnete zusammen Proteste; auch gemeinsame Versammlungen und Demonstrationen wurden geplant. Aber diese Beziehungen waren zunächst aufs Sachliche beschränkt. Marcel war einer der wenigen unter den Pariser Schriftstellern, der mit den deutschen Emigranten freundschaftlich-intim verkehrte.

Auch mit den übrigen internationalen Emigranten, von denen die Stadt wimmelte, hatte man wenig Umgang. Von den weißrussischen Exilierten distanzierte man sich schon aus politischen Gründen. Marion und Madame Rubinstein zum Beispiel sahen sich jetzt viel seltener, als es früher bei den Pariser Aufenthalten Marions der Fall gewesen war. Hingegen erschien die ernste kleine Germaine immer häufiger in der »Schwalbe«; man durfte sie beinah schon zu den Stammgästen rechnen. Das Zusammensein mit den deutschen Antifaschisten, die noch kämpferisch gestimmt waren und auf eine bessere Zukunft hofften, behagte ihr besser als der Verkehr mit den resignierten, verbitterten oder stumpf gewordenen Freunden ihrer Eltern oder als das Geplauder mit den kleinen Pariser Mädchen, die ihre Kolleginnen im Modesalon waren. »Die haben doch nur ihre Flirts im Kopf«, meinte sie verächtlich. Und sie gestand Marion, daß sie immer noch, und immer heftiger, von der Rückkehr nach Moskau träume. »Gestern habe ich mir einen neuen russischen Film angesehen«, sagte sie zur Proskauer. »Alle Gesichter, die auf die Leinwand kamen, hatten so ein Leuchten … Es waren gar nicht lauter schöne Gesichter; aber wenn sie lachten, konnte man sich in jedes von ihnen verlieben. Ich kann es gar nicht beschreiben … Ich war nachher so traurig – und so froh wie schon lange nicht. Wenn Mama mir nur erlauben wollte …« flüsterte sie und blickte scheu um sich, als könnte Anna Nikolajewna sie hören.

»Vermutlich ein älterer Film«, murmelte verständig die Proskauer, wozu die kleine Germaine zornig die Achseln zuckte.

Die Schwalbe, Zigarre im Mund, Arme breit in die Hüften gestemmt, ging zwischen den Tischen umher und erkundigte sich bei den Gästen, ob das Essen schmecke. »Ausgezeichnet!« lobte Marion. »Es wird immer feiner bei dir, und immer voller. Ich glaube, dein Laden geht besser als alle anderen von Paris. Bobby Sedelmayer könnte sich gratulieren, wenn er nur die Hälfte von deinen Gästen hätte.«

Bobbys Lokal hieß »The Rix-Rax-Bar« und war verlockend aufgemacht; leider blieb der Erfolg mäßig. Für die Emigranten waren die Drinks zu teuer, und die Pariser große Lebewelt frequentierte kaum ein Dancing, das von einem unbekannten Deutschen geleitet wurde. Die Jazzkapelle war gut, der Mixer galt für eine Kapazität in seinem Fach, die Dekorierung der Wände stammte von einem jungen Maler, den man in Kennerkreisen als einen »aufgehenden Stern« bezeichnete. Übrigens lag das Lokal günstig, nicht weit von der Avenue de l’Opéra. Es waren aber nur ein paar durchreisende Amerikaner und einige wohlhabende Geschäftsleute aus dem Berliner Westen, die sich, in nicht besonders heiterer Laune, hier zusammenfanden. Bobby, sehr adrett in seinem zweireihigen Smoking, eine große weiße Nelke im Knopfloch, empfing alle mit dem gleichen gastlichen Lächeln und versuchte optimistisch auszusehen. Besonders wenn Siegfried Bernheim erschien, strahlte Bobby; der Bankier behielt trotzdem den verdrossenen Gesichtsausdruck. Er hatte zuviel Geld in dieses Unternehmen gesteckt, und schon wurde ihm klar, daß es nicht rentierte. Bobby sagte aufgeräumt: »Heute abend ist es ausnahmsweise nicht besonders voll bei mir. Ist ja selbstverständlich, bei der Hitze! Wer bleibt denn jetzt in Paris?« Aber Bernheim schüttelte nur düster den Kopf. Er reiste schlechter Laune nach Mallorca ab. Professor Samuel begleitete ihn.

Die Schwalbe war natürlich doch ein wenig schadenfroh, was die »Rix-Rax-Bar« betraf. »Bobby wollte es eben gar zu schick haben«, tadelte sie. »Die Zeiten sind nicht danach.« Aber als dann Marion nett von Bobby sprach – er sei ein so lieber Kerl und sein Mißerfolg tue ihr leid – war es die Schwalben-Wirtin selber, die vorschlug: »Wir sollten nächstens mal alle zusammen abends zu ihm gehen. Ich lade euch ein – aber keiner darf sich mehr als einen Cocktail bestellen; sonst bin ich ruiniert. – Und überhaupt«, fügte sie brummend hinzu, »ist es eine Sünde, heutzutage dreißig Francs für ein bißchen Gin rauszuschmeißen, in dem eine Olive und eine halbe Orchidee schwimmen; das ist dann der neu erfundene ›Rix-Rax-Cocktail‹ …« – »Bobby ist immer sehr hilfreich und gefällig, wenn er selber was hat«, bemerkte Marion noch. »Er sieht jetzt oft sorgenvoll aus. Weiß Gott, wie viele Leute er ernähren muß …« Marion hatte eine Schwäche für den unternehmungslustigen kleinen Mann mit den blendenden weißen Haaren.

Sie wurde ans Telefon gerufen. Es war Marcel. »Ich spreche aus Martins Zimmer«, sagte er.

Martin und Kikjou hausten zusammen in einem kleinen Hotel, das gleich neben dem »National« in der Rue Jacob lag. Seit Monaten hatten sie sich nicht einen Tag mehr getrennt. Kikjou war damals, im April, von seinem Ausflug zum frommen Oheim in Belgien nach einer Woche zurückgekommen. Der enge Raum im »National« war auf die Dauer zu eng für die beiden Freunde geworden. Das Zimmer, das sie nun im Nebenhaus bezogen hatten, ging eigentlich weit über ihre Verhältnisse. Es war ein geräumiges Studio mit eigenem Bad und großem Atelierfenster, durch das man den Blick weit über die Dächer des Quartiers hatte. Das Appartement kostete fünfhundert Francs im Monat; an jedem Ersten mußte Kikjou eine neue List ersinnen, um den Onkel in Lausanne weich zu stimmen – der fromme in Belgien schien finanziell nicht in Frage zu kommen – oder Martin sah sich genötigt, einen bewegenden Brief an alte Korellas abzufassen. Manchmal blieben die Gemüter hart, und die Geldsendungen aus Berlin wurden, durch die deutschen Devisengesetze, ohnedies immer mehr erschwert. Dann gab es dramatische Auftritte mit der Patronne, die zornig drohte, die beiden jungen Leute aus dem Hotel zu werfen und ihr Gepäck zu beschlagnahmen, schließlich aber doch wieder Nachsicht und Geduld zeigte.

Meistens lagen sie bis zum Nachmittag im Bett – »um den Lunch zu sparen«, wie Martin erklärte. »Wenn man lange schläft, genügt eine Mahlzeit am Tag.« Gegen halb zwei Uhr klingelten sie; dann brachte ihnen der Valet de Chambre Chocolade und Brioches. Der Valet hieß Jean und war ein würdiger Mann mit hängendem weißen Schnurrbart. Er empfand eine väterliche Sympathie für die zwei seltsamen Knaben; sein Wohlwollen war nicht frei von Sorge. Die beiden besprachen fast alles mit ihm; er kannte ihre Geldsorgen, begriff, daß es Monsieur Martin so schwerfiel, Artikel für die Zeitung zu schreiben, und all der Ärger, den Monsieur Kikjou mit seiner Familie hatte, war ihm wohl vertraut. »Aber Sie schlafen zu lange!« sagte Jean tadelnd. »Das ist kein Leben! Etwas Sport sollten Sie treiben! Junge Menschen müssen aktiv sein!«

Es war dem Alten auch nicht unbekannt geblieben, welch gefährlichen und ungesunden Angewohnheiten »le jeune Monsieur allemand« nachhing. Eines Tages war dem Valet beim Aufräumen die Spritze in die Hände gefallen, und dann mußte Martin alles gestehen. Übrigens liebte er es, von seinem Laster ausführlich und mit einer gewissen Pedanterie zu sprechen. Er schilderte dramatisch das erste Zusammentreffen mit Pépé und schloß den Bericht, nicht ohne Selbstgefälligkeit: »Das erstaunliche ist, daß ich immer noch nicht eigentlich süchtig bin, weißt du.« (Diese letzten zwei Worte auf die kokette Art zerdehnt und geschleppt.) »Von Morphinismus kann man bei mir gar nicht sprechen. Ich nehme unregelmäßig, in großen Abständen.«

 

Wirklich besuchte er seinen Freund Pépé – der das Stammlokal längst gewechselt hatte und nun in einem Café nahe der Madeleine »empfing« – zunächst nur jede zweite Woche. Mit einem Heroinpäckchen, das er nun für hundertfünfzig Francs erstand, reichte Martin vierzehn Tage lang. Nur jeden zweiten oder dritten Abend gönnte er sich eine Injektion. Er war schon seit längerem davon abgekommen, das Pulver durch die Nase hochzuziehen, und hatte sich daran gewöhnt, die Substanz in destilliertem Wasser aufzulösen.

Anfangs hatte er seine Beziehung zu Pépé und alles, was mit ihr zusammenhing, vor Kikjou strikt verheimlicht. Auf die Dauer war dies nicht möglich; auch litt Martin sehr darunter, ein solches Geheimnis vor dem Freund zu haben. Kikjous Reaktion auf die Eröffnung war sonderbar. Er schien beinah nicht überrascht. »Ich hatte etwas dieser Art erwartet«, sagte er nur und schaute den anderen, mehr sinnend als streng, lange aus den weit geöffneten, schillernden Augen an. Dann ließ er sich ein paar Stunden lang nicht blicken.

Am nächsten Tage verlangte Kikjou: »Zeige mir la chose infernale!« Martin stellte sich erst, als ob er nicht verstünde, was gemeint war; öffnete aber dann das Päckchen und ließ das kristallisch durchsetzte, hellgraue Pulver sehen. Kikjou betrachtete es, sorgfältig und etwas angewidert, wie man sich ein zugleich attraktives und schauerliches Lebewesen, etwa einen großen, seltsam geformten Käfer, besieht. »Formidable!« brachte er nach langer Pause hervor. »Es sieht ungeheuer giftig aus …« Dazu schüttelte er sanft den Kopf, wie ein nachsichtiger junger Priester beim Anblick der nackten Sünde.

Martin schlug vor: »Magst du es nicht versuchen?« Kikjou verneinte nur mit einem Blick. Martin erklärte: »Du mußt nicht denken, daß ich ein Morphinist bin oder es jemals werden könnte. Ich nehme es nur ganz unregelmäßig, weißt du …« Kikjou winkte ab. Mit einer sehr leisen, zugleich zärtlichen und tückischen Stimme sagte er: »Ich bin neugierig, wie du aussiehst – wenn du es in dir hast …«

Nachts beobachtete er den Freund, wie er sich, nach der Injektion, selig benommen aufs Bett streckte. »Dein Gesicht verändert sich«, konstatierte Kikjou, halb lüstern und halb betrübt. »Wie fremd du mir wirst! Du bist schon ganz weit weg … La chose infernale entführt dich – wohin? – Wohin, Martin?« rief Kikjou ihm zu, mit erhobener Stimme, als gälte es, sich über weite Entfernungen verständlich zu machen. »Ist es schön, wo du bist?« fragte Kikjou, wie über Abgründe weg. Und Martins entrückte Stimme gab Antwort: »Wunderschön.«

Aneinandergeschmiegt sprachen sie die Nächte lang. Kikjou ließ die grausamen, unendlich neugierigen und unendlich zärtlichen Augen nicht von Martins weißer, besänftigter und streng verklärter Miene. Martin hielt die Augen geschlossen, während er redete. Ihm kamen vielerlei Gedanken, die Worte strömten, das Gespräch nahm kein Ende. Alle Probleme, alle Begriffe wurden einbezogen, und alle lösten sich auf in einem Nebel, der schimmernd, aber undurchdringlich war. Martin erzählte auch manches von den Büchern, die er schreiben wollte – große Bücher, wunderbare Geschichten. »O wie traurig – o wie schön werden sie sein! All unsere Schmerzen sollen vorkommen, mitsamt allen Wonnen! Ich spüre, daß mir unvergleichlich Schönes glücken wird …« lallte er aus seiner Euphorie, mit zugleich beschwingter und sehr schwerer Zunge. Kikjou aber schaute ihn an …

Da es Martins Meisterwerke bis jetzt nur in Träumen gab und sie noch nicht auf dem Papier standen, griff er zuweilen nach einem Buch, das er liebte, um dem Freunde draus vorzulesen. Er öffnete den Band Novalis, riß seherisch die Augen auf, in denen die Pupillen sehr klein geworden waren, und verkündete:

»Unerhörte, gewaltige,

Keinen sterblichen Lippen entfallene

Dinge will ich sagen.

Wie die glühende Nachtwandlerin,

Die bacchische Jungfrau

Am Hebrus staunt

Und im thrazischen Schnee

Und in Rhodope, im Lande der Wilden,

So dünkt mir seltsam und fremd

Der Flüsse Gewässer,

Der einsame Wald …«

Tags waren die beiden Knaben still und ermattet. Seitdem die unbarmherzige Hitze über Paris gekommen war, verloren sie vollends die Lust, ihr schönes Atelier zu verlassen. Erst am späten Nachmittag verbrachten sie eine Stunde im Bistro gegenüber, um einen Vermouth zu trinken. Dann gesellte sich wohl David Deutsch zu ihnen, der sich noch intensivere Sorgen um Martin machte als der brave Valet de Chambre. David liebte und bewunderte den jungen Dichter, der sich nun an so bedenkliche Abenteuer verlor. Er nahm Kikjou beiseite, um ihn herzlich zu bitten: »Bringen Sie ihn doch ab von dem abscheulichen Gift! Sie haben Einfluß auf ihn! Machen Sie ihn geltend! Wir verlieren Martin, wenn er es weiter so treibt – was ja bedeuten würde, daß er es bald viel schlimmer treiben wird. Wir dürfen ihn nicht verlieren!« Aber Kikjou – ein junger Priester, der nachsichtig das helle Antlitz zur nackten Sünde neigt – schüttelte nur sanft das Haupt. »La chose infernale ist schon stärker geworden als ich«, sagte er, und es klang kaum bedauernd.

Das Abendessen nahmen sie zu dritt in dem kleinen Restaurant, Ecke Rue des Saints-Pères, wo damals die Amerikanerin ausgespuckt hatte. Und dann kam wieder die Nacht …

Am nächsten Vormittag ließ Marcel auf dem Korridor vor Martins und Kikjous Zimmer den Vogelruf hören, mit dem er sich anzumelden pflegte: »Ohu … Ohu!« Er mußte mehrfach an die Türe klopfen, ehe Martin, sehr verschlafen und in einem nicht ganz sauberen Pyjama, ihm die Türe öffnete. »Les singes!« schimpfte Marcel. Er nannte die beiden niemals anders, was eine Anspielung auf Kikjous zartes und nervöses Affengesichtchen war. »Natürlich! Mitten am Tag noch im Bett!« Martin brachte in seinem langsamen, unbeholfenen Französisch schmollend vor: »So eine Gemeinheit, einen gleich nach Mitternacht zu stören! Komm schon herein, da du nun einmal da bist …«

Übrigens freute Martin sich im Grund darüber, daß Marcel neuerdings häufiger zu ihm kam. Er machte es sich nicht klar oder wollte es sich doch nicht ganz zugeben, daß Poirets Visiten weniger ihm als dem kleinen Kikjou galten. Marcel bewahrte seinem »petit frère« Sympathie und Freundschaft. »Ein sehr anziehendes und interessantes Äffchen«, pflegte er, etwas gönnerhaft, von ihm zu sagen. »Er macht mir Spaß, weil er genau so ist, wie ich in seinem Alter leicht hätte sein können, aber durch verschiedene Zufälle nicht gewesen bin. Wahrscheinlich ist er außerordentlich begabt, und übrigens stark und zäh im Grunde, bei aller Zartheit. Er macht Augen wie ein hysterisches kleines Mädchen; wenn es aber drauf ankommt, weiß er recht genau, was er will. Man könnte noch Überraschungen mit ihm erleben. Er wird manches leisten, und wahrscheinlich überlebt er uns alle.«

»Eine tierisch verkommene Wirtschaft!« Marcel warf mit kühnem Schwung den leichten, hellen Hut auf einen Sessel; er stand da in seinem grauen, etwas fleckigen, aber gut gemachten Flanellanzug, mit breiten braunen Halbschuhen und einem dicken, rot und blau karierten Leinenhemd, zu dem er keine Krawatte trug. – »Wie das hier aussieht! Schweinerei!« Er lachte und fühlte sich ganz behaglich.

Kikjou hockte nackt auf dem Bett, seine Hände um die mageren Knie geschlungen. Martin warf ihm einen Morgenrock zu. »Du siehst unanständig aus«, bemerkte er und grimassierte, als ekelte ihn der Anblick.

Marcel hatte auf Kikjous bloßer, unbehaarter Brust das kleine goldene Kruzifix entdeckt. Der Anlaß kam ihm gelegen, um sich gleich mit Feuereifer in die Diskussion zu stürzen, auf die er sich beinah immer einließ, wenn er Kikjou sah. »Natürlich!« höhnte er, »den häßlichen kleinen Fetisch trägst du auf deinem Herzen! Merde alors!«

»Sei still!« bat der andere ihn sanft und schützte das heilige Ding mit zärtlich gewölbten Händen, als wollte Marcel es ihm vom Halse reißen. Dem schien wirklich nach irgendeiner Aktion solcher Art zumute zu sein. »Es ist eine Schande!« polterte er. »Überall auf der Welt geht die Kirche mit der Reaktion, in allen Ländern macht sie gemeinsame Sache mit den Feinden des Fortschritts, mit den Ausbeutern, oder auch mit den faschistischen Mördern – und du hängst dir diesen Firlefanz um den Hals! Dabei bildest du dir auch noch ein, eine linke Gesinnung zu haben, und treibst dich mit Leuten herum, die von dem Faschistenpack aus ihrer Heimat vertrieben worden sind!« Marcel ließ wegwerfende Blicke über die hübsche Gestalt des schmalen Knaben hingleiten, der seine Nacktheit jetzt notdürftig bekleidet hatte.

Kikjou erlaubte sich einen Einwand. »Soviel ich weiß, werden die Katholiken im Dritten Reich fast ebenso schrecklich verfolgt wie die Juden und Sozialisten. Alles spricht dafür, daß die Feindschaft zwischen den Christen und Nazis sich noch verschärfen anstatt mildern wird.«

»Das ist Zufall«, behauptete Marcel gereizt. »Die Herren Bischöfe würden sich mit dem ›Führer‹ herzlich gern abfinden, wenn sich der nur um eine Nuance entgegenkommender ihnen gegenüber verhielte. Man sieht es doch in Italien: das Gentlemen’s Agreement zwischen Mussolini und dem Papst scheint zu funktionieren.«

Kikjou versetzte, sanft und eigensinnig, übrigens nicht ohne Feierlichkeit: »In Deutschland wird es Märtyrer des Glaubens geben.«

»Märtyrer des Glaubens gibt es dort schon«, warf Marcel zornig dazwischen. »Des sozialistischen Glaubens nämlich!«

»Sind die Christen, die den Kerker oder Schlimmeres auf sich nehmen, weniger bewundernswert?« Kikjou sandte einen großen, ernst fragenden Blick der schimmernden Augen, die unter ihren gewölbten Brauen den Augen Marcels so sehr glichen.

Marcel wollte nicht weiter von den christlichen Märtyrern in Deutschland sprechen. »Die Kirche ist aus leicht durchschaubaren Gründen immer und überall gegen den sozialen Fortschritt gewesen«, beharrte er. »Nach der Französischen Revolution war der Papst der erste, der sich gegen die Proklamation der Menschenrechte erklärte. In Spanien wollen die Priester, Hunderttausende sollen Analphabeten bleiben, nur damit die kleinen Bauern und Landarbeiter sich ohne Widerstand von den Großgrundbesitzern ausnutzen lassen, stumpfsinnig wie das Vieh. Dort wird es auf besonders krasse Art deutlich, welche Rolle die Kirche spielt und am liebsten überall spielen möchte. Sie tut alles dafür, damit das Land, geistig und ökonomisch, in einem mittelalterlichen Zustand bleibe. Dann könnte man die heilige Inquisition wieder einführen und die Ketzer brennen lassen, merde alors. Wenn es in Spanien einmal Revolution gibt – und die kann nicht ausbleiben – dann werden diese verdammten Priester es sein, an denen das Volk sich am grausamsten rächt!« Marcel hatte blutdürstige Augen.

Martin konnte das furchtbar schnell gesprochene Französisch nicht ganz verstehen. Übrigens war er schon mehrfach Zeuge ähnlicher Debatten gewesen, und sie langweilten ihn etwas. Deshalb zog er sich nun ins Badezimmer zurück. »Ich gehe«, sprach er noch, mit würdevoller Miene, ehe er die Tür hinter sich schloß, »um dem Heiligen Vater eine Ansichtskarte zu schreiben. Der arme Mann muß doch wissen, was für unerbittliche Feinde er hat …« Dann ließ er drinnen das heiße Wasser in die Wanne rauschen.

Kikjou, noch immer vom Bett her, sagte leise: »Es gibt falsche Priester. Ich verteidige sie nicht. Jede große Sache hat unwürdige Diener, neben den verdienstvollen; auch der Sozialismus. Die spanischen Kleriker mögen irren, sie sind menschliche Wesen, höchst fehlbar. Die deutschen Priester beweisen, daß die allein seligmachende Kirche im Grunde auf der Seite des menschlichen Rechtes steht. Der Mut, den diese frommen Männer zeigen, kann nur aus innerer Erleuchtung – muß aus der Gnade kommen.«

»Dasselbe ließe sich von den kommunistischen Arbeitern behaupten, die auch nicht gerade feige sind«, versetzte Marcel, zornig und geschwind. »Nur bei den Pfarrern läßt Zivilcourage auf Gnade schließen! – So niederträchtigen Unsinn bin ich gewöhnt, von Madame Poiret zu vernehmen – wenn ich der ekelhaften Person überhaupt noch zuhöre. In Wahrheit ist es aber doch so, daß diese Herren vielleicht in einigen Fällen Mut bewähren mögen, aber für die falsche, verlorene, überwundene oder zu überwindende Sache; für einen Aberglauben, durch den der Fortschritt seit Jahrhunderten bösartig gehemmt worden ist. Kann der Mut des Menschen denn ein anderes Ziel haben als die materielle und moralische Besserung seines Schicksals?! Die Priester lenken den Menschen von der einzigen Sorge ab, die ihn wirklich zu beschäftigen hätte: von der Sorge um sein eigenes Wohlergehen. Als Ersatz für Annehmlichkeiten, die er sich hier nicht verschaffen darf, winkt ein Jenseits – an dem das einzig Gute ist, daß es nicht existiert; denn seine Langweiligkeit wäre unvorstellbar. – Wir wollen aber nicht warten bis zum Jüngsten Tag!« Marcel stand mitten im Zimmer wie auf einer Tribüne und schrie den Jungen im Bett mit Donnerstimme an, als wendete er sich an eine widerspenstige Masse. Die Augen sandten Strahlen; er hob die Faust. »Hier soll es hell werden!« verlangte er stürmisch. »Hier – wo wir leben und uns plagen!! – Es wird hell sein!« verkündete er entzückt, als wäre ihm gerade jetzt von kompetenter Seite diese Mitteilung gekommen. »Weit hinten am Horizont sehe ich eine feurige und schwefelnde Sonne. Sie ist so stark, daß ihre Strahlen viel versengen werden – sehr wohl möglich, daß sie einen Feuerbrand anrichtet. Aber die Dunkelheit nimmt sie fort!«

 

Marcel liebte es, und es unterhielt ihn sehr, vor dem kleinen Kikjou Christum und Kirche anzuklagen, und eine bevorstehende »klassenlose, kirchenlose, grenzenlose Gesellschaft« zu preisen. Das erregte Gespräch, das sie vormittags im Hotelzimmer begannen, setzten sie zuweilen bis in den Nachmittag oder Abend fort: auf Spaziergängen, in einem Café oder in Marcels kleiner Wohnung, draußen in Auteuil. Marcel redete und redete – fieberhaft eilig, höhnisch und pathetisch, grob und zärtlich, ekstatisch und vulgär. Welche Angst hatte er denn zu betäuben mit dieser Sturzflut von Worten …? Er war geplagt von Ideen, wie ein anderer von Schmerzen. Jeder Gedanke, wenn man ihn nur bis zur letzten Konsequenz zu Ende dachte, bedeutete Verpflichtung, alarmierendes Programm, Aufforderung zur Tat. Auch die Zweifel blieben nicht immer aus, und es kamen Leiden.

Entschlossen mutig, wie ein Schwimmer sich in kaltes Wasser wirft, stürzte Marcel Poiret sich in die intellektuellen Komplikationen. »Das Einfache ist stets nur das Vereinfachte!« proklamierte er. Andererseits quälte es ihn, daß die schillernde Zusammengesetztheit seines Denkens ihn den einfachen Kämpfern, den »Soldaten der Revolution«, entfremdete. Die Manifeste und Pamphlete, die er verfaßte, verwirrten durch ihre Gedankenfülle wie durch den fulminanten Stil. Die Abonnenten der marxistischen Tageszeitungen und die Besucher von Massenversammlungen konnten mit ihnen kaum etwas anfangen. Sie begriffen wohl, daß dieser entflammte Jüngling sie zum Kampfe rief. – »Der Kapitalismus tötet sich nicht selber; man muß ihn töten!« hatte er geschrieben; aber sowohl Pathos wie Ziel dieses Kampfes blieben ihnen mysteriös.

In den dogmatischen Materialismus des hymnischen Marxisten mischten sich zuviel lyrisch-überschwengliche Elemente. »Am Baume des Umsturzes« sah er »die wundersamsten Früchte keimen«, wie der begeisterte Wanderer durch eine Frühlingslandschaft – und er rühmte eine heftig bewegte, gleichsam elektrisch geladene »konvulsivische« Schönheit, die einerseits überschwenglich irrational zu sein schien, andererseits aber in einer seltsam strengen und intimen Beziehung zu den exakten Wissenschaften stand. – »Die Dichtung ist ein Mittel zur Erkenntnis«, ließ er hören; er begeisterte sich für den »neuen wissenschaftlichen Geist« wie für eine Religion.

Er gierte nach Licht, nach Erleuchtung, nach Helligkeit, wie der Kranke nach Sonne. Das Dunkle im tiefsten Grunde seines eigenen Wesens mußte wohl mächtig sein, sonst hätte er nicht mit so gereizter Heftigkeit nach dem Hellen verlangt. – Seine Meinung war:

»Zu bewirken: daß aller Muff der Fäulnis verfliege, das wird die Größe der Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts ausmachen. Deshalb haben wir unser Los verbunden mit dem der proletarischen Revolution, die durch die Befreiung des Menschen den Geist befreien wird.«

Manchmal – aber nur selten – wurden seine schönen, starken, beweglichen Lippen müde von den gar zu vielen Worten, die sie geformt hatten. Er verstummte im befreundeten Kreis, und der Strahlenblick unter den gewölbten Brauen ward dunkel. »Was soll das alles?« fragte er nach solchem Schweigen. »Warum habe ich nicht fünfzig Jahre früher leben dürfen? Dann hätte dies alles mich nicht gequält und mich kaum beschäftigt. Ich hätte ein paar hübsche, traurige, verliebte Bücher geschrieben, ein paar Geschichten über einfache, menschliche Gegenstände, und wäre zufrieden gewesen …« Und mit einem großen Aufseufzen sagte er: »Ach, ich wünschte mir so sehr, wir hätten die Revolution endlich, endlich hinter uns, damit man wieder anfangen könnte mit der Literatur. – Was sollen wir Schriftsteller, während die großen Entscheidungen fallen? Wo sollen wir hin? Sagt mir – wo sollen wir hin?«

Die Freunde konnten es ihm nicht sagen. Was sie vermochten, war nur, den plötzlich Entmutigten etwas zu trösten. Marion legte ihm mit großer Sanftheit die schöne starke Hand auf den Arm. Martin, pedantisch und kokett zugleich die Worte dehnend, begann, eine humoristische Geschichte zu erzählen. Kikjou lächelte – rätselhaft, gütig und verführerisch.

Man saß in Marcels kleiner Wohnung. Die Unordnung hier war horrend – auf den Stühlen lagen Broschüren neben getragenen Hemden, und das Bett war zerwühlt – trotzdem herrschte eine gewisse Gemütlichkeit. Auf dem Tisch stand der rote Wein neben dem Brot und dem Fleisch. Marcel besorgte selber seinen kleinen Haushalt. Er scherzte und lachte mit den Ladenmädchen, wenn er seine Einkäufe machte. Alle im Quartier liebten ihn. Keiner widerstand seinem Charme.

Wenn er zu Hause aß, hatte er immer Gäste. Entweder französische Kameraden stellten sich zur Mahlzeit ein, oder es erschienen ein paar deutsche Emigranten. Marcel bewirtete nicht nur die nahen Freunde, wie Marion, Martin und Kikjou, sondern auch beinah Fremde.

»Wir wollen Grammophon spielen«, schlug Marion vor; sie hatte ihre Hand immer noch auf dem Arm des Freundes. »Die schönen Negerplatten, die wir neulich gehört haben. – Es ist so reizend bei dir, Marcel. Wenn es jetzt noch Musik gibt, werden wir beinah glücklich sein.«

Marcel zu Marion: »Du bist zu geschäftig. Für mich hast du niemals Zeit. Ich bin nicht zufrieden mit dir.« – Sie bat ihn: »Sage das nicht! Es tut mir weh, wenn du so etwas sagst oder glaubst. Ich denke immer an dich. Die Wahrheit ist, daß zuviel an mich herantritt. Du kannst dir nicht vorstellen, mit was für abenteuerlichen Figuren und Problemen einen diese Emigration in Berührung bringt.«

»Und deine eigenen Pläne?« wollte er wissen. »Die Tournee, die du vorhast?« Es war ihm bekannt, daß sie von ihrem Plan, eine Theatertruppe zu organisieren, endgültig abgekommen war und nun für sich allein etwas vorbereitete. Indessen hatte er keine deutliche Vorstellung davon, um was es sich handeln mochte. Sie erklärte ihm: »Sei still! Ich bin abergläubisch. Von Projekten sprechen bringt Pech.«

»Du siehst müde aus«, sagte er. Aber der Blick, mit dem er sie umfing, enthielt mehr Bewunderung als Mitleid. »Du bist auch noch magerer geworden.«

Ihr kurzes, kräftig geformtes Gesicht mit dem breiten, gefährlich lustigen Mund und den eindringlich schönen Katzenaugen wirkte sowohl angegriffen als auch gespannt. Manchmal zeigte es den Ausdruck einer beinah wilden, aggressiven Entschlossenheit; zuweilen aber, wenn Marion sich unbeobachtet glaubte, erschlaffte es, und der Blick wurde starr.

»Du solltest für ein paar Tage mit mir ans Meer gehen«, schlug Marcel ihr vor. Sie machte Einwände: »Vielleicht – nächste Woche oder übernächste … Vorläufig habe ich hier zu tun. Heute nachmittag zum Beispiel muß ich Ilse Ill einem französischen Revuedirektor vorstellen, den ich noch aus guten alten Tagen kenne. Erinnerst du dich an Ilse Ill? Eine unglückselige Person! Das Überraschende an ihr ist, daß sie etwas Talent hat, man sollte es nicht für möglich halten. Übrigens war sie mir immer gräßlich. Es ist ja sonderbar, für was für Leute man sich jetzt einsetzen muß. Wählerisch darf man nicht mehr sein …«