Inside Türkis

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Währenddessen zog ein mediales Gewitter auf, das schon bald auf das Grüppchen hereinprasseln sollte: Um 0.48 Uhr meldete die Austria Presse Agentur (APA), dass die Bestellung von Kurz zum Staatssekretär für Integration fix sei – womit die Nachricht in allen Redaktionen des Landes landete. Und bis zu einem gewissen Grad waren die jungen Schwarzen auf Kritik an Kurz eingestellt – es war ja nicht gerade üblich, 24-jährige Jusstudenten in Bundesregierungen zu hieven. Also wurden Vorkehrungen getroffen. Kurz und Co. diskutierten die halbe Nacht, wie sich der drohende Shitstorm denn irgendwie verhindern ließe. Spätnachts organisierte Kristina Rausch Fertigpasta vom Lieferservice, Zeitzeugen zufolge in überschaubarer Qualität. Die erste aller Konferenzen der neuformierten Gruppe dauerte noch bis zum Morgengrauen. Rausch verließ das Büro als Letzte, da war es bereits sechs Uhr in der Früh.

Doch letztlich war alles, was man zur Vermeidung des erwarteten Schlagzeilengewitters ersonnen hatte, einerlei. Schon am nächsten Tag schwappte eine Welle der Empörung über den jungen Staatssekretär hinweg. In einem APA-Porträt firmierte er als »der Mann mit dem Geilomobil«, und das zählte noch zu den wohlwollenderen Beschreibungen des Nachwuchspolitikers. Der Standard etwa nannte Kurz’ Bestellung »eine Verarschung all jener, die im Integrationsbereich tätig sind«. Der »Unterhaltungskünstler« Kurz sei »eine denkbar schlechte Wahl«, in der Integrationsdebatte habe er zudem noch keinen Beitrag geleistet. In anderen Medien wurde Kurz in ähnlicher Art und Weise begrüßt, Willkommensklatscher waren weit und breit nicht zu sehen.

Ein Problemlöser für die Medienfront musste also her, und der Wunschkandidat, wie man schon in der Nacht festgestellt hatte, hieß Gerald Fleischmann und war berüchtigter Pressesprecher der abgesetzten Justizministerin Claudia Bandion-Ortner. Erste Bitten um Hilfe, etwa von Kristina Rausch, schmetterte Fleischmann noch ab. Die damals 19-jährige Kurz-Referentin fragte den für sein Temperament berühmten Politik-Vollprofi, ob er die Mediendinge in die Hand nehmen könne. Fleischmanns Reaktion: Er grummelte den Satz »Ich bin nicht euer Sprecher« und legte auf. Ende der Geschichte – vorerst.

Denn Zukunft sah Fleischmann in all dem fürs Erste einmal gar keine, stattdessen überlegte er, die Politik überhaupt zu verlassen, liebäugelte mit einem Wechsel in die Gesundheitsbranche oder zu einem anderen Minister.

Was also tun, um den Mann, der für das politische Überleben essentiell schien, an Bord zu holen?

Unterstützung erfuhr Kurz in dieser Lage wieder einmal von Spindelegger. Im Rahmen der Präsentation der neuen ÖVP-Minister auf der Politischen Akademie der ÖVP in Wien-Meidling verdonnerte der Parteichef den widerborstigen Pressesprecher einfach, künftig Kurz unter die Arme zu greifen. »Du machst das jetzt, zumindest für die ersten Interviews«, trug ihm Spindelegger auf – und Fleischmann folgte, wenn auch widerwillig. Er sagte für eine Woche zu, und als diese überstanden war, verlängerte er um eine weitere Woche und so weiter und so fort. Im Frühjahr 2020 waren es neun Jahre.

Damals aber waren die Umfragen niederschmetternd für Kurz. Von allen neuen Regierungsmitgliedern (als Staatssekretär ist man das offiziell zwar nicht, wird aber medial de facto wie ein solches behandelt) hatte er die mit weitem Abstand schlechtesten Werte. Vier Tage nach der Angelobung wurden Umfragen veröffentlicht, laut denen ihm eine absolute Mehrheit der Befragten nicht zutraute, das Amt des Staatssekretärs für Integration auszuführen.

Und doch wurde er in diesen heiklen Stunden geboren, der neue Machtzirkel um Kurz. Denn just jene Handvoll Jungschwarzer, die mit ihm in diesen ersten Nächten im April des Jahres 2011 die Vermessung der türkisen Welt einleitete, bildet seither das Rückgrat des Kurz-Systems. Ihre Aufgabenbereiche – Steiner für Inhalte und Strategie, Melchior für Organisation und Fleischmann für die Medienfront – wurden in diesen Nächten festgelegt und haben sich in all den Jahren nicht verändert. Nur ganz wenige vermochten später, als der politische Erfolg irgendwann Einzug gehalten hatte, noch in diesen engen Zirkel vorzudringen. Sie sind es, die bis heute einmal im Monat bei Kurz im Wohnzimmer sitzen und nicht selten bei gelieferter Pizza und Bier Strategien besprechen. Die großen Fragen werden in dieser Runde besprochen, sei es der Umgang mit dem Ibiza-Video im Mai 2019, die Koalitionsentscheidung im Herbst 2019 oder die Mega-Krise rund um die Corona-Pandemie.

Ein Beispiel: der überraschende Rücktritt Reinhold Mitterlehners. An diesem Maitag des Jahres 2017 stieg Kurz gerade in Wien-Schwechat aus dem Flugzeug, als ihn der Chefredakteur einer bürgerlichen Großformat-Tageszeitung anrief und fragte: »Sag einmal, stimmt es, dass der Mitterlehner zurücktritt?« Kurz hatte sein iPhone nach der Landung eben erst wieder aufgedreht, Nachrichten und Mails hatte er noch nicht gelesen, als er seinen vertrauten Medienmacher zurückrief. Dementsprechend fiel auch seine Antwort aus: »Schwachsinn, hört doch auf, so etwas zu erfinden.« Nach dem Gespräch tauchten dann allerdings die Nachrichten seiner Parteifreunde auf, dass der ÖVP-Chef tatsächlich das Handtuch werfen und das noch am selben Tag bei einer Pressekonferenz verkünden will. Kurz rief also den Chefredakteur an und entschuldigte sich für seine forsche Antwort. Hernach trommelte er sofort seine Leute zusammen. Keine halbe Stunde später saß der baldige Neo-Parteiobmann mit seiner Truppe rund um Steiner, Fleischmann und Melchior im Büro. Bevor er auch nur einen weiteren Schritt setzte, klärte er mit dem Trio, wie es nun weitergehen sollte. Schlecht vorbereitet waren sie ja nicht, aber dazu später noch mehr. Sie, die 2017 mit Kurz in dieser heiklen Stunde zusammensaßen, sind auch heute noch jene Vertrauten, die schwierige Entscheidungen mit ihm bereden. Die schwarze Partei hat da stets nur bedingt mitzureden, die Würfel fallen in der türkisen Partie.

»Ich bin ein totales Rudeltier, ich funktioniere nur in der Zusammenarbeit mit anderen Menschen«, sagt Kurz. Der Kanzler mag kein Faible für öffentlich ausgetragenen Koalitionsdiskurs und harten Widerspruch aus den eigenen Parteireihen haben, in seinem kleinen Kreis allerdings verlangt er Widerrede: »Es ist eine Grundvoraussetzung für mich, dass sie mir sagen, was sie denken.«

Dass es diese Truppe sein würde, die ihn politisch nach oben bringt, das ahnte Kurz schon 2011: »Mir war vollkommen klar: Wenn es funktionieren kann, diese Aufgabe zu übernehmen, dann nur mit diesem Team.« Kurz gibt sich »dankbar dafür, dass uns nie jemand aus dem Team verlassen hat, sondern dass es eher gewachsen ist«. Sein »Rudel«, das ist bis heute jene Handvoll mächtiger Schattenmänner, die mit Kurz den Takt einer ganzen Regierung vorgeben und deren Geschlossenheit und Professionalität letztendlich Hauptgründe dafür waren, dass sie der Weg bis ins Kanzleramt geführt hat.

Auch, wenn die selbstbewussten Mitglieder der Kurz-Partie zu diesem Zeitpunkt die einzigen waren, die das auch zu ahnen wagten.

Das sind ihre Geschichten.

STEFAN STEINER …

… geboren 1978, ist neben Sebastian Kurz die zentrale Figur im türkisen Universum und weicht seit 2011 nicht von seiner Seite. Der dreifache Vater hat keine politische Funktion und agiert ausschließlich als Berater und Vordenker im Hintergrund. Wesentliche Rolle als »Satellit« in der Corona-Krise, steckt auch hinter der türkisen Migrationspolitik und Kassenschlagern wie dem Familienbonus.

DAS TÜRKISE HIRN

Als hätte das Politjahr 2019 nach dem Ibiza-Video und dessen Folgen für österreichische Verhältnisse nicht schon genug Ungeheuerlichkeiten geboten, schlug am 5. September kurz vor zehn Uhr Vormittag die nächste kleine Bombe auf dem Wiener Parkett ein – zumindest nach Ansicht der Neuen Österreichischen Volkspartei.

In einer eilig einberufenen Pressekonferenz erklärten Parteichef Sebastian Kurz und sein damaliger Generalsekretär Karl Nehammer, dass die ÖVP Opfer eines großangelegten Hackerangriffs geworden sei. Die Kosten dafür lägen mindestens im sechsstelligen Eurobereich, die Beteiligung eines ausländischen Geheimdienstes wurde angesichts der Größe der perfiden Operation nicht ausgeschlossen. Für das beschauliche Österreich bedeutete das eine neue Dimension politischer Wahlkampf-Kriegsführung. Kurz vor der Nationalratswahl sollen also tatsächlich professionelle Hacker Jagd auf türkise Daten gemacht haben, so etwas gab es noch nie, und zwar in keiner Partei. Um sich diesen spektakulären Sachverhalt im Erdgeschoss der ÖVP-Zentrale erklären zu lassen, rückten an diesem Tag leitende Politikjournalisten oder gar Chefredakteure nahezu aller wichtigen Medien des Landes aus. Sie saßen eng aneinandergereiht an einem Konferenztisch, ihnen gegenüber der ÖVP-Chef und sein oberster Parteisoldat Nehammer. In einer Ecke hatte ein hinzugezogener IT-Experte eine Tafel aufgebaut, um aufzuzeichnen, wie der Angriff vonstattengegangen sein soll. Die Zeichnung war von mäßiger Übersichtlichkeit.

Nur einer saß wortlos in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Der Mann unterhielt sich mit niemandem, er lehnte nur stoisch da, die Arme verschränkt und die Augen konzentriert zusammengekniffen, wenn Kurz das Wort hatte. Er war unauffällig gekleidet, unter seinem dunklen Anzug trug er ein weißes Hemd. Auch sonst sah der dunkelhaarige Mann um die vierzig in allerhöchstem Maße normal aus. Das Einzige, was ins Auge stach, war eine kniehohe Plastikschiene um sein rechtes Bein.

Und obwohl hier die Crème de la Crème des österreichischen Innenpolitikjournalismus versammelt war, erkannten nicht alle Anwesenden auf Anhieb, wer dieser stumm dasitzende Mann denn eigentlich ist.

 

Das ist erstaunlich.

Denn er, der stille Mann mit dem geschienten Bein und ohne Frisur, das ist nicht weniger als die mit Abstand wichtigste Figur im Kosmos des Sebastian Kurz.

Sein vollständiger Name lautet Dr. Stefan Franz Helmut Steiner, in der ÖVP nennen sie ihn allerdings nur Stefan, oder, wenn über ihn gesprochen wird, »The Brain«, das Hirn. Dieses berät Kurz in Strategiefragen aller Art, ist seit Jahren für die inhaltliche Linie der türkisen Truppe verantwortlich und sitzt an jedem Tisch, an dem wichtige politische Entscheidungen getroffen werden.

Öffentliche Termine nimmt Steiner nur sichtbar wahr, wenn sie wirklich wichtig sind, und auch dann ist er stets nur Zaungast. Bei der Pressekonferenz nach dem Hackerangriff im Sommer 2019 war er dabei, weil es einer der brisantesten Medienauftritte des ÖVP-Chefs im gesamten Wahlkampf war. Kleinere Pressekonferenzen oder Termine schenkt er sich.

Der medienscheue Steiner meidet seit jeher bewusst das Rampenlicht. Dass ihn selbst einige Journalisten nicht erkennen, ist kein Zufall, er spricht nämlich so gut wie gar nicht mit ihnen. Steiner, er ist 1978 geboren und zählt damit zu den ältesten Mitgliedern des Kurz-Universums, bekleidet kein Amt und keine Funktion in der ÖVP, stattdessen agiert er als selbstständiger Berater. Keine zwei Wochen nach der Angelobung der türkis-blauen Bundesregierung, die er federführend verhandelt hat, gründete er seine Firma, deren Tätigkeitsbereich offiziell »Public Relations-Beratung« ist. Das Unternehmen schaltet keine Werbung und hat keinen speziellen Namen, ist lediglich nach seinem Inhaber benannt – aber Werbemaßnahmen sind in Steiners Firma ohnehin nicht vonnöten. Er hat nämlich derzeit nur einen einzigen Kunden, und der heißt Sebastian Kurz.

Mit diesem ist er tagtäglich im telefonischen Dauerkontakt, besprochen wird de facto alles. Wenn die beiden nicht gerade telefonieren oder via WhatsApp kommunizieren, dann liegt das nicht selten daran, dass sie ohnehin gerade im Kanzleramt oder anderswo eine Besprechung im engsten Kurz-Zirkel abhalten. Steiner begleitete den ÖVP-Chef nach der Nationalratswahl zur Lagebesprechung beim Bundespräsidenten und war Chefverhandler im Koalitionspoker mit den Grünen und den Blauen. Steiner ist von Anfang an der wichtigste Mann im System Kurz: 2011 wurde er Bürochef von Kurz im Staatssekretariat, im Außenamt war er dann Leiter der neuen Integrationssektion – und damit neben seiner Funktion als Chefstratege auch Spitzenbeamter. Nach einem Intermezzo als Kurz’ Wahlkampf-Generalsekretär 2017 agierte er schließlich »nur« noch als Berater.

Auch in der Corona-Krise spielte Steiner seine bewährte Schlüsselrolle, er wich Kurz im Kanzleramt kaum von der Seite und entwickelte mit ihm und anderen die Strategie, welche Maßnahmen wann getroffen werden müssen – und vor allem, wie all das der Öffentlichkeit schonend beigebracht wird, sodass keine Panik aufkommt. Steiner hatte immer im Blick, welche Maßnahmen andere Länder, etwa Italien, gerade setzten oder zumindest diskutierten und wie sich in Österreich dazu im Vergleich die Zahlen entwickeln. Während Gerald Fleischmann als Berater Öffentlichkeit und Medien im Visier hat, liefert Steiner, der Stratege und Jurist in Personalunion, Kurz das Fundament für sachpolitische Entscheidungen à la »Ausgangsbeschränkungen«. Kanzerlamts-Insider bezeichnen seine Rolle als die eines »Satelliten«, der von Sitzung zu Sitzung und von Bereich zu Bereich schwirrt. Steiner ist der Mann, der den Gesamtüberblick an allen Fronten der Corona-Krise zu bewahren hat.

Beim Schmieden der türkis-grünen Allianz hatte Steiner gar eine Doppelrolle inne. Neben seinem Tun als Chefverhandler verantwortete er auch noch den (aufgrund der konträren Positionen von ÖVP und Grünen) sensibelsten Teilbereich der Gespräche: das für die Wahlerfolge des Sebastian Kurz elementare Migrationskapitel.

Wie sehr Kurz seinem Chefberater Steiner vertraut, offenbarte sich in den vergangenen Jahren nicht nur durch die vielen türkisen Prestigeprojekte, die direkt aus Steiners Feder stammen (dazu später mehr), sondern unter anderem in einer für Türkis unangenehmen Causa des Jahres 2017. Kurz vor der – von Kurz selbst vom Zaun gebrochenen – Nationalratswahl wurde plötzlich ein Strategiepapier publik, in dem die Zeit nach der Machtübernahme in der ÖVP durch Kurz auf fast 200 Seiten penibel vorbereitet wurde. Das Brisante daran: Erstellt wurde es noch vor dem Rücktritt Reinhold Mitterlehners im Mai 2017. Kurz-Sprecher Gerald Fleischmann bestritt damals zwar die hundertprozentige Echtheit des kursierenden Papiers, mindestens so brisant wie der Inhalt des Konvoluts war aber ohnedies ein anderes Detail. Wie es bei bearbeiteten Word-Dateien nämlich so üblich ist, wird an den Seiten des Dokuments aufgelistet, wer es bearbeitet hat. Und da tauchten zwei Namen auf: Stefan Steiner und Bernhard Bonelli.

Es besteht kein Zweifel: Wer so eine heikle Aufgabe übertragen bekommt, muss nicht nur wichtiger Stratege, sondern auch hundertprozentig zuverlässig und vertrauenswürdig sein. Das ist Steiner, und zwar von Anbeginn der Kurz-Ära, als es galt, die politische Positionierung des Sebastian Kurz festzulegen. Dass Stefan Steiner diese zentrale Rolle einnehmen sollte, ist seit der Aprilnacht 2011, in der Kurz’ Einzug ins Integrationsstaatssekretariat fixiert wurde, klar. Jeder Zeitzeuge der damaligen Geschehnisse wird in den Jahren danach bestätigen, dass man sich sofort einig war, dass bei diesem Projekt ohne Steiner gar nichts geht.

Aber warum eigentlich? Wie wurde Stefan Steiner der wichtigste Kurz-Mann und wieso war das so früh schon allen klar?

»Ich habe ihn immer als irrsinnig gebildeten, sehr politischen Menschen erlebt, er hat einen unglaublichen Gestaltungswillen«, sagt Kurz über seinen wichtigsten Mitstreiter. Zudem sei Steiner »ein exzellenter Jurist«, bewundert habe Kurz vor allem auch, dass der Wieselburger als Kind in der Türkei lebte.

Den Großteil seiner Jugend verbrachte Steiner in Istanbul, er spricht seither fließend Türkisch. Seine Eltern, bürgerlich gesinnte Lehrer, waren 1988 aus reiner Abenteuerlust in die Türkei ausgewandert. Sie heuerten am österreichischen St.-Georgs-Kolleg in Istanbul an. Die Schule wird betrieben von den Lazaristen, das ist ein vor rund 400 Jahren gegründeter katholischer Männerorden.

Die beiden Steiner-Buben, der zehnjährige Stefan und sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Thomas, kamen mit nach Istanbul. Steiners Vater unterrichtete Deutsch und Latein, die Mutter war Hauptschullehrerin für Deutsch und Biologie und bereitete in Istanbul Kinder in einjährigen Intensivkursen sprachlich auf die österreichische Schule vor. Um nicht von seinen Eltern unterrichtet zu werden, besuchte Steiner das deutsche Gymnasium und wechselte erst im Maturajahr in die Schule seiner Eltern.

In diesen Jahren lernte Steiner einerseits, wie er später erzählen wird, was Fremdsein in einem gänzlich anderen Kulturkreis bedeutet. Die Türkei war damals, in der Zeit vor Präsident Recep Tayyip Erdogan, zwar vergleichsweise aufgeklärt, der Islam spielte im öffentlichen Leben für die katholische Familie keine allzu große Rolle. Und doch begriff Steiner, dass man sich anderswo anpassen muss. Fremdsein, das bedeutet für Steiner vor allem Respekt vor ortsansässigen Lebensweisen, das bedeutet für ihn bis zu einem gewissen Grad auch Assimilation. Vor allem aber wurde ihm damals in der Fremde klar, wie er später erzählen wird, was es für ihn heißt, Österreicher zu sein. Was Steiner darunter versteht? Neben dem Erhalt kultureller und konfessioneller Gegebenheiten meint er damit vor allem die Gleichstellung von Frauen und den Rechtsstaat, sagt er.

In Steiners Schulklasse saßen Kinder aus einem guten Dutzend anderer Länder. Da waren Türken, Koreaner, viele Deutsche und noch mehr andere Europäer, und mit den allermeisten verstand er sich gut. Anerkennung in der Klasse fand er nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass er ein passabler Fußballspieler war. Gewohnt hat die Familie im mittlerweile aufgeblühten Arbeiterviertel Besiktas. Hie und da besuchte Steiner in den Neunzigern Spiele des zu dieser Zeit vom Deutschen Christoph Daum trainierten Klubs Besiktas Istanbul, dessen Stadion in Hörweite zur Wohnung der Steiners war.

Sofort nach der Matura ging Steiner alleine zurück nach Österreich. Er mietete sich in einem Studentenheim in Wien ein und feilte fürs Erste einmal ehrgeizig an einer Juristenkarriere. Nebenbei kickte er unterklassig, erst bei seinem Heimatverein, dem SC Raika Wieselburg. Bei dessen Benefizspiel zum 85-jährigen Jubiläum zog sich Steiner im Sommer 2019 übrigens jenen Einriss der Achillessehne zu, der ihn dazu zwang, mit Schiene und Krücken durch den Wahlkampf und zur eingangs geschilderten Pressekonferenz zu humpeln. Gegen Ende seiner Kickerkarriere, er studierte damals noch, wechselte er nach Pöchlarn in die unterste Amateurliga Niederösterreichs, dort verdiente er sogar eine kleine Gage. Der Grund dafür war allerdings sein jüngerer und fußballerisch wesentlich talentierterer Bruder. Der Verein wollte den jüngeren Steiner als Stürmer für den Aufstieg in die zweitniedrigste Liga Niederösterreichs engagieren. Weil sein jüngerer Bruder aber gerade mit Freundin in Griechenland urlaubte, führte Steiner die Verhandlungen. Zum Schluss wurde Steiner, ohne je vorgespielt zu haben, auch gleich verpflichtet. Meister wurde Pöchlarn damals übrigens trotz finanzieller Übermacht und Favoritenrolle nicht. »Vom Meister reden is’ leicht«, sagte ihm ein etwas dickbäuchiger Mannschafts-Haudegen damals. »Meister werden«, und so endete die triviale Unterklasseweisheit, »is’ schwer«. Ein Spruch, der Steiner, wie er behauptet, angesichts hervorragender Umfragewerte nicht selten im Nationalratswahlkampf 2017 durch den Kopf schwirrte.

Vor der Jahrtausendwende hatte der Wieselburger mit der ÖVP vorerst allerdings noch relativ wenig zu tun. Steiner studierte schnell, bereits im Alter von 25 Jahren promovierte er im Fach Völkerrecht. Ein Jahr seines Studiums verbrachte der Jurist in Belgien, seine Vorliebe galt der Rechtsphilosophie. Abgesehen vom liberalen Vordenker Thomas Hobbes faszinierte Steiner vor allem ein Philosoph nachhaltig: John Rawls, und zwar konkret dessen »Schleier des Nichtwissens«. Für einen ÖVP-Mann ist das Interesse an dieser Theorie alles andere als typisch. Und just das inhaltliche »Hirn« des Kanzlers, der nicht nur aus strategischen Gründen teilweise eine blassrote Sozialpolitik verfolgt, beschäftigte sich damit. Kurz zusammengefasst funktioniert dieses für Gerechtigkeitsfragen ersonnene Gedankenexperiment so: Der Philosoph Rawls setzt in dieser Theorie voraus, dass Menschen aufgrund eines »Schleiers« nicht wissen, wo in der Gesellschaft sie in Zukunft stehen werden, wenn sie sich ausmachen müssen, wie man in Zukunft zusammenlebt. Merkmale wie Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder Geschlecht werden darin also ausgeblendet. Der 2002 verstorbene Harvard-Professor ist der Meinung, dass man sich in diesem »Urzustand« auf eine Gesellschaft einigte, in der es den Schlechtergestellten wesentlich besser als sonst ginge, weil Reiche ja nichts von ihrem Reichtum wissen und demnach Vorkehrungen für den Fall treffen, selbst in Armut zu geraten. Das etwas zugespitzte Credo des Ganzen: Wenn man als Gesellschaft Entscheidungen träfe, ohne zu wissen, ob man zu den Topverdienern oder Niedriglöhnern gehört, wäre die Welt eine gerechtere. Was zählt, ist einzig und allein die Leistung, respektive die Bereitschaft dazu. Einer der prominentesten Fans dieser Theorie ist übrigens der Demokrat Bill Clinton.

Wird Steiner gefragt, in welcher der drei Hauptströmungen der Volkspartei – dem Konservativismus, dem Liberalismus und dem Christlich-Sozialen – er sich am wohlsten fühlt, nennt er die zwei letzteren Richtungen. Wie übrigens auch ein gewisser Sebastian Kurz das regelmäßig tut. »Steiner hat ein klares Weltbild, er hat sehr klare Überzeugungen«, sagt Kurz. Welche Überzeugungen das sind, wissen allerdings nur wenige. Selbst Freiheitliche, die in Zeiten der Koalition mehrmals wöchentlich mit ihm zu tun hatten, bezeichnen Steiner als »Typen, aus dem man nicht so richtig schlau wird«. Der Wieselburger gebe so gut wie nie preis, was er denkt und wie er tickt.

Hinter vorgehaltener Hand wird Steiner von Vertrauten übrigens nur selten als »liberal« bezeichnet, wesentlich häufiger wird er als »Konservativer« oder »Hardliner« klassifiziert, und das entspricht seinem Naturell wohl schon eher. Steiner sagt zwar selbst über sich, »nicht in ideologische Schubladen« einteilbar zu sein, selbst seine engsten Wegbegleiter beschreiben ihn allerdings als »extrem ideologischen und politischen Menschen«. Steiner sei »wertebewusst« und vor allem im katholischen Glauben stark verwurzelt, sagen jene, die ihn seit Jahren gut kennen. Steiner ist gläubig, er besucht regelmäßig die Heilige Messe. »Law and Border« ist seine politische Maxime, sagen enge Vertraute, die Ablehnung der bedingungslosen »Willkommenskultur« während der vorrangig aus muslimischen Migranten bestehenden Flüchtlingswelle im Jahr 2015 eine seiner zentralen Missionen. An Steiner, der Kurz weltanschaulich extrem ähnlich ist, wird gut sichtbar, dass es sich bei den Türkisen nicht um eine Truppe opportunistischer Bobos ohne politische Überzeugungen handelt. Die türkise Spitze besteht teilweise aus strammen Konservativen, wiewohl diese sich selbst ob ihrer marktorientierten Sichtweisen in wirtschaftspolitischen Fragen lieber als Liberale bezeichnen. Klingt ja auch wesentlich schicker und moderner.

 

Die vermutlich stärkste ideologische Klammer der Türkisen ist, und dafür steht ihr Vordenker Steiner exemplarisch, eine totale Aversion gegenüber der SPÖ und der Großen Koalition. Steiner gilt, das sagen gleich mehrere ÖVP-Leute, als einer der größten Gegner der Roten bei den Türkisen. Das liegt einerseits an weltanschaulichen Ansätzen, andererseits an strategischen Überlegungen – und nicht zuletzt an persönlichen Erfahrungen aus den Zeiten der zerstrittenen Koalition der ÖVP mit der SPÖ. Steiner erlebte hautnah mit, wie Kurz in Rekordzeit zum Feindbild der Roten, die bei den Türkisen »Sozis« genannt werden, avancierte. Integration sah die SPÖ schließlich als ihr Thema, und dann übernahm es auch noch ein frecher Polit-Neuling. Ex-Vizekanzler Michael Spindelegger erinnert sich an damalige Ministerräte: Wenn Kurz in der wöchentlichen Regierungssitzung das Wort hatte, seien ihn »die SPÖ-Minister stark angegangen, vor allem die Frauen«. Mehr noch: »Wenn er zu reden begonnen hat, ist schon am unteren Tischrand um Gabriele Heinisch-Hosek, Doris Bures und Claudia Schmied ein Tumult entstanden. Die haben sich sofort alteriert.« Sein Status als Feindbild der Roten sollte sich all die Jahre nicht ändern, das Ganze gipfelte in den von der SPÖ organisierten Sudelkampagnen im Wahlkampf 2017. Spätestens da war die SPÖ-Abneigung auch beim letzten Kurz-Intimus einzementiert.

Steiner denkt, so erzählt man sich, bei seinen strategischen Überlegungen gerne auch mit, was eine Entscheidung langfristig für den historischen Hauptgegner der Bürgerlichen – für die Sozialdemokratie nämlich – bedeutet. In der FPÖ sehen die wenigsten Türkisen langfristig eine Partei, mit der man um das Kanzleramt rittert, ganz zu schweigen von Grünen und Pinken. Zufall oder nicht: Sei es die Koalition mit den Grünen, die bewusst vorgenommene sozialere Ausrichtung oder sonstige ÖVP-untypische Ansätze – all diese Richtungsentscheidungen eint, dass damit der SPÖ das Wasser abgegraben wird. Steiner riet Kurz übrigens früh, mit den Grünen zu koalieren, wenn das irgendwie möglich sein sollte. Kurz verrät: »Er war von Anfang an ein Befürworter dieser Koalition, weil die Option mit der FPÖ letztlich keine war und er genauso wie ich keine Koalition mit der Sozialdemokratie angestrebt hat wegen der Sorge, dass es dann wieder Stillstand gibt.« Auch die Idee des »koalitionsfreien Raumes« für Maßnahmen in einer möglichen Asylkrise stammt im Wesentlichen aus Steiners Feder. 2017 riet Steiner bereits Monate vor der Nationalratswahl dazu, eine Koalition mit den Freiheitlichen anzustreben. Nach dem Auftauchen des skandalösen Ibiza-Videos war er laut FPÖ-Leuten in den Krisensitzungen allerdings sofort der schärfste Gegner einer Fortführung der Koalition – was ihm die Blauen immer noch übelnehmen.

Wie aber kommt jemand, der nie einer Studentenverbindung angehörte, der keinem parteipolitischen Elternhaus entstammt und seine Kindheit in der Türkei verbrachte, zur Volkspartei? Die Antwort: über den Nachbarbauern aus Wieselburg.

Das Feld neben Steiners Elternhaus gehörte nämlich einer gewissen Familie Pernkopf. Der jüngere der Pernkopf-Brüder ist genau in Steiners Alter und ein enger Freund, die beiden wohnten auch gemeinsam im Studentenheim. Als die Steiner-Brüder schließlich beide nach Österreich zurückgekehrt waren, waren sie an Sonntagen hie und da zu den Pernkopfs zum Essen eingeladen. Zu dieser Zeit entstand Steiners Interesse an dem, was Stephan Pernkopf, der ältere der Brüder, gerade startete: ein Leben in der Politik, genauer gesagt in der ÖVP.

Pernkopf, mittlerweile Vizelandeshauptmann des schwarzen Bundeslandes, begann damals eine verheißungsvolle Karriere beim niederösterreichischen Bauernbund. Er überzeugte Steiner, dessen Großeltern väterlicherseits ebenfalls Landwirte gewesen waren, davon, der ÖVP via Bauernbund beizutreten. Zwar verrichtete Steiner damals auch klassische Parteidienste, 2002 verteilte er vom Wahlkampfkonvoi des Bauernbündlers Wilhelm Molterer aus Werbegeschenke, sein Interesse galt allerdings von Anfang an dem inhaltlichen Aspekt der politischen Arbeit. Also bemühte er sich, als Referent in die politische Abteilung zu kommen. Zudem schrieb er bald Reden für den damaligen Landeshauptmann Erwin Pröll und seinen Generalsekretär Gerhard Karner. In dieser Zeit wurde Steiner erstmals richtig parteipolitisch geprägt.

Damit hat Steiner etwas mit dem Gros der Kurz-Vertrauten gemeinsam, denn auch Philipp Maderthaner, Gerald Fleischmann (mit den beiden bildete er bereits in Niederösterreich eine Achse), Karl Nehammer und viele andere wurden politisch sozialisiert durch den Geist der mächtigsten ÖVP-Organisation der Republik. Überhaupt herrscht im Umfeld des Kanzlers ein eklatantes Übergewicht an Niederösterreichern, nur vereinzelt tummeln sich Tiroler oder Steirer in seinem Umfeld.

Was auf den ersten Blick nach einem föderalistischen Zufall aussieht, ist alles andere als bedeutungslos. Angesichts der dort für die ÖVP seit vielen Jahren üblichen absoluten Mehrheit ist es in Niederösterreich nicht unbedingt vonnöten, den Kompromiss, etwa mit den Sozialdemokraten, nachhaltig zu erlernen. Schlagkräftige Oppositionspolitik gibt es kaum. Eines der bekannteren Credos der niederösterreichischen Schwarzen lautet zudem: »Eine nehmen, zwei austeilen«, manch einer bevorzugt die Kurzvariante »Ane her, zwa zruck«. Was martialisch klingt, ist nichts anderes als die Versinnbildlichung einer sagenhaften Partei-Geschlossenheit, durch die es Angriffe von außen auf die eigene Truppe beinhart zu bekämpfen gilt. Kurzum: In Niederösterreich wird einem schon früh beigebracht, wie politische Macht ausgeübt wird.

Bald zog es Steiner jedenfalls in die Wiener Politik, wenn auch vorerst »nur« als Jurist. Er war etwa Referent für rechtliche Angelegenheiten unter Maria Fekter. Weil Steiner einer der wenigen Zivildiener in ranghohen Positionen des Innenministeriums war, leitete er ab dem Jahr 2006 die sogenannte Zivildienst-Service-Agentur. Und dann kam Josef Pröll.

Als dieser die ÖVP übernahm, keimte wieder Hoffnung auf Besserung auf, auch in Steiner. Pröll machte den Wieselburger, auf den er schon früh große Stücke hielt, zum politischen Direktor der Volkspartei, mehr noch: Steiner war federführend bei den »Perspektivengruppen« dabei. Dabei handelte es sich um ein Vehikel, angetrieben von der Partie um den jungen Pröll, durch das die Volkspartei inhaltlich und organisatorisch neu aufgestellt werden sollte. Die Slogans, die rund um das Mantra »Erneuerung« kreisten, erinnerten bereits frappant an die spätere »Zeit für Neues«-Kampagne für Kurz – allein, der Reformgeist bei Pröll ging jäh verlustig. In dieser Zeit wurde Steiner, Maderthaner, Fleischmann und Co. vor Augen geführt, wie man es nicht macht. Denn was helfen einem große Reformansagen, wenn man sie in einer zerstrittenen Koalition mit Sozialdemokraten im Kanzleramt nicht umsetzen kann? Auch fehlte Pröll die breite Basis in der ÖVP, dem Parteichef wurde in diesen Zeiten der Wirtschaftskrise zunehmend die interne Unterstützung versagt. Sogar daheim im Niederösterreich seines Onkels Erwin Pröll, wie es später hieß.

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