Der Reisebericht des Hieronymus Münzer

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2. Pilgerfahrt, Bildungs-, Handels- oder diplomatische Reise? Organisationsformen des Reisens und Schlüssel zum Fremden



Hieronymus Münzer war mobil, aus Vorarlberg stammend, mit Studien in Leipzig und Pavia hatte er schon vor und zu Beginn seiner Nürnberger Zeit viele Eindrücke aus der Fremde sammeln können. Soweit wir wissen, unternahm er von Nürnberg aus drei Reisen: 1483/84 nach Italien – angeblich auch, um der Pest zu entfliehen – und 1484 nach Lüttich. Von beiden Reisen wissen wir sehr wenig, dafür umso mehr von der hier wichtigen Westeuropareise 1494/95. Seine Fahrt und der spätere Bericht sind miteinander verknüpft, aber es ist wichtig, Erlebnis- und Berichtsebene zu scheiden, denn es wurde ja nur ein Bruchteil des Gesehenen in einen möglichen Bericht integriert, ganz zu schweigen von Auslassungen, literarischer Gestaltung und weiteren Aspekten1. Deshalb sei der Blick zunächst auf das Reisen und die Reise selbst gerichtet.



Dass Reisen ein gefährliches Unterfangen war ist bekannt, wird aber oft nicht ausreichend berücksichtigt. Angesichts der Unsicherheit der Straßen, der Mühen und Strapazen, der Wegelagerer, Diebe und Betrüger und vieler anderer Dinge mehr war die Rückkehr von einer Reise oft mehr als ungewiss. Nicht zuletzt der Pilgerführer nach Santiago de Compostela aus dem 12. Jahrhundert2 führt diese Gefahren plastisch vor Augen, auch andere Quellen sind dazu einschlägig. Gleichwohl nahm das Reisen im Laufe des Mittelalters zu, dies betraf aber verschiedene Personengruppen und letztlich auch unterschiedliche Arten des Unterwegsseins3.



Verschiedene Kategorien mögen helfen, wenn man fragt: Warum reisen die jeweiligen Protagonisten, was nehmen sie wahr und schließlich wohin reisen sie? Die ersten beiden Fragen – die für Münzers Reise noch offen sind – zielen im Grunde zugleich auf Typisierungen von Reiseformen: Was unterschied die Reise eines Adeligen oder eine Brautreise von einer Pilgerfahrt, was die diplomatische Reise von einer Handels- oder Handwerkerreise, vielleicht gar von einer militärischen Expedition? Etiketten wie Adelsreisen, Missionsreisen und Entdeckungsreisen, Pilgerreisen – sei es nach Rom, Jerusalem oder Santiago – Heidenfahrten und Kavalierstouren, Bäder- oder Bildungsreisen bieten nur einige gängige Klassifizierungen. Da aber häufig – auch im Falle Münzers – weniger eine einzelne Motivation, sondern ein Knäuel von Motiven das Reisen bestimmte, mag ein einzelnes Etikett sogar in die Irre führen: Bei Münzer kamen zum Beispiel kosmographische, wirtschaftliche und religiöse Interessen, vielleicht auch politische Aufträge zusammen.



Verglichen werden kann Münzers Reise aber aufgrund des Zielgebietes, das sich mit zwei weiteren großen Reisen trifft: Westeuropa und insbesondere die Iberische Halbinsel standen auch bei dem böhmischen Adeligen Leo von Rožmital und dem Breslauer Kaufmann Nikolaus Popplau, die 1465 bis 1467 und 1483 bis 1486 in Westeuropa unterwegs waren und darüber berichteten, im Vordergrund.



Münzer reiste nicht wie Adelige mit großem Gefolge, aber sich ganz allein auf den Weg zu machen, war ebenso undenkbar. Drei Begleiter wählte er aus: Anton Herwart, Caspar Fischer und Nikolaus von Wolkenstein. Laut seiner Einleitungsbemerkungen verfiel er nicht zuletzt auf Grund kaufmännischer Erfahrung und ihrer Sprachkenntnisse auf diese Personen4

.

Diese als

socii

 bezeichneten Männer werden im Bericht nicht mehr so oft erwähnt, dürften ihm aber bei der Reise stets zur Hand gegangen sein, erschlossen auch manchen Kontakt in die Kaufmannswelt.




Deshalb waren die neuen Kontakte – die zuweilen vorbereitet waren – fast wichtiger. Ganz besonders wurde Fremdes auch durch die Landsleute im Ausland angebahnt5

.

Der Bericht ist voll von entsprechenden Bemerkungen: Es waren Mitglieder der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Künstler, Mönche und Kanoniker, Drucker, Geschützmeister und viele andere mehr6, welche die Gruppe empfingen, die Örtlichkeiten zeigten und vielleicht auch in sprachlicher Hinsicht die Kommunikation vereinfachten, somit die Fremde erschlossen7

.



Weiterhin fanden Personen Aufmerksamkeit, die über die Netzwerke des Kartäuserordens mit Nürnberg verbunden waren, wie Münzer in der Kartause bei Antwerpen feststellte8

,

oder gelehrte Humanisten wie in Portugal Duarte Galvão, der einen akademischen Lehrer (Dr. Johannes Burckstaller) Münzers kannte9

.



Neue Personen traten hinzu, die zugleich als „Türöffner“ durch ihre Empfehlungsschreiben fungierten. So ebnete der neue Erzbischof von Granada, Hernando de Talavera, durch seine Schreiben den Weg zu den Katholischen Königen, die Münzer dann später in Madrid treffen durfte. Die Briefe heißen im lateinischen Text meist

Litterae promotionales

, es waren Empfehlungsschreiben. Manche dieser Briefe werden auch als

Litterae passus

 bezeichnet, sie sollten offensichtlich den Übertritt der Grenzen in ein weiteres Herrschaftsgebiet erleichtern. Sie werden im Reich Granada, in Portugal, in Madrid und in der Picardie genannt. Diese Schriftstücke dokumentieren vielleicht eine Vorform des Ausweises, des Visums und könnten somit gut mit dem Terminus „Passierschein“ vorläufig bezeichnet werden.





3. Interessen und Wahrnehmung: von Handelszentren und Höfen, Moscheen und Pilgerorten, Reliquien und Kunstwerken



Münzer reiste mit seinen drei Begleitern in kleiner Gruppe, zu Pferd, und notierte die Reisedistanzen in der Regel tageweise genau. Allerdings sind die Meilenangaben, die meist mit dem lateinischen Wort

leuca

 (zuweilen auch

milia

) angegeben werden, nicht völlig verlässlich und nehmen wohl auch auf lokale Gepflogenheiten Rücksicht, wie die Bemerkungen zu den langen Meilen in Katalonien nahelegen1. Die auf der Karte2 eingezeichneten Orte verraten aber noch nicht, was Münzer interessierte oder besser: was ihm des Aufzeichnens wert erschien.



Jedoch erschließt die Reiseroute verschiedene Interessensfelder. Erscheint die Italienreise von 1484 noch ganz einem klassischen Ablauf entsprechend, bei dem die wichtigen Städte Ober- und Mittelitaliens besucht wurden, so dringt die Westeuropareise 1494/95 in Neuland vor. Münzers Streckenführung über die Schweiz und das Rhônetal nach Katalonien und der Rückweg über Roncesvalles, Tours, Paris und Belgien folgte bekannten Wegen und entspricht teilweise der „Ober“- und die „Niederstraße“, die Hermann Künig von Vach 1496 in seinem Führer für Jakobspilger unterschied3. Handels-, Reise- und Pilgerwege waren häufig identisch.



Den ersten Teil seiner Fahrt charakterisiert Münzer selbst in seiner Rede vor den Katholischen Königen in Madrid, die er dort gehalten haben soll. Der Bericht integriert diese rhetorische Leistung, die alle Erlebnisse der Reisegruppe auf die prägende Kraft der Katholischen Könige zuspitzt4:



Heiligste und mächtigste Könige! Die Größe der Taten, die Eure Majestäten vollbracht haben, ist auf dem ganzen Erdkreis bekannt, und die Fürsten und Adligen Deutschlands sind voller Bewunderung, dass die Reiche Spaniens, die in der vergangenen Zeit wegen der zahlreichen inneren Kriege, des heimlichen Hasses und der privaten Interessen fast vollkommen erschüttert schienen, am Boden zerstört, dass diese Reiche nun ein Stern in so kurzer Zeit von der höchsten Zerstrittenheit zu einem so großen Frieden, zu einer so großen Ruhe und zu einem so großen fruchtbaren Zustand hat führen können.



Weil viele dies nicht hätten glauben können, habe er sich mit seinen Begleitern selbst auf den Weg gemacht, um die Ergebnisse des königlichen Waltens in Augenschein zu nehmen. Und dann lässt er die Reise ab Katalonien Revue passieren, zunächst den Wiedererwerb der Grafschaft Roussillon: „Diese Grafschaft, die an den König Ludwig verpfändet worden war, gab dessen Sohn Karl freiwillig an Euch zurück und wollte, dass sie wieder Eurem Szepter unterstehe.“ Barcelona sei nach Rebellionen befriedet worden: „jetzt sahen wir sie aber unter Euren Auspizien wiederinstandgesetzt und in einem besseren Zustand.“



Es folgen Bemerkungen zum bekannten Kloster Montserrat, zu Poblet, der Grablege einiger Könige, und schließlich zu Valencia und dem alten, erst vor kurzem durch die Katholischen Könige eroberten Granada. Dort herrschten schon neue Adelige, die Münzer – wie er sagt – Auskünfte gegeben hätten: „Wir wurden über die wichtigsten Dinge durch den Grafen von Tendilla und durch den ehrwürdigsten Herrn Erzbischof informiert“. Alhama, Malaga und Sevilla boten neue „Wunder“, denn „wir sahen einige neue Menschen, zu unseren Zeiten bisher unbekannt, die man aus den Ländern Indiens herbeigebracht hatte, den Ländern, die unter Euren Auspizien entdeckt wurden.“



Auch am Hof des Königs von Portugal wurde die Gruppe „über die Dinge in Äthiopien und die südlichen Länder informiert“. Über Santiago, Salamanca und Toledo seien sie nun auf die „Urheber solch großer Taten“ gestoßen: „Wir kommen, ich sage es, zu den Königen, durch welche die Rechte des Herrn die Völker aufrichtete, Reiche unterwarf und neue Menschen entdecken ließ.“



Die Rede spitzt alles – auch im Stil humanistischer Rhetorik – auf den Besuch bei den Katholischen Könige zu, und in der Tat könnte Münzer Aufträge König Maximilians und anderer zum Kontakt an den Höfen von Évora/Lissabon und Madrid mitgeführt haben. Weitere Motive für Münzers Reise lassen sich auch an der Verweildauer ablesen, denn auf der Iberischen Halbinsel hielt Münzer sich deutlich länger als in anderen Gegenden auf. Die Karte erschließt gut die etwas längeren Aufenthalte (in Spanien 14 Orte, in den anderen Gegenden, vor allem Westfrankreich und Flandern neun Orte).








Münzers Reisen 1483/84 und 1494/95 (R. Hurtienne, V. Trenkle, Chr. Gürtler)

 



1 Die Hauptaktivitäten lassen sich bündeln:

2 Münzer traf nicht nur auf der Iberischen Halbinsel zahlreiche Händler und notierte Handelsgüter sowie Handelsströme. Dies scheint vor allen Dingen im katalanisch-valencianischen Raum, in Portugal und in Flandern der Fall gewesen zu sein. Bei diesen Kontakten traten oft die am Ort ansässigen Deutschen in den Vordergrund. Ob Münzer Aufträge zu Sondierungen besaß, ist allerdings nicht sicher. In diesen Zusammenhang gehören auch seine Notizen zu den zahlreichen Schätzen aus den Afrikareisen, die er nicht nur im Itinerarium, sondern auch in einem gesonderten Traktat niederlegte5. Wenn man die Bemerkungen zu Barcelona und Valencia mit denen in Portugal vergleicht, so scheint der Nürnberger Arzt die Zeichen der Zeit erkannt zu haben: Der künftige Handel würde mehr auf den Atlantik als auf das Mittelmeer ausgerichtet sein.

3 Besonders die Besuche am Hofe Johanns II. in Portugal und am Hof der Katholischen Könige in Madrid könnten nicht nur auf politische Aufträge schließen lassen. Hier traf Münzer auch Vertreter des Humanismus wie Cataldus und Petrus Martir, deren Werke er erwähnt. Zum zweiten lobte er die Politik dieser Herrscher und die Erziehung der jungen Prinzen am Hof. Vielleicht „sichtete“ er sogar die Ehepartner zur Vorbereitung der 1496 stattgefundenen habsburgischen Doppelhochzeit6.

4 Zahlreiche Bemerkungen zur Landschaft, zu den Distanzen, zu Vegetation, Flora und Fauna bieten dem Leser ein breites Spektrum zu den verschiedenen Pflanzen, aber auch zu Bewässerungsverfahren, Herstellung von Rosinen, Glas und Zucker oder zur Funktionsweise von Ölmühlen. Münzer interessierte sich für Gärten, Bewässerung, Pflanzen und Früchte, Bodenschätze, Heilquellen, Märkte, Preise, Handelsaustausch und Städtebilder. Nicht nur die Betrachtung einer „Kosmographie“, womit wohl die Karte des Fra Mauro gemeint ist, lässt die verschiedenen kosmographischen Interessen Münzers deutlich erkennen. Aufträge für den Nürnberger Gelehrtenkreis sind deshalb wahrscheinlich, ohne dass völlig klar wird, wie gezielt diese Aufgaben waren.

5 Daneben waren die Interessen Münzers breit, Lehren und Praktiken des Islam, auch die Frage der Judenpolitik blieben auf der gesamten Reise eine wiederkehrende Thematik. Es ging ihm aber nicht nur um fremde Religionen, vor allem außerhalb Spaniens werden Heiligenzentren der Schweiz und Südfrankreichs ausführlich – auch mit Gedichten und Epigrammen – gewürdigt. Vielfach paarte sich dieses Interesse mit der Beschreibung von Reliquien und Kirchenschätzen. Der wirtschaftliche Sinn kam dem Nürnberger dabei nicht abhanden, denn mehr als einmal notierte er den Wert der einzelnen kostbaren Stücke. Die Abschrift aus dem Liber Sancti Jacobi in Compostela bietet ein Dossier, das sich nicht nur aus dem Interesse für Jakobus, sondern auch aus einem Faible für die Karlsepik speiste7.



Handel, Politik, Religion und Wissenschaft dürften somit die vielfältigen Reisemotive Münzers charakterisieren. Münzers Wissensdrang war groß, er ging aber noch zuweilen über diese hier kurz skizzierten Interessen hinaus, denn der Nürnberger Arzt beschreibt – was in dieser Zeit noch die Ausnahme war – häufig und detailliert die Landschaft. Dazu traten religiöse Gebräuche – Reliquienkult und Mönchsgemeinschaften –, fremde Religionen, künstlerische Werke, Exotica, Universitäten, Apotheken, Spitäler und praktische Dinge, die seine Aufmerksamkeit erheischen. Dies reichte bis zur Organisation des Abwassersystems in Barcelona. Gewiss spielen auch Empfänge bei Hof eine Rolle, aber weniger als in den anderen Reiseberichten von Adligen und Patriziern.



Dass Münzer das viele Neue häufig mit Bekanntem aus seiner Heimat verglich entspricht dem Bedürfnis, Unbekanntes zu begreifen, also auf den Begriff zu bringen8. Vergleiche finden sich zuhauf in Münzers Bericht. Münzer hat sich aber nicht nur deshalb auf den Weg gemacht, um sein bisheriges Wissen durch Anschauung zu bestätigen oder zu erweitern, wenn auch die

curiositas

, die manche für ein Merkmal der beginnenden Neuzeit halten, in seinem Itinerarium zuweilen erkennbar ist.



Dies erschließt vielleicht auch sein Interesse an fremden Religionen. Im alten Reich Granada lebten nach der Eroberung durch die Katholischen Könige 1492 noch zahlreiche Muslime: Gebetsriten, Bestattungen und anderes interessieren den Nürnberger Arzt. Dieses Interesse wurde in Zaragoza fortgesetzt, denn dort erläuterte ihm angeblich ein „Priester“ der Muslime, wie es mit der Vielehe stehe. Trotz mancher Kritik lobte der Nürnberger Arzt aber die Arbeitskraft der Muslime, die ihm sogar in manchen Gegenden unentbehrlich erschien. Ganz anders war seine Haltung zu den Juden oder den als „Marranen“ bezeichneten neu getauften sogenannten

Conversi

, die Münzer am Mittelmeer, aber auch in Lissabon und immer wieder erwähnte und deren Ausweisung er kommentierte: Hier teilte er ganz die rigorose Politik der Katholischen Könige und war in seiner Meinung vielleicht auch von ähnlichen Tendenzen im Reich zu Ende des 15. Jahrhunderts mitbestimmt.



Aber wie hielt er es mit der eigenen Religion? Was bedeutete ihm der kritische Vergleich von Reliquien? Wie können, so fragte sich nicht nur Münzer, sondern später auch Arnold von Harff, Jakobusreliquien in Toulouse vorhanden sein, wo doch der gesamte Leichnam in Compostela ruht? Die Kritik am Reliquienwesen ist alt, gewann aber neue Aktualität und hat später auch Martin Luther zu seiner Kritik an der Compostelafahrt geführt9. In Compostela bemängelte Münzer, dass er den Leichnam des Apostels nicht sehen konnte und fügte seufzend – oder ironisch? – hinzu, dass wir dies alles nur glauben könnten10. Der praktische Pilgerbetrieb in Compostela schien Münzer aber vor allem zu stören, und ähnlich kritisch vermerkt er zur Aachenfahrt, dass die Pilger dort mit viel Geld kämen und mit leerer Börse heimkehrten11.



Es wäre einseitig, nur die kritischen Bemerkungen Münzers aufzugreifen: Pilgerorte wie St-Maximin, Les Saintes-Maries-de-la-Mer, Montserrat, Santiago de Compostela, Guadalupe, Toulouse, Tours oder Saint-Josse-sur-Mer fanden ebenso wie Aachen, Köln oder weitere bedeutende, auch künstlerisch interessante Klöster sein Interesse. Er wollte eben alles besuchen und sehen, was es zu sehen gibt. Und wo man den Reisenden Reliquien am Altar, in der Sakristei oder Schatzkammer zeigte, vermerkte Münzer dies gerne, manche Bemerkungen deuten darauf hin, dass er als Gedächtnisstütze vielleicht wie in Toulouse oder Tours einen Reliquienzettel erhielt oder abschrieb. Oft scheint er sich sogar mehr für den materiellen als für den spirituellen Wert zu interessieren, Reliquien und besonders Reliquiare waren schließlich zu teuren Kunstwerken geworden. In vielen Dingen sah Münzer aber auch auf den größeren politischen und kulturellen Kontext religiöser Phänomene. Deutlich wird dies zum Beispiel an den Gebräuchen in Saint-Josse-sur-Mer12, aber nicht nur dort. Wenn er in Santiago de Compostela Passagen des Liber Sancti Jacobi abschrieb, interessierten ihn vor allem die aus der Epik bekannten angeblichen Heldentaten Karls des Großen in Spanien. Aber er wollte auch mehr über einen so wichtigen Kult wie den Jakobuskult wissen – wenn er zum Beispiel das Kapitel über die Pilgermuscheln in seinen Bericht integrierte.



In vielen Abschnitten beschritt die vierköpfige Gruppe Wege, die heutige Pilger wieder für sich entdeckt haben: Neben dem klassischen „Camino francés“, den er nach seiner Abreise aus Compostela bis zu den Bergen von León nutzte, folgte er von Almería nach Granada dem heutigen „mozarabischen Weg“, in Portugal auch dem sogenannten „Camino portugués“. In Frankreich reiste er nicht nur auf dem Hinweg von Arles bis Narbonne, sondern auch bei seinem Weg von Poitiers bis Paris und folgte damit der sogenannten Ober- und Niederstraße. Erst danach entfernte sich Münzers Route – wahrscheinlich des Seehandels wegen, von derjenigen des fast zeitgleich gedruckten Pilgerführers des Hermann Künig von Vach (1496)13.



Unser Kosmograph notierte aber nicht nur die Distanzen zwischen den Städten, sondern auch die Lage (meist von einem Kirchturm in Augenschein genommen) oder auch die Bauwerke einer Stadt. Für viele (Sakral-)Bauten ist Münzer sogar die einzige Quelle, um den Zustand am Ende des 15. Jahrhunderts kennenzulernen. Größe, Breite und Höhe der Kirchen werden vermessen, mit Schritten, mit Handspannen, Ellen oder anderen Hilfsmitteln. Kleriker und Pfründen werden ebenso wie Ausstattungsgegenstände oder Gebräuche (Prozessionen in Santiago, Ritterschlag in Saint-Josse usw.) wahrgenommen. Er sah und hörte offensichtlich mit höchster Aufmerksamkeit.



Für Kunst und Kunsthandwerk sind seine (freilich nicht immer ganz klaren) Beschreibungen oft einzigartig und werden von Kunsthistorikern sehr geschätzt, denn sie bieten nicht nur eingehende Beschreibungen der Objekte wie zum Genter Altar14, sondern auch Hinweise zum Entstehungsprozess, zu den (zuweilen aus Deutschland stammenden) Bauhandwerkern und vieles andere mehr. Förderer waren auch Kaufleute: Kunst und Kommerz hingen zusammen.



Auch seine ständige Sorge, ob Klöster der Reformbewegung der Observanz folgten, zeigt, wie sehr der Nürnberger Humanist in den Diskussionen der Zeit zuhaus