Elbflucht

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„Das heißt, Sie haben keinerlei Informationen? Sie hatten doch sicher – von Celle aus – Kontakt und interne Informationen zu dieser Haftanstalt?“

Dr. Lönderer schaute etwas überrascht, als die Kommissarin sie auf ihren vorherigen Arbeitsplatz ansprach. „Natürlich, Frau Holz. Als stellvertretende Leiterin in Celle hatten wir zu allen Haftanstalten Kontakte. Ich weiß von einem Ausbruch in Fuhlsbüttel vor einem Jahrzehnt. Aber Details ...! Sollten sich diese nicht in den Akten des Landeskriminalamts finden lassen?“

Kommissar Vitthudt übernahm die Antwort für seine Chefin.

„Natürlich, Dr. Lönderer. Aber bei uns ist nur vermerkt, dass zwei Gefangene nachts mit einem Nachschlüssel durch das Tor auf den Hof der Haftanstalt gelangen konnten und dann verschwunden sind.“

Lönderer grinste. „Na ja, verschwunden! Sie sind sicher über die Mauer geklettert. Draußen wird ihnen jemand geholfen haben. Sie kennen das ja. Passiert hin und wieder. Während wir hier in den Haftanstalten stets dazulernen und unsere Sicherheit verbessern, lernen die Inhaftierten auch dazu. Aber sie sind uns manchmal einen Schritt voraus.“

„Trotz Verschluss und regelmäßiger Zellendurchsuchungen?“

„Ja, Frau Holz! Die Gefangenen haben stets das Überraschungsmoment auf ihrer Seite und dazu oft Freunde und Angehörige. Auch wird der Strafvollzug immer liberaler. Irgendwann erhalten alle Häftlinge eine Schlüsselkarte und kommen und gehen, wann sie wollen.“

Der Ton der Frau war rauer geworden und man spürte, dass ihr Arbeitsplatz hier in der Haftanstalt nicht nur ein großes Büro und ein gut ausgestatteter Fitnessraum bedeuteten.

„Aber einer der angeblich Geflüchteten ist nun tot wieder aufgetaucht. Seltsam, nicht?“

Endlich zeigte die Leiterin der JVA Fuhlsbüttel ein nachdenkliches Gesicht.

„Ich denke, wir müssen auch Ihre Vorgänger im Amt vernehmen, Frau Lönderer. Wohnen diese noch in oder um Hamburg?“

„Auch da muss ich Sie enttäuschen, Frau Kommissarin. Dr. Milz – sein Erbe habe ich angetreten – lebt seit Anfang des Jahres auf Mallorca und dessen Vorgänger, Dr. Wallersfeld, er muss sicher schon Anfang achtzig sein, auf Kuba.“

Mit den Worten „Dann werde ich erst nach Mallorca fliegen und dann nach Kuba!“ war Sandra aufgestanden. Sie hielt der Frau die Hand hin und meinte: „Das wird nicht unser letztes Gespräch gewesen sein.“

„Ich freue mich drauf!“


„Hast du die Figur gesehen, die war doch sicher weit über fünfzig?“, flüsterte Mik, als Blankenburg sie zum Besucherraum führte. Dort sollte die Vernehmung aller Strafvollzugsbeamten stattfinden.

„Dafür müsste ich dich erschießen!“

„Wie bitte?“

„Hast du nichts anderes zu tun, als der Alten auf die welken Brüste zu schauen?“

Mikael Vitthudts Gesichtsfarbe wechselte schlagartig. Er schaute seine Kollegin an, als ob sie gerade seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte.

Sandra prustete los. Der Beamte vor ihnen drehte seinen Kopf neugierig herum. Sie legte ihren Arm um die Schultern des Kollegen und nur ein Wort platzte laut lachend aus ihr heraus: „Männer!“


Blankenburg brachte sie durch verschiedene Gänge und Treppen in einen anderen Trakt des Gefängnisses. Sandra fiel auf, dass er ständig an einem Anhänger um den Hals herumfingerte. Beim zweiten Hinschauen erkannte sie ein Kreuz. Der Wärter schien gläubig zu sein. Nichts Außergewöhnliches, das konnte er hier in Santa Fu sicher gut gebrauchen. Noch immer war Sandra keinem Gefangenen begegnet. Aber vieles hatte sich in den letzten Jahren des Strafvollzugs geändert. Bevor Blankenburg eine alte Eichentür zum Vernehmungsraum öffnete, erklärte er: „Es sind noch acht Kollegen da. Die anderen sind krank oder im Urlaub. Zwei müssen in der Schleuse bleiben, diese tauschen wir später aus.“ Er schaute fragend und ergänzte: „Wenn Sie Bescheid geben.“

Sandra nickte und trat durch die inzwischen offene Tür. Sie kannte die ehemalige Santa Fu-Kirche, die heute wieder als Besucherraum diente. Für Mik schien es das erste Mal zu sein. Der Kommissar blieb wie geblendet stehen und schaute verzückt in den riesigen, hohen Raum.

„Boah, eine Kirche!“, stammelte er.

Das hohe Gewölbe über ihnen, die Empore, die großen bleiverglasten Fenster und die alten Holzdielen zogen auch sie in ihren Bann. Sandra war stehen geblieben und wunderte sich erneut, dass dieser sakrale Raum heute der Anstalt als Besucherraum diente. Aber sie glaubte, irgendwie wurde hier auch heute noch die Beichte abgenommen. Zwar nicht mehr von Priestern, eher von den Angehörigen der Inhaftierten. Die Luft, die sie beim Eintreten einatmete, roch nach Ausdünstungen von Männern, unterlegt von Bohnerwachs. Auch glaubte die Kommissarin, eine Prise Weihrauch ziehe mit der Luft durch ihre Nasenöffnungen. Aber da täuschte sie sich sicher. Eher war es der Wunsch, in einer Kirche etwas anderes zu riechen als Schweiß­geruch. Sie hoffte, dass jemand ein Fenster öffnete, war sich aber sicher, das gestaltete sich in der ehemaligen Kirche als nicht ganz einfach.

Die zu vernehmenden Beamten saßen auf einfachen Stühlen vor den kleinen Tischen und schauten die eintretenden Kriminalbeamten mit unterschiedlichen Gesichtszügen an.

„Herr Blankenburg, kennen Sie einen Patrick Mo­narch?“

Die Kommissarin bemerkte, wie Blankenburg erschrak. Seine Gesichtshaut erblasste und er war sichtlich bemüht, so zu tun, als sei alles in Ordnung.

„Ein ehemaliger Häftling?“

„Da reden wir später drüber. Würden Sie alle Ihre Kollegen bis auf zwei bitten, auf der Empore zu warten? Die ersten beiden Vernommenen können dann die Schließer ablösen.“

„Schließer?“

„Sie wissen schon, was ich meine!“

Nickend, aber nachdenklich spazierte der Mann auf seine Kollegen zu. Dabei verursachten die Holzdielen leises Knarren unter seinen schwarzen Lederschuhen. Sandra hoffte, ihre Sneakers brachten sie lautlos über den Boden.

„Übernimm du einen und ich einen weiteren Beamten, Mik. Wir setzen uns vor diese ... Container.“ Sandra zeigte auf die großen Kästen, die sich ähnlich Wohncontainern links und rechts des Raumes befanden. „Du links, ich rechts. Und frag einfach mal über den Ausbruch, die Zeiten um 2010 und versuche, eine Grundstimmung auszumachen. Sie werden alle noch mal im Präsidium vernommen werden müssen.“

„Soll ich den Männern das mitteilen?“

„Nein, um Gottes willen. Das bekommen sie schon noch mit.“

Bis auf Blankenburg und zwei Kollegen verließen die restlichen Personen den Raum, spazierten eine nicht einsehbare Treppe aufwärts und schauten – knapp eine Minute später – von oben auf den Saal und die Kriminalbeamten.

„Gut, lass uns beginnen, Mik!“


Die Beamten waren nicht sehr ergiebig, fand die Kommissarin eine knappe Stunde später, nachdem sie alle zugeteilten Männer vernommen hatte. Ihr fehlte noch Herr Blankenburg, aber auch bei ihm erwartete sie eher Schweigen. Etwas neidig schaute sie zum Kollegen hinüber. Der kommunikationsfreudige Saarländer, Mikael Vitthudt, schien – so wie es aussah – mehr aus den Vollzugsbeamten herauszubekommen. Hoffnung keimte in ihr auf. Doch momentan zeichnete es sich ab, dass niemand etwas zur Lösung des Falles beitragen konnte oder wollte. Zum einen, was die Flucht zweier Häftlinge im Jahr 2010 betraf, aber auch der ehemalige Häftling Patrick Monarch war allen Befragten unbekannt. Das gaben Sie zumindest zu Protokoll. Sandra fand es glaubwürdig, da alle Justizvollzugsbeamten erst ab 2011 ihren Dienst in Santa Fu angetreten hatten. Auch der Fund der Leichen machte ihr noch Kopfzerbrechen. Obwohl die Kommissarin aufgrund der Schichtpläne genau wusste, wer vorgestern im Gefängnis Dienst tat, wollte keiner der Tagschicht etwas von den durch den Bagger ausgegrabenen Leichen gewusst haben. Irgendwer log, da war sie sich absolut sicher.

Blankenburg hatte den letzten Beamten zur Tür gebracht und setzte sich umständlich auf den kleinen Stuhl vor die Kommissarin. Er hatte wie bisher auch seinen neutralen Gesichtsausdruck nicht aufgegeben und fingerte wieder an dem kleinen Kreuz herum, das an einer silbernen Halskette hing. Sandra schaute ihn eine Weile nachdenklich an.

„Frau Kommissarin, ich sollte noch etwas tun?“, riss der Beamte Sandra wieder aus ihren Gedanken.

„Entschuldigen Sie, ich verstehe einfach nicht, warum niemand Ihrer Kollegen etwas vom Auffinden der beiden Leichen gestern Nachmittag mitbekommen haben will?“

Blankenburg zuckte mit den Schultern und erklärte: „Ich hatte Nachtschicht, Sie haben mich ja sicher bei Ihrer Ankunft in der Schleuse gesehen.“

Sandra versuchte sich zu erinnern, aber es fiel ihr schwer. Irgendwie sahen diese Beamten alle gleich aus. Doch war nicht an der Aussage des Mannes zu zweifeln.

„Sie sind gläubig?“, wollte sie wissen und glaubte damit den Mann aus der Reserve locken zu können.

„Das stimmt, ich bin gläubig.“

„Haben Sie so auch Ihre Verlobte kennengelernt?“

„Ich glaube nicht, dass dies zur Aufklärung der ... der Sache beiträgt, werde es aber dennoch beantworten“, erklärte Blankenburg ohne jegliche Gefühlsregung. „Ich traf Antje vor Monaten bei der Stapelfelder Tafel. Wir haben beide dort mitgeholfen. Es war Zufall und später haben wir uns über Gott unterhalten. Ja, so kam das.“

 

Sandra wollte nicht weiterbohren. „Können Sie mir denn etwas über die Leichenfunde erzählen?“

„Nein, tut mir leid. Mir wurde erst davon berichtet, als ich um 22 Uhr meinen Dienst angetreten habe.“

„Zu Patrick Monarch und den beiden entflohenen Häftlingen im Jahre 2010 brauche ich Sie ja nicht zu befragen. Da waren Sie ja noch nicht in Santa Fu.“

„Da täuschen Sie sich, Frau Kommissarin. Ich bin in diesem Jahr achtunddreißig Jahre als Strafvollzugsbeamter hier in der Haftanstalt.“


MikVit hatte wenig zur Aufklärung beizutragen. Auf Sandras Frage, über was er sich so intensiv mit den Männern unterhalten hatte, meinte er nur: „Strafvollzug ist ein interessantes Thema!“ Alles in allem war die Vernehmung ein Schuss in den Ofen. Vielleicht würde sie später aus Blankenburg noch etwas herauskitzeln. Nach seiner Offenbarung, schon weit vor 2010 in der Haftanstalt Dienst getan zu haben, wies Sandra den Mann an, am nächsten Tag in ihrem Büro zu erscheinen. Ihrer Erfahrung nach hatten die Befragten dort mehr Respekt und gaben bereitwilliger Auskunft. Sie freute sich auf den morgigen Tag.

Dumm gelaufen

Hamburg, 12. Oktober 2007

Patrick Monarch hatte sich hinter einer Hauswand versteckt. Er hatte Hamburg schon vor zwei Tagen verlassen und sich in ein kleines Hotel in Lübeck einquartiert. Trotzdem war er sich sicher, dass sie ihn bald gefasst haben würden. Der Inhaber des Hotels hatte nicht viel wissen wollen, auch keinen Ausweis verlangt. Aber dennoch würde er bald nach Geld fragen, und davon besaß Monarch nichts. Zweiundsiebzig Stunden, nachdem er den Transporter in Hamburg versenkt hatte, wusste Monarch nicht mehr weiter. Die Zeitungen bundesweit hatten über die Entführung des Geldtransporters geschrieben, und seinen Kollegen Wowering hatte man sogar schon – am Abend in der Nachrichtensendung eines Privatsenders – live zum Überfall befragt. Es schien ihm gutzugehen, und das war für Monarch das Wichtigste. Monarch quälte der Hunger. Er hatte Plakate der ,Lübecker Tafel‘ gesehen, war dorthin spaziert zur Armenspeisung, stets bemüht, Anonymität auszustrahlen. Er lugte aus seinem Versteck, alles schien ruhig. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schulstraße sah man eine Schlange von Menschen. Hier war er richtig, und zügig lief er über die wenig befahrene Straße. Monarch zog die Kapuze des Hooties über den Kopf und freute sich, es anderen Wartenden gleichtun zu können. Hier fiel er definitiv nicht auf. Wer würde schon einen Schwerverbrecher bei einer Tafel vermuten? Der Gedanke belustigte ihn. Ein Obdachloser grinste Monarch an. Seine Zahnreihen hatten sich sehr gelichtet und Monarch schämte sich etwas, seine recht guten Beißer durch ein Lächeln zu zeigen. Doch der Typ hatte sich schon wieder umgedreht und quatschte lautstark mit einer alten Frau. Monarch fühlte sich unwohl. In seinem bisherigen Leben hatte er es – trotz eingeschränktem Einkommen – nie nötig gehabt, an einer ,Tafel‘ anzustehen und um Essen zu betteln. Aber einerseits ging es hier absolut anonym zu und andererseits spürte er seit Stunden großen Hunger. Endlich war er an der Reihe.

„Hallo, Sie sind neu hier? Bitte nehmen Sie doch die Kapuze ab!“, wies ihn die alte, aber gepflegte Frau an, die hinter einem Tresen stand und ihn ansprach. Etwas unsicher ließ er die Kapuze nach hinten gleiten und versuchte ein Lächeln, jedoch ohne seine Zahnreihen preiszugeben.

„Sie haben sicher eine Karte von uns?“

Monarch glaubte nicht richtig gehört zu haben. Er wollte erst nachfragen, doch die Frau hatte vor ihm reagiert.

„Dann sind Sie neu hier. Kein Problem. Wir haben für alle etwas. Kommen Sie um den Tresen, dann werde ich Ihnen eine warme Suppe servieren. Wir haben noch Buletten und Saft. Sie sehen abgemagert aus. Das werden wir ändern.“


Eine Stunde später verließ Patrick Monarch die Lübecker Tafel. Er war satt, aber auch etwas geläutert. Warum machten sich Menschen so viel Mühe, anderen zu helfen? Diese menschlichen Züge waren ihm stets fremd gewesen. „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“, war seine Devise. Doch heute hatte er das Gefühl, man habe ihn bekehrt. Mit dieser inneren Unsicherheit war er zum Ufer der Wakenitz spaziert und hatte sich hinter einem Seniorenheim auf den Steg am Wasser gesetzt. Was hatte er im Leben eigentlich richtig gemacht? Seine Ehefrau war von ihm gegangen, und er wurde als Straftäter gesucht. Eine hohe Belohnung hatte man auf sein Ergreifen ausgesetzt und er fühlte sich wie ein Aussätziger in seinem eigenen Land. Wie sollte es bloß weitergehen? Monarch hatte keinen Plan. Aber sollte die Zukunft weniger übel für ihn ablaufen, dann nahm er sich vor, etwas mitfühlender mit seinen Mitmenschen umzugehen. Wie die alte Dame eben. Die Arbeit der ,Tafel‘ hatte ihn doch gerührt. Der Mann wollte aufstehen, als er hinter sich Schritte hörte. Laute Schritte, wie Stiefel auf einem hölzernen Untergrund. Instinktiv und ohne sich umzudrehen, sprang er in das kalte Wasser der Wakenitz.

Keine zehn Minuten später saß Patrick Monarch – vor Kälte zitternd, aber in eine Wolldecke gehüllt – in einem Streifenwagen.

Blankenburg blockt!

Hamburg, 11. September 2019

Blankenburg hatte sein Selbstbewusstsein etwas abgelegt. Das glaubte Kommissarin Sandra Holz zumindest, als der Justizvollzugsbeamte mit gesenktem Blick ihr Büro betrat. In ziviler Kleidung wäre sie nicht darauf gekommen, dass dieser Mann jahrzehntelang im Strafvollzug tätig war. Aber wie oft hatte sie bei der Berufswahl einer Person richtig gelegen? Sehr selten, musste sie sich eingestehen.

„Setzen Sie sich, Herr Blankenburg!“

„Danke!“ Der Mann nahm vor dem Schreibtisch Platz und die Kommissarin eröffnete das Gespräch.

„Danke, dass Sie gekommen sind.“

Der Justizvollzugsbeamte schaute der Kommissarin ins Gesicht und grinste: „Hatte ich eine Wahl?“

Sandra zuckte mit den Schultern. Da war sie wieder, diese selbstbewusste Art bei Männern, die sie nicht mochte.

„Sie sind achtunddreißig Jahre in der Haftanstalt Fuhlsbüttel. Dann steht sicher demnächst der Ruhestand an?“

Blankenburg nickte.

„Wenn ich richtig gerechnet habe, wurden Sie 1983 eingestellt bzw. dorthin versetzt.“

Wieder nickte Blankenburg.

„Gut! Laut Rechtsmediziner wurden die beiden in Fuhlsbüttel aufgefundenen Männer etwa im Jahr 2010 getötet und dort verscharrt.“ Sie benutzte extra das Wort verscharrt und bemerkte, wie Blankenburg zusammenzuckte.

„Zu dieser Zeit verrichteten Sie doch Ihren Dienst in der Haftanstalt?“

„Ich habe nachgeschaut, zu Hause in meinen Unterlagen ...“, Blankenburg wippte unschlüssig mit dem Kopf hin und her, „... ich war 2010 einige Monate auf einer ... also einer Weiterbildung für Justizvollzugsbeamte.“

„Haben Sie dafür Unterlagen, Zeugnisse oder so etwas?“

„Muss ich nachschauen.“

„Tun Sie das, darüber müssen Sie mir später noch Details auf den Tisch legen.“

Sandra schaute Blankenburg an, doch der hatte den Blick gesenkt.

„Bei einem der Toten handelt es sich um den Häftling Patrick Monarch. Er saß seit 2007 in Santa Fu und hatte etwas mehr als vier Jahre für Raub mit Körperverletzung abzusitzen.“

Sandra fühlte, dass Blankenburg auf die Frage gewartet hatte, und jetzt, wo sie kam, rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

„Was ist, Herr Blankenburg? Ist Ihnen die Frage nach dem Häftling Monarch unangenehm?“

„Nein, Hämorrhoiden!“, grinste der Mann. „Vom vielen Sitzen in der Haftanstalt!“

„Wollen Sie mich verarschen?“ Sandras Ton war lauter geworden. Etwas eingeschüchtert griff sich Blankenburg an den Hals. Er berührte mit zwei Fingern sein kleines Kreuz, als würde es ihn schützen, und erklärte mit gesenktem Blick: „Natürlich kannte ich Monarch. Ein guter Kerl. Arbeitete als Bäcker. Absolvierte ein Studium während seiner Haftzeit, also ... bis zu seinem Ausbruch. Aber wie gesagt, zu diesem Zeitpunkt war ich in Berlin bei einer Weiterbildung für ... na, Sie wissen schon!“

„Haben Sie irgendeine Idee, wer der zweite Tote sein könnte? Ein Wärter, ein Inhaftierter?“

Blankenburg zuckte mit den Schultern. Inzwischen hatte sich sein Griff an das kleine Kreuz an der silbernen Kette extrem verstärkt. Sandra glaubte seitlich aus dem Finger des Mannes einen Tropfen Blut rinnen zu sehen.

„Herr Blankenburg, dass reicht mir nicht. Wenn Sie in diesen Fall mit verwickelt sind, und ich bekomme es raus, das schwöre ich Ihnen, ist Ihre Pension im ... in Gefahr.“ Fast hätte Sandra ,Arsch‘ gesagt. Sie fühlte, wie sich ihre Gesichtshaut mit Blut füllte und sie war vor Aufregung aufgesprungen.

„Das ist mir bewusst, Frau Kommissarin. Aber ich kann Ihnen tatsächlich nichts dazu sagen.“ Blankenburgs Blick glich einem Tier, das man in die Enge getrieben hatte.

Sandra ließ nicht locker. Sie stemmte die Hände auf den Tisch. „Wie war das mit dem Ausbruch damals?“

„Wie schon erwähnt, das ... das war genau die ... die Zeit, in der ich mich nicht in der Haftanstalt ... be ...fand.“ Der Mann begann zu stottern.

„Sie sagen nicht die Wahrheit, Blankenburg! Wir werden Beweise finden – und wehe, sie verschweigen etwas. Dann gnade Ihnen Gott!“

Auch Blankenburg war aufgestanden und hatte sich vor der Kommissarin breitgemacht: „Sie drohen mir?“

Sandra winkte ab. „Sie sind doch keine Mimose! Nach so vielen Jahren Arbeit mit Strafgefangenen. Also stellen Sie sich nicht so an!“

„War es das?“, wollte der Justizvollzugsbeamte wissen und bewegte sich in Richtung Tür.

„Wann haben Sie Ihre Verlobte kennengelernt?“

Burghardt Blankenburg hatte die Bürotür schon erreicht, als er sich noch einmal umdrehte und erklärte: „Ich denke, das bringt Sie in Ihren Ermittlungen auch nicht weiter!“ Er nickte Sandra zu und verließ den Raum.

Die Kommissarin zog ihre Sneakers aus und legte die Füße auf den Schreibtisch. Diese Ohnmacht nervte sie und sie spürte, wie schwer ihre Beine geworden waren. Den Kerl würde sie nach Abschluss der Ermittlungen einbuchten, da war sie sich absolut sicher. Sie stellte sich schon vor, wie seine Ex-Kollegen Blankenburg jeden Morgen die schmale Zellentür öffnen würden.

Willkommen in Santa Fu!

Hamburg, 4. Februar 2009

„Fertigmachen zur Arbeit!“

Der Justizbeamte brüllte es heraus, wie an jedem Morgen, und trotzdem zuckte Monarch in seiner Zelle zusammen. Die alte Eichentür stand seit der Öffnung um sechs Uhr offen und der laute Ruf hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. Nächste Woche jährte sich seine Gerichtsverhandlung, in der man ihn zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt hatte. Teilnahmslos hatte Monarch den Prozess verfolgt. Er fühlte sich wie losgelöst von den Vernehmungen der Zeugen, von den Plädoyers, den Fragen des Richters und denen des Staatsanwaltes. Nur als sein Kollege Karl Wowering im Zeugenstand gegen ihn aussagte, wurde er hellwach.

„Das hätte ich nie von ihm gedacht! Scheinheiliger Lügner! Falscher Kollege!“ Solche Sätze rief Wowering in den Saal, bis der Richter den Mann aufforderte, etwas weniger zu schreien. Es schien, dass der Fahrer des Geldtransports den Überfall noch nicht ganz verkraftet hatte. Dennoch konnte Monarch keinerlei mobile Einschränkung am Ex-Kollegen erkennen. Schon vor Prozessbeginn in U-Haft hatte sich Monarch ausgemalt, wie man Wowering beinamputiert im Rollstuhl herein­schob. Beruhigt darüber, dass er stehenden Fußes und ohne Humpeln den Gerichtssaal betrat, nahm Monarch das Strafmaß gelassen hin. Schon wenig später hatte man ihn nach Santa Fu gebracht. Irgendwie empfand er die Veränderung vom freien Bürger zum Häftling als gar nicht so schlimm. Die kalte Jahreszeit hatte begonnen, und trotz der Millionenbeute im Fleet war Monarch mittellos und besaß zudem keine Unterkunft. Irgendwie sollte er dem Staat dankbar für diesen Gefallen sein, freute er sich, als er die kleine, geheizte Zelle zum ersten Mal betrat. Nachdem die schwere Stahltür ins Schloss gefallen war, zeigten sich bei ihm leichte Symptome einer Klaustrophobie, aber diese hatten sich schnell gelegt. Drei Mahlzeiten täglich, eine eigene Toilette und ein Waschbecken, das er mit niemandem teilen musste, empfand er schon als Privileg. Damals, bei der Marine – so erinnerte er sich –, hatte er manchmal weniger Platz und kaum Privatsphäre. Doch Monarch behauptete von sich selbst, Einzelgänger zu sein, und so erschienen ihm die knapp sieben Quadratmeter als vollkommen ausreichend. Hin und wieder störte ihn in der Zelle der leichte Geruch nach Fäkalien. Doch zum Glück erlaubte es die Konstruktion, das kleine, vergitterte Fenster einen Spaltbreit zu öffnen. Mit Ehefrau Linda verbrachte er nur einmal zusammen einen echten Urlaub, kam ihm gerade in den Sinn. In Antalya, in einem Fünfsternehotel – all-inclusive! Dass ihn die Türken damals nicht noch in der Sänfte zum Strand getragen hatten, war alles. Nach seiner großen Pleite als Verbrecher empfand er, dass dieser Aufenthalt große Ähnlichkeiten zum Hotelurlaub aufwies, zumindest anfänglich. Die einzige Angst, die ihn während der Überführung plagte, waren die wilden Gerüchte, die man sich vom Strafvollzug erzählte. Vor allem was die sexuelle Befriedigung der männlichen Häftlinge anging. Monarch war nie versessen auf Sex. Auch Linda zeigte in all den Jahren wenig Lust darauf. So geriet Sex in ihrer Ehe immer mehr in Vergessenheit und zu einem Auslaufmodell. Man nahm sich in die Arme, lag zusammen auf dem Sofa vor der Glotze. Aber an die letzten Intimitäten mit seiner Frau konnte er sich nicht mehr erinnern. Wenn er selbst nachts spät vor dem Fernseher die nackten Frauen und ihre Angebote in der Werbung sah – Linda ging oft schon um 22 Uhr ins Bett –, wechselte er umgehend den Kanal, bis alles vorüber war. Einmal verglich Monarch Sex mit Austern. Entweder man mochte sie oder man mochte sie nicht. So bemühte er sich, Anzüglichkeiten, die jeder Neuankömmling im Knast zu erwarten hatte, an sich abperlen zu lassen wie die Regentropfen beim Lotuseffekt. Und er hatte großes Glück.

 

„Was ist nun, Herr Monarch. Heute dürfen Sie wieder arbeiten und haben keine Lust?“ Wärter Blankenburg füllte mit seiner Figur die komplette Zellentür aus und schaute den Häftling leicht verärgert mit zusammengeschobenen Augenlidern an.

„Oh, Entschuldigung, Herr Blankenburg!“ Monarch war aufgesprungen, griff noch nach seiner Armbanduhr und blieb vor dem Beamten stehen. Der nickte kurz und ließ Monarch vorbei. Draußen hatten sich die Häftlinge schon neben ihren Zellen aufgestellt und schauten verärgert auf den Verspäteten.

„Gut, wir sind vollzählig. Dann los“, brummte de Kamp, der zweite Vollzugsbeamte. Bei Will de Kamp handelte es sich um einen etwas dicklichen, gebürtigen Holländer. Die kleine Schlange setzte sich in Bewegung.

Der Anstaltsarzt hatte Monarch die letzten beiden Tage von der Arbeit befreit. Eine Erkältung war schuld, doch heute durfte er wieder arbeiten. Den ganzen Tag einsam in der Zelle zu verbringen, das war nicht sein Ding.

Vor Monarch lief der junge Häftling Kilian Arhus. Der Mann saß sieben Jahre Haft wegen schwerer Körperverletzung ab. Arhus, so glaubte Monarch, bevorzugte Männer. Und das nicht nur hier im Knast als Notlösung. Der schlanke Mittzwanziger war gerade dabei, dem Typen vor sich sanft an den Po zu greifen. Dieser drehte sich kurz um und grinste den Ruhrpottler verliebt an. Welches Glück er doch hatte, dass damals – bei seinem Eintreffen hier – genügend ,Frischfleisch‘ zusammen mit ihm seine Strafe antrat. So waren alle Häftlinge nur auf deren jungfräuliche Ärsche scharf. Ihn selbst ließ man zunächst in Ruhe, und da alle für die nächsten Wochen und Monate versorgt schienen, war er fortan kein Thema mehr bei der Auswahl der Geschlechtsgenossen. Monarch duschte gerne und nutzte die kompletten fünf Minuten, doch kaum einer hier in Santa Fu konnte von sich behaupten, auch beim Bücken nach der Seife ohne Blessuren wegzukommen.

„Arhus, lassen Sie das!“ De Kamp hatte die versteckte Annährung bemerkt und sofort eingegriffen. Monarch war bekannt, dass de Kamp einer der Beamten war, die mit aller Macht solchen Austausch von Zärtlichkeiten unter Männern zu verhindern suchten. Aber Sex gehörte zum Knast wie die Haschzigarette und hin und wieder eine Prügelei.

Einmal hatte es de Kamp geschafft, das wilde Treiben für vier Wochen zu unterbinden. Grund war: Einer der Neuinhaftierten wurde leblos in der Dusche aufgefunden. Er blutete am Gesäß und allen war klar, was geschehen war. Doch der Häftling schwieg über den Tathergang und wollte nicht den Namen des oder der Verursacher nennen. So setzte de Kamp vier Wochen Einzelhaft für alle infrage kommenden Häftlinge durch. Das hieß, keinen Hofgang, bei dem man sich auch mal gemeinsam in der Zelle treffen konnte, und kein gemeinsames Duschen mehr. Eine schwere Zeit für all die potenten Männer und deren Befriedigung. Von da an avancierte der stets mürrische Holländer Will de Kamp zum meistgehassten Vollzugsbeamten in Santa Fu. Monarch selbst hatte sich damals ins Fäustchen gelacht.

Der Häftling ließ seine Zunge durch die Zahnlücke gleiten. Stets war Monarch stolz auf sein gutes Gebiss gewesen. Bis auf wenige Plomben, sowie hin und wieder leichten Zahnstein, konnten sich seine Zahnreihen immer sehen lassen. Doch seit er auf dem Hof während der Freistunde zwischen zwei rivalisierenden Gruppen vermitteln wollte und ihn einer der Häftlinge niedergeschlagen hatte, hielt er sich aus allem raus. Der verlorene Backenzahn war das kleinere Übel. Eher war sein Selbstvertrauen angeschlagen und er verlor die bisherige Zuversicht und wurde dazu ängstlicher. Er wusste, im Gefängnis spürten Gefangene sofort, wenn andere Angst hatten. Ob es am Schweiß lag oder an kleineren Gesten, Augenaufschlägen? Monarch hatte keine Ahnung, woran es lag. Aber er bemerkte, dass die Mitgefangenen seine Schwäche regelrecht rochen, und das äußerte sich in letzter Zeit in diversen unseriösen Ansagen.

Die Gruppe hatte den Ausgang erreicht und nachdem de Kamp die Stahltür aufgeschlossen hatte, spazierten die Häftlinge – ähnlich einer Horde Gänse – über den Hof und in den Trakt der Haftanstalt, der die Bäckerei beherbergte.

Es war sein absolutes Glück, dass Monarch – als gelernter Bäcker – dort Arbeit gefunden hatte. Schon am ersten Arbeitstag hatte er gespürt, wie sehr er den Geruch von Mehl, Butter und frisch gebackenen Brötchen vermisst hatte. Damals, nach seiner Bäckerlehre, war er gleich für acht Jahre zur Marine gegangen und kochte fortan als Smutje auf diversen Militärschiffen. Aber das Backen von Brot und Brötchen war stets seine große Freude geblieben. Und nun durfte er das wieder tun. Den ganzen lieben langen Tag.


Die Häftlinge hatten den Umkleideraum erreicht und begannen sich umzuziehen. Der Justizvollzugsbeamte de Kamp hatte – wie jeden Morgen – alle Männer an Wilfried übergeben. Wilfried war Bäckermeister und Chef der Haftanstaltsbäckerei. Der geborene Rostocker war mindestens doppelt so breit und schwer wie Mo­narch, war über zwei Meter groß und alle hatten riesigen Respekt vor ihm. Wilfried brauchte keinen Schlagstock und keine lauten Worte. Wenn er mit den Augen rollte, wurden alle im Betrieb weich wie die Butter, die sie kiloweise in den Teig mischten. Schon wenige Wochen nach Beginn seiner Arbeit in der Haftbäckerei hatte Wilfried Monarch zur Seite genommen. „Monarch, du bist ein Guter!“, hatte er nur gesagt und ihn wieder zur Teigmaschine geschickt. Wilfried war kein Freund großer Worte, doch Monarch wusste sofort, was er damit meinte. Wilfried unterschied nur zwischen gut und schlecht und keiner der Häftlinge nahm es ihm übel. Doch wenn Wilfried einen als schlecht einstufte, putzte man den ganzen Tag die Backstube und war Tage später aus der Bäckerei verschwunden. Dann wurde man nur noch für die allerniedrigsten Jobs hier in Santa Fu eingeteilt: Gemeinschaftsräume putzen oder Gartenarbeit verrichten. Aber er, Monarch, gehörte zu den Guten, und bald riet ihm der Bäckermeister dazu, mehr aus seinem Leben zu machen. Er hatte sich wohl bei der Anstaltsleitung erkundigt und redete Monarch ins Gewissen: „Du hast doch Abitur, nutze die Zeit hier im Knast und mach was draus. Studiere irgendeinen Scheiß. Du bist noch nicht zu alt dafür!“ Nach Gesprächen mit den Verantwortlichen hatte sich Monarch dann zu einem Fernstudium in Betriebswirtschaft entschlossen. Die Anstaltsleitung hatte zugestimmt und schon drei Wochen später – als er von der Arbeit zurückkehrte – lagen die ersten Blätter und Bücher in seiner kleinen Zelle. Er hatte das Abitur, das er als berufsfördernde Maßnahme nach seiner Militärzeit gemacht hatte, total vergessen. Erst Wilfried hatte es für ihn ausgekramt. Er war ihm ganz besonders dankbar dafür.

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