Elbflucht

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Sandra stand auf und schenkte sich aus der Thermoskanne auf der Fensterbank einen Kaffee ein.

„Oh komm, bitte lass uns nicht hängen!“

„Ihr werdet schon noch früh genug Arbeit bekommen!“, erklärte die Kommissarin zwischen zwei Schluck heißen Kaffees.

„Also, es gab diesen Fund auf dem Sportplatz gestern. Arbeiter sind auf die beiden Leichen gestoßen, als sie die Sprunggrube ausbaggerten. Es scheint, dass die Tagschicht der JVA Fuhlsbüttel den Vorgang verschleiern wollte. Ein Baggerfahrer hat es aber dann angezeigt. Ich war am frühen Morgen da!“ Als Zeichen ihrer anhaltenden Müdigkeit gähnte Sandra in eine Handfläche.

„Rechtsmediziner Fischer war auch da, konnte aber noch wenig zur Aufklärung beitragen. Die Leiterin der Anstalt – eine Frau Lönderer – wusste nichts bis gar nichts. Kriminalrat Jensen war schon vor mir eingetroffen. Ach ja, auch die Presse war früh auf den Beinen. Was soll ich sonst noch erzählen?“

„Gibt es keine Vermutung vonseiten der Anstalt?“, wollte Kommissar MikVit wissen.

„Nein, das müssen wir alles heute klären. Um vierzehn Uhr findet die Vernehmung der Beamten statt. In Santa Fu. Wo ist Soko?“ Sofort fiel Sandra ein, Oberkommissar Sokolowski war ja noch bis zum Ende der Woche in Urlaub. Das war schade, Soko war – was die Recherche anging – ihr erfahrenster Kollege.

„Also hier eure Aufträge: Mik, du beschaffst jegliche Infos über die JVA. Wann erbaut, besondere Vorfälle dort, die Namen und Zeiten aller Anstaltsleiter, vermisste Häftlinge, Ausbrüche, das ganze Programm. Alles klar?“

MikVit hatte alles auf einen Zettel geschrieben und nickte.

„Emma, du bist die einzige Hamburgerin im Team, fange mir bitte die Stimmung in der Haftanstalt Fuhlsbüttel ein. Frage bei den Kollegen der Schutzpolizei Fuhlsbüttel nach irgendwelchen Ungereimtheiten in Santa Fu. Du machst das schon.“

„Du fährst wohl in die Rechtsmedizin, Sandra?“

„Nein, Emma. Die werden wohl heute wenig ausrichten. Ich fahre nochmals nach Fuhlsbüttel. Habe ein Date mit dieser Frau Lönderer und ihren Beamten.“


Der Beamte im allgemeinen Vollzugsdienst an der Pforte der JVA hatte gute Laune. Er war sogar zu Scherzen aufgelegt, während er Sandras Waffe entgegennahm. Doch kein Wort fiel über die beiden Leichen, die wenige Hundert Meter von ihnen aufgefunden worden waren. Sicher lagen sie inzwischen in der Rechtsmedizin im Butenfeld und Dr. Fischer war voll bei der Untersuchung der Knochen. Aber war Fischer nicht heute in Stuttgart? Sandra fielen die Worte des Rechtsmediziners vom frühen Morgen ein. Gut, aber morgen musste sie nach Eppendorf, um mehr zu erfahren.

Frau Dr. Lönderer ließ bitten. Das Büro der Anstaltsleiterin war groß und glich eher einer Bibliothek. Das Alter der Möbel entsprach dem Bau der Haftanstalt, die – wie Sandra unterwegs recherchiert hatte – um 1875 errichtet wurde. Sie war nicht allein. Eine weitere Frau saß am großen rechteckigen Eichentisch und diese schaute Sandra selbstbewusst und neugierig an. Ihre langen Haare hatten etwas den Halt verloren, während sie zur Kommissarin blickte.

„Und Sie sind?“ Sandra ging auf die Unbekannte zu und stützte sich mit beiden Handflächen auf die kühle Tischplatte.

„Dr. Wilhelmine Vogelschau, Justizsenatorin!“, antwortete die Frau mittleren Alters und warf – zur Unterstützung ihrer Aussage – ihre lange, brünette Mähne wieder in Ausgangslage.

Sandra lief ein eiskalter Schauer über den Rücken und sie bemerkte, wie ihre Hände leicht zu zittern begannen. Auch die Justizsenatorin schien es bemerkt zu haben und war aufgestanden. Langsam legte sich bei Sandra die Anspannung. Als Hamburger Kriminalbeamtin hätte sie die Politikerin unbedingt kennen müssen. Die Justizsenatorin war zwar erst wenige Wochen im Amt, versuchte sich Sandra innerlich zu entschuldigen, während sie sich vom Tisch aufrichtete und Frau Vogelschau entgegentrat.

„Natürlich, die Frau Senatorin. Ich wollte Sie schon immer mal kennenlernen.“ Sandra versuchte Land gutzumachen.

„Dafür kenne ich Sie umso besser, Frau Holz. Setzen Sie sich zu uns!“

Nach einem festen Händedruck wies sie Sandra einen Platz zu und diese ließ sich auf einem alten Lehnstuhl nieder.

„Das ist eine schlimme Sache, Frau Holz!“, übernahm die Senatorin sofort das Wort. Sandra war klar, dass sie selbst nun das kleinere Glied in der Kette geworden war, und überlegte sich eine neue Strategie.

„Wir müssen versuchen, das Ganze – ohne Schaden für die Justiz zu verursachen – über die nächsten Tage zu bringen.“

Die Kommissarin nickte ernst.

„Ich schlage vor, Sie spielen den Leichenfund herunter. Wir erklären etwas von internen Untersuchungen, und wenn Sie dann noch einen anderen Mordfall aus dem Hut zaubern, Frau Holz, hat die Presse den Vorfall schon wieder vergessen.“

Sandra sog die Luft tief ein, sie hatte vor Schreck das Atmen vergessen.

Die Senatorin erhob sich von ihrem Stuhl und drehte auf den hohen Absätzen in Richtung Ausgang. Die Anstaltsleiterin rannte hinterher und hielt ihr die Tür auf. Ohne ein Wort des Abschieds war das Klappern der Absätze noch einige Sekunden zu hören.

Sandra schüttelte den Kopf. „Was war das denn?“

Frau Lönderer hatte hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen und zuckte mit den Schultern. „Sie ist schon etwas, wie soll ich es ausdrücken, speziell!“

Die Kommissarin kam nicht darüber hinweg und spürte noch immer, wie ihr Herzmuskel raste und ihre Lunge – aufgrund der Aufregung – übermäßig Sauerstoff einforderte.

„Gut, wie dem auch sei, Frau Lönderer ...“, die Kommissarin musste tief einatmen, „... wir werden unsere Arbeit machen, so wie immer. Was haben Sie die letzten Stunden herausbekommen? Gibt es etwas, was uns weiterbringt?“

„Ich muss Ihnen gestehen, Frau Kommissarin, ich kann Ihnen da wenig weiterhelfen. Ich habe den Posten Anfang des Jahres übernommen und bin eigentlich noch dabei, mich einzuarbeiten, und jetzt so etwas. Ich kann anbieten, Ihnen die Schichtpläne der letzten Jahre zukommen zu lassen. Weitere Einsicht in Akten des Strafvollzugs in Santa Fu müssen Sie über die Staatsanwaltschaft veranlassen. Ich hänge mich mit den Schichtplänen schon weit aus dem Fenster. Das bleibt natürlich erst einmal unter uns.“

Sandra war aufgestanden und hatte sich auf den Stuhl gegenüber gesetzt. „Das klingt gut!“ Sie griff in die Tasche der Lederjacke und hielt der Frau wenig später ihre Visitenkarte hin. „Senden Sie bitte alles an diese Mail. Damit komme ich ein Stück weiter. Finde ich in der Datei auch die Namen aller Beamten?“

„Natürlich, aber ansonsten nur die Arbeitszeiten.“

Sandra nickte verständnisvoll und erhob sich mit den Worten: „Danke, Frau Lönderer!“

„Eines noch, Frau Kommissarin. Ich habe mal in den alten Bauunterlagen nachgeschaut, die Sprunggrube wurde 2008 auf Drängen der Häftlinge gebaut.“


Das Wetter war klamm und Sandra fühlte sich in Shirt und Lederjacke underdressed, als sie die U-Bahn an der Station Eppendorfer Baum verlassen hatte. Sie wollte noch spazieren gehen und die wilden Gedanken der letzten Stunden aus ihrem Kopf vertreiben. Doch es misslang. Zu viel Menschenverkehr in der Bahn und auf den Bahnhöfen, dazu jede Menge auffälliger Personen, denen sie begegnete. Das bedurfte ihrer gesamten Aufmerksamkeit auf dem Weg zum Butenfeld. Sandra war froh, endlich das Gebäude der Rechtsmedizin erreicht zu haben. Auf ihr Klingeln an der Pforte öffnete man sofort und teilte ihr freundlich mit, Dr. Pellin erwarte die Kommissarin.

„Danke, Uwe, dass du Zeit für mich hast!“ Sandra wusste, dass es unüblich war, hier ohne Anmeldung vorstellig zu werden. Alles hatte seinen bürokratischen Gang und der hieß: Warten, bis der Bericht der Rechtsmedizin im Landeskriminalamt 41 eintraf.

Pellin zuckte mit den Schultern. Sie vermisste sein Lächeln. Als er die Kommissarin in sein Büro führte, kam sie nicht mehr umhin, ihn darauf anzusprechen.

„Was ist los, Uwe, irgendetwas bedrückt dich doch?“

Mit blitzenden Augen schaute der Mann sie an. Dann wurden seine Augen etwas sanfter, und endlich grinste er und legte Sandra seinen Arm um die Schultern.

„Nicht nur du hast es schwer, Sandy!“

Sandy! Wer hatte sie zuletzt mit Sandy angesprochen. Sandra mochte diesen Kosenamen nicht. Ihr Vater hatte sie bis zu seinem Tode Sandy gerufen. Danach hatte sie sich mit aller Macht und Erfolg dagegen gewehrt, so gerufen zu werden. Gut, dem Kollegen Sokolowski entfuhr manchmal dieser Name, aber Soko war eh nicht ernst zu nehmen. Sie entwand sich geschickt dem Arm des Rechtsmediziners und setzte sich geschwind auf den Stuhl gegenüber seines Schreibtischs.

„Dann erzähl mir, um was es geht!“

Pellin hatte die Position noch einige Sekunden gehalten und hatte sich dann auf seinen Bürostuhl gesetzt.

„Traudel Kensbock kommt zurück!“

Diese vier Worte reichten, um Sandra die Tränen in die Augen und den Kreislauf etwas in die Höhe zu treiben.

„Was sagst du?“

„Ja, es ist kein Scherz, Sandra. Sie wird für ein Jahr die Leitung der Rechtsmedizin übernehmen.“

Sandra war zunächst noch immer sprachlos. Dann hatte sie sich gefangen.

„Und du?“

„Was du nicht weißt, ist, ich war zunächst Kinderarzt, bevor ich mich der Pathologie gewidmet habe. In den letzten Jahren habe ich viel nachgedacht, ob mich das Sezieren von Leichen genauso zufriedenstellt wie zuvor die Kindermedizin.“

 

Sandra wartete gespannt auf die gesamte Erklärung des Arztes.

„Nun kam ich durch Glück zu einer Gastprofessur in den Vereinigten Staaten. Ich werde ab kommende Woche zusammen mit Professorin Dr. Deborah L. Radisch an der University of North Carolina an der Abteilung für Pathologie und Labormedizin der University of North Carolina arbeiten. Deborah kenne ich schon länger. Sie hat einen Abschluss in Medizin sowie einen Master in Public Health. Ihre Erforschung von Todesfällen bei Kindern macht sie zu einer besonders überzeugenden Professorin für forensische Pathologie. Und sie hat mir diesen Job schon seit Jahren wiederholt angeboten. Und nun habe ich zugeschlagen. Bevor es zu spät ist!“

Sandra hatte sich wieder gefasst. „Aber ... aber so schnell?“

„Nun, ich wusste es schon länger.“

„Und du hast ...!“

„Ich wollte erst warten, wie es weitergeht. Und als man Professor Kensbock überreden konnte, habe ich letztendlich zugesagt. Traudel wird schon heute Abend hier erwartet und ihr altes Appartement beziehen. Du kennst es ja. Es stand die gesamte Zeit – bis auf einige Gäste – leer.“

„Wollen wir über die beiden Leichen von Santa Fu reden?“

„Es tut mir leid, Sandra. Ich habe diesbezüglich keinerlei Infos. Ich war dabei, meine Unterlagen zusammen­zupacken, während Dr. Fischer unten die Überreste der beiden Toten obduziert. Aber ich hole ihn. Er kann dir mehr darüber berichten.“

Pellin war aufgestanden und hatte den Raum verlassen.

Waren das gute oder schlechte Nachrichten, dass Pellin die Rechtsmedizin verließ und Traudel Kensbock zurückkehrte? Das musste sie erst einmal verdauen, bevor sie Prognosen abgab. Und wieso war Fischer noch in Hamburg?

Pellin war zurück, im Schlepptau hatte er Dr. Sebastian Fischer.

„Wie ich höre, Sandra, weißt du Bescheid über den Wechsel in der Führung der Rechtsmedizin. Dann setzte ich mich noch mal schnell auf den Chefsessel, bevor die gnadenlose Professorin aus Leipzig eintrifft.“ Fischer grinste über das ganze Gesicht und die Kommissarin wunderte sich, woher er seine positive Energie bezog.

„Du möchtest sicher etwas über die Leichenfunde aus Fuhlsbüttel wissen? Es handelt sich tatsächlich um zwei Männer. Lagen bestimmt zehn Jahre in der Sprunggrube. Vom Alter her sind beide zwischen vierzig und sechzig Jahre alt. Der Größere war wohl eher kräftig, hatte schon ein neues Hüftgelenk, und der Kleinere ist ohne jegliche Brüche. Zahnstatus des Dicken – nennen wir ihn Igor – schlecht. Raucher, Amalgam, Goldkronen im Mund, daher meine Idee mit Igor. Die Zähne des jüngeren Mannes: weniger Amalgam, auch ungepflegt, dafür Zahnlücken hinten, auch ein starker Raucher.“ Fischer schwieg und schien kurz zu überlegen.

„Marke?“

„Was meinst du?“

„Welche Marke haben die beiden geraucht, Basti?“ Sandra grinste.

Fischer schüttelte den Kopf. „Du solltest das ernst nehmen!“

„Ha, ha, das sagt der Richtige!“

„Gibt es sonst etwas? Kleidungsstücke?“

„Natürlich, steht alles im Bericht. Er ist vor wenigen Minuten auf Anfrage direkt zum Kriminalrat raus.“

„Würdest du es mir trotzdem sagen?“

„Klar! Beide Leichen trugen Anstaltskluft. Also die Bekleidung der Gefangenen, wie sie damals gebräuchlich war. Bei Igor fehlt jedoch die Jacke. Sein Grabnachbar war komplett bekleidet. Ansonsten keine Namen. Taschen leer. Keine Etiketten oder Ähnliches, soweit wir das noch erkennen konnten. Um die DNA der beiden kümmert ihr euch ja selber.“

„Wie, damals?“

Fischer schaute fragend.

„Die Anstaltskluft!“

„Ach so! Ja, ab dem Jahr 2011 hat man den Gefangenen erlaubt, ihre eigene Kleidung zu benutzen und anzuziehen. Das spart der Justiz inzwischen sicher einen Haufen Geld.“

„Und 2008 wurde die Grube in Santa Fu gebaut und in Betrieb genommen.“

Fischer stutzte, und legte die Stirn etwas in Falten. „Gut zu wissen, das bestätigt meine Vermutung. Die beiden Männer wurden also zwischen 2008 und 2010 in dieses Grab verbracht.“

„Kannst du mir bitte noch etwas über die Todesursache sagen, Basti?“

„Entschuldige, das hätte ich glatt vergessen: Igors Todesursache festzustellen, war etwas tricky. Doch ich bin mir absolut sicher, Igor wurde erwürgt. Eigentlich gibt es nahezu keine Chance, nach so einer langen Liegezeit Todesursachen wie Erwürgen oder Erdrosseln nachzuweisen. Es sei denn, die großen Hörner des Zungenbeins oder die Fortsätze des Schildknorpels wurden durch die angewandte Gewalt gebrochen. Ein solcher Fund spricht für grobe Gewalt gegen den Hals. Diese Teile des Kehlkopfskeletts sind aber sehr klein und oft schwer zu finden“, so Fischer weiter. „Doch zum Glück lagen sie – gut verpackt – in den Wolldecken!“

Sandra empfand Ehrfurcht vor so viel Wissen und nickte stumm.

„Der Kopf seines kleineren Grabnachbarn dagegen weist einen wüsten Trümmerbruch auf. Erschlagen, gestürzt? Da muss ich wohl noch mal intensiver ran. Willst du mal schauen?“ Fischer war aufgesprungen.

„Nein, lass mal, Basti. Mir ist eh flau im Magen, die Sache mit Dr. Kensbock!“

„Wie, ich dachte, ihr habt euch gut verstanden?“

Sandra zuckte mit den Schulterblättern und war ebenfalls aufgestanden.

„Wie ist dein Eindruck zu diesem Leichenfund?“, fragte sie den Rechtsmediziner beim Rausgehen.

„Keine Ahnung, keine Meinung, kein Konzept!“, begann er plötzlich zu singen. Sandra fiel der Song von Marius Müller-Westernhagen ,Es geht mir gut!‘ ein.

Wie lange schon konnte sie das nicht mehr von sich selbst behaupten.

„Wieso bist du nicht in Stuttgart, Basti?“

„Ausgefallen!“, grinste der Angesprochene.


Kriminalrat Jensen und Kommissar Mikael Vitthudt, genannt MikVit, erwarteten die Kommissarin in ihrem Büro. Sandras Laune war auf einem Tiefpunkt, aber sie unterdrückte den Satz: „Habt ihr keine eigenen Räume?“ Dafür setzte sie sich demonstrativ auf die Fensterbank. Draußen zog ein Gewitter auf. Ein typischer Tag, wie sie ihn nicht mochte.

„Ich habe den Bericht des Rechtsmediziners erhalten!“, begann Jensen. Sandra legte eine neugierige Miene auf. Ihr Vorgesetzter musste ja nicht wissen, was sie schon alles wusste.

„Der Kleidung nach zu urteilen, handelt es sich um zwei Häftlinge der JVA Fuhlsbüttel. Sie sind beide gewaltsam zu Tode gekommen. Es dürfte für uns nicht schwer sein, ihre Namen herauszubekommen. Der Todeszeitpunkt war wohl irgendwann im Zeitraum von 2008 bis 2010. Wenn wir die Personalunterlagen der Haftanstalt einsehen, werden wir schnell die fehlenden Inhaftierten identifizieren können. Ein Kinderspiel!“

„Richtig!“, merkte MikVit an. Gut, dachte Sandra, Mik hat noch einige Dienstjahre vor sich und möchte es sich nicht mit Jensen verscherzen. Ihr war dieses dämliche Wort ,Kinderspiel‘ schon Anlass genug, aggressiv zu werden, zumal ihre Magensäure wieder mal verrücktspielte. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Gefühlsausbruch.

Sandra war aufgestanden und hinter Kriminalrat Jensen getreten. Mit den Worten „Dann will ich mal das Kinderrätsel lösen!“ forderte sie ihren Stuhl zurück. Etwas konsterniert sprang der Leiter der Abteilung 41 auf und verließ eiligen Schrittes den Raum.

„Irgendwann wird er dich hassen, Sandra!“, grinste MikVit.

„Hauptsache, dich liebt er, und nun raus mit dem, was du recherchiert hast!“


„Gut“, der Kommissar zog einige Blatt Papier aus der Jackentasche. „Also, die Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, umgangssprachlich Santa Fu genannt, ist ein Gefängnis, das ursprünglich in Hamburg-Fuhlsbüttel nach früheren Grenzverschiebungen heute in Hamburg-Ohlsdorf gelegen ist. Santa Fu ist eine reine Männeranstalt und beherbergt Häftlinge des geschlossenen Strafvollzugs und der Sicherungsverwahrung. Ich lese dir einfach mal den Ausdruck aus Wikipedia vor:

Das heutige Haus I wurde 1879 als „Zentralgefängnis“ für 800 Gefangene in Betrieb genommen. 1891 kam das heutige Haus IV als Anstalt für 350 weibliche Gefangene und 1892 das heutige Haus III als Anstalt für 115 jugendliche Gefangene hinzu. 1906 wurde das heutige Haus II als Anstalt für 726 männliche Gefangene in Betrieb genommen.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten stoppte das Vorhaben, die Fuhlsbütteler Anstalten abzureißen. Stattdessen wurde im März 1933 in Haus II das KZ Fuhlsbüttel eingerichtet, das bald in Haus IV verlagert, im September 1933 der SS übergeben und zum Kriegsende im April 1945 geräumt wurde. Hinzu kam vom 25. Oktober 1944 bis zum 15. Februar 1945 die Einrichtung eines Außenlagers des KZ Neuengamme in einem weiteren Gebäudeteil.

Ab 1945 diente die JVA Suhrenkamp als Gefängnis, die JVA Am Hasenberge (bis 1975) als Zuchthaus; die Anstalt Nesselstraße war dem Jugendvollzug gewidmet. 1979 wurde der Jugendvollzug in Haus IV geschlossen. 1983 wurde ein Werkhof eingerichtet. 1991 wurde Haus IV nach Renovierung wieder belegt. Im Juni 2003 wurden die bis dahin selbstständigen Teilanstalten Suhrenkamp, Am Hasenberge und Nesselstraße unter dem damaligen Justizsenator Roger Kusch als JVA Fuhlsbüttel unter einem Anstaltsleiter zusammengefasst. 2010 wurden die Häuser II und IV der JVA Fuhlsbüttel wieder zu selbstständigen Anstalten gemacht. Aus dem Haus IV ging die Sozialtherapeutische Anstalt Hamburg mit der Außenstelle Bergedorf hervor. Das Haus II blieb unter der Bezeichnung JVA Fuhlsbüttel. Das Haus I steht leer.“

Der Kollege schaute Sandra erwartungsvoll an.

„Gut abgeschrieben, Mikael!“

„Ausgedruckt!“, grinste Kommissar Mikael Vitthudt verlegen.

„Wie sieht es mit Zwischenfällen in der Haftanstalt aus?“

„1972 gab es eine große Knastmeuterei. Später, im Jahre 1990, eine weitere. Aber ich glaube, der Zeitraum liegt außerhalb unserer Ermittlungen.“ Er schaute die Kommissarin fragend an.

„Weiter!“

„In den Jahren danach wurde der Knast reformiert und so hatten die Insassen wohl nichts mehr zu meckern. Ich sage nur: Fitnesscenter und Swimmingpool!“ Vitthudt grinste.

„Bleib sachlich. Was hast du sonst noch? Wer sind die beiden Leichen?“

„Das kann ich natürlich nicht sagen, Sandra. Heute backt man dort für den Hamburger Bille-Bäcker Brötchen. Santa Fu ist ein kleiner, eigenständiger Backbetrieb geworden. Auch andere Knastprodukte – ,Heiße Ware‘ genannt – veräußert man – mit viel Erfolg.“

„Wie läuft die Bewachung?“

„Du meinst, wie viel Personal dort eingesetzt wird?“

Sandra nickte. Sie hatte den Stuhl etwas nach hinten geschoben und legte den Fuß auf eine ausgezogene Schublade.

„Ich meine, in der heutigen Tageszeitung etwas von zwölf Beamten beim Tagdienst und sechs in der Nacht gelesen zu haben. Aber das sollte sich anhand der Schichtpläne leicht herausfinden lassen.“

„Sonst noch etwas?“

„Das ist vielleicht nicht so interessant, aber man beabsichtigte, auf dem Gelände der Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel Wohnungen zu bauen. Doch das konnte man bisher nicht umsetzen, da zwei frühere Hafthäuser aus Denkmalschutzgründen nicht abgerissen werden dürfen.“

„Dürftig!“ Sandra war heute nicht sehr gesprächig.

„Tut mir leid, ich hatte bisher ja noch wenig Zeit. Werde weitersuchen.“

Mit den Worten „Tu das!“ sprang Sandra auf und verließ ihr Büro.


Die Kommissarin war nach St. Georg gefahren und saß bei einem Milchkaffee auf einem Sessel im hinteren Raum ihres Lieblingscafés Gnosa. Sie hatte ihr privates Tablet vor sich, ein großes Blatt Papier, dazu einen Stift auf dem Tisch und ein schlechtes Gewissen. Zum einen befand sie sich noch innerhalb ihrer Arbeitszeit und zum anderen überprüfte sie die von der Anstaltsleiterin zugesandten Mails, die sie von ihrem Dienstrechner auf ihr privates Tablet umgeleitet hatte. In ihrem Büro fiel ihr immer mehr die Decke auf den Kopf. Auch hatte Sandra das Gefühl, dort herrschte ständig Durchgangsverkehr. Vielleicht hatte sie alles etwas schleifen lassen, und das war nun das Ergebnis.

Bei den Dateien handelte es sich um insgesamt zweiundsiebzig Stück an der Zahl. Aus dem Jahr 2007 bis zum heutigen Zeitpunkt. Jeweils der Schichtplan für den Tag und für die Nacht. In der Haftanstalt wurden die Schichten zweimal im Jahr zeitlich umgestellt. Sicher, um einer Routine entgegenzuwirken, vermutete die Kommissarin. Schon als sie vom Jahr 2009 auf 2010 wechseln wollte, bemerkte sie das Fehlen von Dateien. Das Jahr 2010 hatte auch Rechtsmediziner Fischer als vermutliches Todesjahr der beiden aufgefundenen Männer erklärt. Überhaupt spürte Sandra das Fehlen jeglicher Emotionen. Der Tod brachte sie sonst stets zur Raserei und sie ruhte nicht länger, bis der oder die Mörder hinter Schloss und Riegel saßen. Aber bei Leichen, die schon jahrelang in der Erde ruhten, vermisste sie das. So war es auch vor einigen Jahren bei den in Säcken gehüllten Überresten der Seeleute, die ein Taucher unter der Elbphilharmonie aufgefunden hatten. Sie konnte da innerlich nichts aufbauen. Trotzdem war es wichtig, die Schuldigen zu finden. Die Kommissarin wusste, dass sie auch in diesem Fall nicht eher ruhen würde, bis ihr Auftrag erledigt war. Aber völlig ohne Emotionen – und das war eigentlich eine gute Herangehensweise.

 

Nach dem dritten Milchkaffee und einem Stück Himbeertorte hatte Sandra das Blatt Papier vollgeschrieben mit Zahlen und Statistiken. Ihr war aufgefallen, dass man die Haftanstalt Fuhlsbüttel anfänglich mit einem Stamm von bis zu zwanzig Beamten am Tag und zwölf Beamten in der Nacht bewacht hatte. Diese Zahl hatte sich Jahr für Jahr um fast eine Stelle reduziert. Mik hatte recht, heute befanden sich noch zwölf Männer in der Tag- und sechs in der Nachtschicht von Santa Fu. Sicher waren das nur reine Schließer. Im Tagdienst arbeiteten zusätzliches Küchenpersonal, Ärzte sowie Mitarbeiter der Verwaltung. Aber dennoch fand sie sechs Männer nachts, trotz der eingeschlossenen Häftlinge, als sehr überschaubar. Aber wenn es denn funktionierte. Anhand der Namen der Strafvollzugsbeamten ließ sich auch erkennen, dass um das Jahr 2010 herum eigentlich alle damaligen Beamten ausgetauscht wurden. Von einem Jahr auf das andere fanden sich in den Schichtplänen neue Namen und inzwischen waren auch von diesen zwölf Beamten nur noch sechs im Dienst. Schon eine gewaltige Fluktuation, fand die Kommissarin. Vermutlich waren die anderen versetzt worden oder in den Ruhestand gewechselt. Aber das würde noch zu klären sein. Nur die fehlenden Jahre 2009 und 2010 verursachten bei ihr leichte Magenbeschwerden. Wer waren die beiden Toten? Sie war noch kein Stück weitergekommen.


„Immerhin, die DNA der beiden Toten hat zu fünfzig Prozent einen Fortschritt gebracht!“, begrüßte Kommissarin Emma Meyfeld ihre Kollegin am nächsten Morgen. Emma sah eher unglücklich aus. Sie hatte Ränder unter den Augen und eigentlich hätte Sandra sie nach der Ursache fragen müssen. Aber die Kommissarin hatte selbst genug mit sich zu tun und war ja auch keine Therapeutin. Also nickte Sandra und zog die Bürotür hinter sich zu. Tatsächlich, nur eine der beiden DNA ergab einen Treffer. Sie gehört einem ehemaligen Häftling namens Patrick Monarch. Wenn es sich bei dem zweiten auch um einen Strafgefangenen gehandelt hätte, so glaubte Sandra, mussten auch Ergebnisse her. Schon vor langer Zeit war gerichtlich angeordnet worden, bei allen Angeklagten und Inhaftierten Speichelproben zu nehmen und diese aufzubewahren. Das würde heißen, beim zweiten Toten sollte es sich nicht um einen Strafgefangenen handeln. Aber um wen dann? Um einen Justizvollzugsbeamten? Viel Auswahl gab es in einem so stark abgesicherten Bereich nicht. Häftlinge wurden in die JVA Fuhlsbüttel eingewiesen und dazu gab es die Wärter. Diese konnten aber nach der Schicht die Haftanstalt wieder verlassen. Auch Besucher durften die Haftanstalt betreten. Aber alles wurde strengstens protokolliert und von Beamten geprüft. Warum lag der Häftling Monarch in der Grube, und wer war der zweite Tote? Es klopfte an der Bürotür. Der Kopf von Mikael Vitthudt erschien im Türspalt, als sie geöffnet wurde.

„Hallo, Sandra, darf ich stören?“

„Klar, was hast du?“

„Im Juni 2010 gab es einen Gefängnisausbruch. Zwei Häftlinge schafften es, aus Santa Fu auszubrechen.“

Sandra horchte auf. „Das würde sich mit der Zeit decken, die Fischer als Todeszeitpunkt vermutet hat.“

„Emma meinte, es gebe einen Treffer bei der DNA?“

Sandra kratzte sich in Gedanken am Kopf. „Das ist richtig: Patrick Monarch, ein Häftling. Ich muss eh noch mal nach Santa Fu. Begleite mich bitte, Mik!“


Die Fahrt nach Fuhlsbüttel verlief eher ruhig. Mik war nicht sehr gesprächig und so schaute die Kommissarin demonstrativ aus dem Seitenfenster des Fahrzeugs.

So viel ging ihr gerade durch den Kopf, und dazu diese lästige Magensäure.

Als sich die beiden Kriminalbeamten bei der Anstaltsleiterin anmelden ließen, teilte man ihnen mit, Frau Dr. Lönderer sei gerade beim Sport.

„Mangels Sportplatz ...“, so der diensthabende Beamte, „... trainiert sie heute im leeren Fitnessraum der Häftlinge.“ Der erklärende Beamte mit Namen Blankenburg führte Sandra und Mik auch dorthin. Blankenburg war groß und kräftig und Sandra bemerkte, dass er – während sie ihm auf den dicken Bauch schaute – bemüht war, diesen einzuziehen. Doch vergebens!

„Wie, sie macht Sport?“, wollte Sandra wissen.

„Dienstsport!“, berichtigte sie der Mann mit einem breiten Grinsen.

Das würde dir auch mal gut tun, dachte Sandra. „Gut, auch Dienstsport. Aber ist das normal?“

Der Mann schaute erst zu ihr, dann zu Kommissar Vitthudt und meinte dann: „Frau Doktor hält sich fit und keiner hat etwas dagegen. Es ist Gottes Wunsch, dass wir unsere Gesundheit erhalten.“

Mik und Sandra schauten sich etwas konsterniert an. Inzwischen hatten sie den kleinen Fitnessraum erreicht. Häftlinge waren ihnen bisher nicht begegnet, und obwohl Sandra genau jeden Flur hinunterblickte, war da gähnende Leere. Herr Blankenburg hatte die neugierigen Blicke der Kommissarin richtig eingestuft und erklärte: „Alle Häftlinge sind bei der Arbeit – wie im richtigen Leben!“

Dr. Lönderer selbst saß im engen Sportdress auf einer Bank und hielt eine mittelschwere Hantel in ihrer Hand. Sie schaute die Ankömmlinge erwartungsvoll, aber eher neutral an.

„Danke, Burghardt!“, flüsterte sie, und mit einem kurzen Gruß verließ der Vollzugsbeamte die Szene.

„Sind alle hier in der Anstalt per Du?“, wollte die Kommissarin wissen.

Die Leiterin hatte die Hantel vorsichtig abgelegt und war aufgestanden. In völliger Gelassenheit griff sie das Handtuch von einem Haken an der Wand und rieb sich das Gesicht ab.

Dann versuchte sie ein Lächeln. „Wissen Sie, Frau Holz, das hier ist keine Anstalt. Auch wenn man mich Anstaltsleiterin nennt. Ich muss Ihnen sicher nichts über den Strafvollzug erläutern. Und was Ihre Frage angeht, Burghardt und ich sind verlobt.“

Das saß. Sandra schaute zu MikVit, dessen Gesicht Bände zu sprechen schien.

„Gut, das geht uns nichts an, das ist Ihre Privatsache. Wir möchten noch einige Fragen loswerden, bevor wir uns den Beamten zuwenden. Aber vielleicht besser in Ihrem Büro?“

„Fragen ja, Büro nein! Dort werden gerade die Wände gestrichen. Maler, Sie verstehen!“

Sandra merkte, die Frau hatte ihren eigenen Dickkopf und sie selbst hier keinerlei Befugnisse.

„Gut, dann setzen wir uns hier auf die Bänke.“

Sandra machte es vor, während ihr Kollege sich einen kleinen Hocker griff.

„Wir haben die Leichen untersucht. Sie hatten Anstaltskleidung an, waren in dienstliche Wolldecken gehüllt. Bei einem der Toten handelt es sich um den Häftling Patrick Monarch. Die zweite DNA konnten wir noch nicht zuordnen.“

Frau Lönderer hörte ohne jegliche Gefühlsregung zu.

„Patrick Monarch!“, wiederholte die Kommissarin.

„Sagt mir nichts, muss vor meiner Zeit gewesen sein. Ich kann gerne mal nachschauen.“

„Bemühen Sie sich nicht. Meine Kollegen sind schon dabei!“, grinste Sandra und versuchte, ihren ansteigenden Blutdruck zu organisieren.

„Mir fehlen auch die Schichtpläne der Jahre 2009 und 2010.“

Noch immer regte sich die Frau nicht.

„Könnten Sie etwas dazu sagen?“

„Hatte ich Ihnen schon erklärt, erst Ende letzten Jahres das Amt der Anstaltsleiterin übernommen zu haben? Ich denke, ja! Also, alles was Sie mich fragen und länger als bis September 2019 zurückliegt, sollten Sie mit meinem Vorgänger besprechen.“

„Wissen Sie etwas über einen Ausbruch im Jahre 2010, Frau Lönderer?“, wollte Mik wissen.

Für Sandras Gefühl hatte sie diese Frage etwas durchgeschüttelt. Sie glaubte eine Regung erkannt zu haben.

„Auch hier muss ich Sie an meinen Vorgänger verweisen.“