Elbflucht

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Beim harten Aufprall auf der Wasseroberfläche fuhr Patrick Monarch erneut ein böser Schmerz in die Wirbelsäule, und trotz Gurt und krampfhaftem Halt am Lenkrad hatte er sich den Kopf schmerzhaft an der Wagendecke angestoßen. Doch es blieb keine Zeit, zu jammern oder nach einer Wunde zu suchen. Wasser begann sofort in den Wagen einzudringen. Kaltes, dunkles Elbwasser. Zunächst nur wenig. „Der schwere Koloss ist halt nicht für Bootstouren geeignet!“, belustigte er sich lautstark und seine Stimme klang ihm selbst so fremd. Gleichzeitig bemühte er sich, die Fahrertür zu öffnen. Doch sie ließ sich kaum bewegen. Dann endlich, mit dem Aufbieten aller Kraft – kurzzeitig wurde ihm leicht schwarz vor den Augen – wuchs der Spalt auf einige Zentimeter an. Wie losgelöst und ausgehungert stürzten sich weitere Wassermassen durch die geöffnete Tür. Monarch gab alles, und endlich schaffte er es, seinen über die letzten Wochen ausgemergelten, dünnen Körper hindurchzuschieben. Er fühlte das kalte Flusswasser erst an seinen Füßen, wenig später am Unterleib. Der Wagen schwamm noch einen Moment, kippte dann – wie in Zeitlupe – auf die Seite. Mit einer Drehung im Bereich der Wagentür glitt Monarch nun völlig in die dunkle Brühe. Er dachte an das Geld, an seine tote Frau und an die Zukunft, als er sich – mit ersten Schwimmbewegungen – vom Fahrzeug entfernte.

Die Kälte breitete sich bei ihm aus wie ein Tintenfleck auf einem Löschblatt!

Er hatte es versaut! Gut, dass Linda diese Blamage nicht mehr mitbekam. Dann war da nur noch Kälte.

Leichen in der Grube

Hamburg, 10. September 2019

Hauptkommissarin Sandra Holz war mit der letzten Maschine aus Paris zurück nach Hamburg geflogen. Den gebuchten Direktflug aus Nizza am gestrigen Abend hatte man gestrichen und so musste sie quer durch Frankreich fliegen, um über Paris zurück in die Hansestadt zu gelangen. Trotzdem konnte sie von Glück reden, überhaupt noch ihr Ziel erreicht zu haben. Die französischen Fluglotsen hatten es sich wohl kurzfristig überlegt zu streiken, und nach ihrem Abflug, so hörte sie von der Air-France-Crew, ging auf ,Charles de Gaulle‘ gar nichts mehr. Dabei hatte ihre Aussage – was die Verhaftung und Überstellung vom festgenommenen ehemaligen Hamburger Staatsanwalt Nischer-Durant betraf – nur wenige Minuten in Anspruch genommen, bevor man sie wieder entließ.

Sandra war ohne zu duschen ins Bett gefallen. Nur die Zähne hatte sie geputzt und sich bei ihrem Lebensgefährten Caro noch mit einem Küsschen für die Eile entschuldigt. Noch immer gingen ihr die Bilder der in einer Kiste eingeschlossenen Katharina nicht aus dem Kopf. Zum Glück hatte sich für die entführte 12-jährige Hamburgerin alles zum Guten gewendet. Endlich war die Kommissarin in einen Tiefschlaf versunken und konnte aus diesem Grunde die leichten Stöße und Rufe an ihrer Seite nicht zuordnen.

„Taxi für Frau Hauptkommissarin!“

Der Traum gefiel ihr nicht und sie zog sich – stöhnend und wie in Trance – das Kissen über den Kopf.

„Sandra, echt, deine Kollegen rufen nach dir. Tut mir leid, es ist nicht meine Schuld!“

Das schien tatsächlich kein Traum zu sein. Sandra blinzelte mit den Augen. Im Schlafzimmer des Paares war etwas Licht und der Funkwecker zeigte verschwommen kurz vor vier Uhr am Morgen an.

„Spinn ich?“, brüllte sie und richtete sich auf. Caro saß splitternackt vor ihr auf dem Bett und zuckte erschrocken mit den Schultern.

„Hatte ich denn nicht alle Handys ...?“

„Sie haben Sturm geklingelt. Ein Uniformierter. Er lässt sich nicht abweisen!“

Inzwischen hatte sich Sandras Kreislauf stabilisiert und sie schaute auf Caros gut gebauten Körper.

„Hast du dem Typen so die Tür aufgemacht?“

Wieder zuckte der ehemalige Kriminalbeamte mit den Schultern. Nur sein Grinsen war etwas breiter geworden.

„Klar, dass er sich nicht hat abwimmeln lassen!“ Sandra war aufgesprungen und hatte das Laken vom Bett gerissen und sich umgewickelt. Kopfschüttelnd und gähnend verschwand sie aus dem Schlafzimmer. Caro hörte draußen ein Murmeln, dann ein paar Worte von Sandra und dazu eine männliche Stimme – sicher der Polizeibeamte. Kurze Zeit später stand Sandra wieder vor dem Bett.

„So ein Blöd...“, ihr herzzerreißendes Gähnen ließ die Endung des letzten Wortes offen. Caro überlegte kurz, ob sie Blödmann oder Blödsinn sagen wollte. Sandra zog schnell ihre Unterhose an, ein T-Shirt über den Kopf, dann ihre Jeans über und drückte ihrem Lebensgefährten einen Kuss auf die Nase. „Bin schnell wieder da!“, prognostizierte sie, und Caro glaubte zu hören, wie sie ihre geliebte Lederjacke von der Garderobe riss und dabei etwas anderes auf den Boden plumpste. Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Caro Lutteroth schaltete das Licht aus und ließ sich rücklings auf der Matratze nieder.


„Sandra, ich muss mich entschuldigen. Und ich weiß auch, dass du gestern Abend erst aus Frankreich zurückgekehrt bist!“

Die Stimme aus dem Funkgerät des Streifenwagens klang leicht verzerrt, doch der Kommissarin war bewusst, beim Sprecher handelte es sich um ihren Vorgesetzten Kriminalrat Rolf Jensen. Erneut bereute sie es, ihm vor zwei Wochen bei einer kleinen Feier im Dezernats 41 erlaubt zu haben, sie zu duzen. Vielleicht hätte es Jensen sich dann überlegt, seine Mitarbeiterin aus dem Bett zu holen. Ganz sicher war sie sich bei dem Gedanken aber nicht.

„Sandra, man hat heute auf dem Sportgelände der Haftanstalt Fuhlsbüttel zwei Leichen entdeckt. Und da ich mir sicher bin, dass die Presse in wenigen Stunden schon Fragen über Fragen stellt, wollte ich dich an meiner Seite haben. Also bis gleich!“

Die Kommissarin lehnte sich auf dem Rücksitz zurück und schaute zum Fahrer. Der blickte streng nach vorne und schien nicht an einer Konversation interessiert zu sein. Das passte ihr ganz gut. Das Blaulicht auf dem Dach des Wagens spiegelte sich in den Scheiben der Geschäfte der Langen Reihe wider, bevor sie nach wenigen Hundert Metern das Ufer der Außenelbe erreichten.

Wie lange war sie inzwischen in Hamburg bei der Mordkommission? Das Rechnen fiel ihr so früh am Morgen noch nicht leicht, aber sie kam auf fast sieben Jahre. War das noch der Beruf, den sie sich ausgesucht hatte, der sie forderte und dem sie sich bedingungslos unterwarf? Sie musste das innerlich verneinen, dachte plötzlich an den getöteten Kollegen Alexander Schweiss, an ihr tolles Team und an die Beziehung mit Caro Lutteroth. Sicher gab es immer etwas Besseres. Im Beruf, im Privatleben. Aber musste sie nicht zufrieden sein? Sie war noch keine sechsunddreißig Jahre alt. Schon Hauptkommissarin und in Hamburg so etwas wie eine Legende. Sandra musste lächeln bei dieser Idee. Das mit der Legende war vielleicht etwas übertrieben. Obwohl sie schon so manche Schlacht für die Hansestadt geschlagen hatte. Vierundzwanzig Jahre trennten sie von der Pensionierung. Eine lange Strecke, doch anderen Arbeitnehmern ging es schlechter. Sie mussten bis siebenundsechzig Jahre und länger arbeiten. Die vielen Überlegungen brachten ihre seit Wochen andauernden Bauchschmerzen zurück. Die Kommissarin änderte die Haltung, aber die Schmerzen blieben. Lange hatte sie den unangenehmen Druck in der Magengegend, aber auch das Aufstoßen, verbunden mit Schmerzen in der Speiseröhre, ausgehalten und verdrängt. Doch langsam zehrte es an ihr. Sie musste sich endlich mal einen Termin beim Arzt geben lassen oder gleich eine Magenspiegelung eintüten. Der Gedanke an einen dicken Schlauch, der sich den Weg durch ihren Mund hinab in den Magen bahnte, ließ sie leicht würgen. Der Uniformierte am Steuer schaute durch den Rückspiegel zu ihr. Sandra versuchte ein Lächeln, doch es misslang.

So lehnte sie sich zurück, bemüht, aus dem Blickfeld des Rückspiegels zu gelangen. Fröstelnd zog sie den Reißverschluss der Lederjacke bis unter ihr Kinn. Sicher hätte sie den Fahrer bitten können, die Heizung einzuschalten. Aber diese Ruhe im Wagen wollte sie auf keinen Fall durchbrechen.

Wo sah sie sich in einigen Jahren? Als Mutter weiterer Kinder? Der Vater, ihr Lebensgefährte Caro? Oder als Leiterin eines Sonderkommandos der Hamburger Polizei? Beim letzten Gedanken merkte sie, wie ihr Herzschlag anzog. Polizeieinsatz war eher etwas für sie als die Mutterrolle. Und ein Kind genügte, auch wenn das inzwischen fünfjährige Töchterchen Lara Sophie beim Vater in Italien aufwuchs. Aber Caro nervte, wollte sie endlich ehelichen, und sogar ihre Schwiegermutter sprach von Nachwuchs, bevor es zu spät sei. Aber wann war es zu spät? Sie fühlte sich weder reif für eine erneute Ehe, noch reif für eine weitere Verantwortung als Mutter. Eher war sie dem Auszug aus der kleinen Wohnung in der Langen Reihe näher als einem Eheversprechen. Sicher wäre das auch für ihren Lebensgefährten besser. Er würde wieder eine Partnerin finden. Vielleicht eine Krankenschwester aus dem UKE, die ihm noch drei und mehr Kinder gebären würde. Mist, warum war das Leben nur so schwer? Wenn man doch in die Zukunft schauen könnte! Nur ein wenig. Die Magensäure schoss im Schwall in Richtung Kehle und riss die Kommissarin aus ihren Überlegungen.


Keine halbe Stunde später bog der Wagen auf das Gelände der Hamburger Strafanstalt Fuhlsbüttel ab. Sandra hatte die letzten Minuten der Fahrt durch die fast leere Hansestadt genossen. Vorbei am Mundsburg Center, am Arbeitsgericht, seitlich des Stadtparks so nah an der Stadtpark Open-Air-Bühne auf den Ring 2, fast die gesamte Sengelmannstraße entlang, und nur wenige Fahrzeuge kamen ihnen entgegen, bis sie in den Suhrenkamp abbogen. Eine geschenkte, nächtliche Stadtrundfahrt.

 

„Nicht mein erster Aufenthalt hier, aber sicher der früheste!“, murmelte sie, als sich in der JVA Fuhlsbüttel dem Streifenwagen das riesige Stahltor wie von Zauberhand öffnete. Seitlich auf der Parkfläche hatten sich schon diverse Fernseh-Übertragungswagen aufgebaut und Sandra frohlockte: Auch NDR und RTL waren wohl schon auf den Beinen. Hinter ihnen schloss sich das schwere Metalltor wieder und Sandra fühlte sich schon etwas privilegiert. Aber vor allem war sie dankbar, so früh nicht noch Fragen irgendwelcher Sensationsjournalisten beantworten zu müssen. Der Wagen hielt, und da der Fahrer den Motor abstellte, öffnete Sandra die Wagentür.

Mit leicht wackeligen Beinen betrat sie die erste Schleuse. Es roch leicht muffig und sie erinnerte sich, erst am gestrigen Abend das letzte gegessen zu haben. Missmut schlug ihr vonseiten der beiden Strafvollzugsbeamten entgegen. Sie spürte das sofort. Sonst, wenn sie hier in Santa Fu einen Termin hatte, wurde sie stets freudig begrüßt. Dann folgte ein kurzes Gespräch über das Wetter oder über Neues in der Stadt, während sie ihre Waffe ablegte und sich legitimierte. Doch heute erfolgte nur ein „Die Waffe hier hineinlegen!“ vom diensthabenden Beamten. Dazu schaute er sie genervt an.

Ihre Waffe befand sich noch immer im Tresor des Polizeipräsidiums. Das erklärte sie dem älteren Beamten und der entriegelte schulterzuckend – mit dem Druck auf einen Knopf – die nächste Tür. Die Kommissarin verließ das Gebäude und spazierte gedankenverloren über den Hof in Richtung Außengelände. Grelles Licht blendete sie. Man schien hier in Santa Fu – wie die JVA Fuhlsbüttel auch im Volksmund genannt wurde – sämtliche zur Verfügung stehende Scheinwerfer eingeschaltet zu haben. Ob es immer so war oder an der aktuellen Situation lag? Sie würde es bald wissen und wünschte sich eine Sonnenbrille und etwas Sonnenöl. Wie kam sie bloß auf solche blöden Gedanken? Zwei tote Menschen lagen wenige Meter von ihr entfernt, von Unbekannten vergraben. Sicher gewaltsam ums Leben gekommen – und sie machte dumme Scherze. Sie schrieb es ihrer Müdigkeit zu und gähnte erneut.


„Hallo, Sandra, das hier ist die Leiterin der JVA, Frau Dr. Lönderer. Darf ich vorstellen, Hauptkommissarin Sandra Holz, sozusagen unser bestes Pferd im Stall.“

Kriminalrat Jensen war selbst erschrocken über seine ungewöhnliche Vorstellung der Kollegin, und seine Gesichtsfarbe wechselte – unter dem grellen Licht – in das tiefe Rot einer Tomate.

Die Anstaltsleiterin versuchte sich an einem Lächeln, doch es misslang. Sie war groß, hager, hatte eher ein längliches Gesicht; und Sandra fand die Frau alles andere als hübsch. Sie schätzte sie auf Ende fünfzig.

„Ich würde ja wiehern ...“, Sandra bemühte sich – nach Ende ihrer Überlegung – ihr bestes Grinsen aufzusetzen, „... aber ich bin noch zu müde!“

„Sie müssen wissen, Frau Holz ist gestern Abend erst aus Frankreich zurückgekommen“, versuchte Jensen abzulenken.

Sandra war kurz in Versuchung, ihren Vorgesetzten noch mit den Worten ,heute Nacht‘ zu berichtigen, ließ es aber dann.

Die Kommissarin schaute sich um. Sie befanden sich definitiv auf einem großzügigen Sportgelände. Es war in ein helleres Licht getaucht als das Abendspiel des Hamburger Sportvereins, HSV, erinnerte sie sich. In diesen hinteren Bereich der JVA hatte Sandra es bisher noch nicht geschafft, da war sie sich sicher. Mindestens zehn riesige Flutlichter verursachten das Gefühl von extremer Hitze, und es fühlte sich an wie ein Sommertag auf der Insel Mallorca.

Vor ihr lag ein ausgetretener Hartfußballplatz, darum eine ovale Schotterlaufbahn und seitlich erhoben sich die ihr bekannten Außenmauern der sternförmigen Haftanstalt Fuhlsbüttel. Ob die Gefangenen an den vergitterten Fenstern hingen und ihnen hier zusahen?, überlegte sie sich, als Jensen Sandra aus ihren Gedanken riss.

„Die Leichen liegen weiter hinten, im Bett der Sprunggrube.“

Das Wort Bett löste bei Sandra ein Gähnen aus und sie bemühte sich, mittels einer Kopfdrehung die Anwesenden es nicht merken zu lassen. Erst jetzt fielen ihr die beiden gelben Schaufelbagger auf, die man am Ende des Platzes abgestellt hatte. Aufgrund der Helligkeit waren sie fast unsichtbar, nur die schwarze Beschriftung konnte Sandra lesen.

„Könnte man das grelle Licht nicht etwas runterregeln?“, bat die Kommissarin.

Anstaltsleiterin und Kriminalrat Jensen schauten sich kurz an und versuchten die Frage als Spaß abzutun.

„Nein, ich meine es tatsächlich ernst, Frau ...?“

„Lönderer!“

„Frau Lönderer, wem nützt es was, wenn wir uns hier unten die Augen verblitzen?“

Die Leiterin der Haftanstalt überlegte kurz, griff dann in die Tasche und entnahm daraus ein kleines Funkgerät.

„Schalten Sie die Beleuchtung der Türme vier und sieben aus!“

Das war keine Bitte, bemerkte Sandra, aber ihr konnte es egal sein, wie die Frau mit ihren Beamten kommunizierte. Keine Minute später erloschen zwei Masten und nach einer kurzen Nachglühzeit war die Helligkeit fast gemütlich.

Erst jetzt traten die beiden weißen Transporter der KTU in Sandras Blickfeld und sie freute sich, tatsächlich nicht die Einzige hier am frühen Morgen zu sein; natürlich mit Kriminalrat Jensen.


Die ehemalige Sprunggrube, die ihr Vorgesetzter angesprochen hatte, war einem großen Krater gewichen. Nur ein riesiger Sandhaufen seitlich neben dem Bagger zeugte von der Sportmöglichkeit der hier Inhaftierten. Sandra hatte etwas Bedenken wegen ihrer neuen, weißen Sneakers und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

Das breite Grinsen von Rechtsmediziner Dr. Sebastian Fischer konnte Sandra auch durch die Gesichtsmaske unter dem weißen Ganzkörperschutz erkennen. Dr. Fischer war noch nicht lange beim Institut für Rechtsmedizin im Hamburger Butenfeld, aber er übernahm inzwischen – wie Sandra fand – mehr Aufträge als sein Chef Dr. Pellin. Sie musste Uwe Pellin doch einmal fragen, welche Gründe es dafür gab. Als Fischers Grinsen nicht aufhörte und er noch immer in ihre Richtung starrte, grinste Sandra kurz zurück. Sie war stets der Meinung gewesen, der Junggeselle habe ein Auge auf sie geworfen. Kollegin Emma Meyfeld hatte ihr einmal erzählt, Fischer habe nach ihrem Status gefragt.

Die drei traten gemeinsam an den Rand des Kraters. Er hatte die Ausmaße eines kleinen Gartenswimmingpools, rechteckig, und war mittig etwa einen Meter tief, schätzte die Kommissarin.

„Die sind den beiden Toten dauernd auf den Köpfen rumgesprungen!“, hörte sich Sandra sagen. Doch zum Glück waren Jensen und die Frau Doktor in ein leises Gespräch vertieft. Jetzt sah Sandra auch die beiden dunkeln Gegenstände wenige Meter vor ihr in der Erde, die sie gleich als Wolldecken identifizierte. Oben klafften sie etwas auf und ihr war klar, dort hinein hatte man die Leichen gelegt. Sicher hatten die Decken die Verwesung etwas verlangsamt, aber darüber würde Fischer berichten. Sie zeigte auf die Grube und zuckte mit den Schultern in Richtung des Rechtsmediziners. Fischer winkte ihr zu und die Kommissarin kletterte vorsichtig über den Rand in die ehemalige Sprunggrube. Es kam ihr hier alles so seltsam vor. Irgendwie spürte sie Hunderte von Augenpaaren, die sie beobachteten, aber als sich Sandra umschaute, war hinter den dunklen Metallgittern der Fenster nichts zu sehen. Sicher täuschte sie sich und sie lief die wenigen Meter zur Spurensicherung.

„Wurden Sie auch aus dem Schlaf gerissen, Frau Hauptkommissarin?“, trat ihr Fischer freudig entgegen. Ihr fiel ein, Fischer war der Letzte, mit dem sie noch ,per Sie‘ war. Das musste sie auf der Stelle ändern, obwohl der Zeitpunkt sicher schlecht gewählt war. Trotzdem trat sie näher an den Rechtsmediziner.

„Dr. Fischer, lassen wir die Förmlichkeiten. Ich bin die Ältere!“, spekulierte sie, „lassen Sie uns zukünftig Du sagen. In Ordnung?“

Fischer schien außer sich vor Freude und strahlte wie ein kleines Kind, das einen neuen Lederball geschenkt bekommen hatte.

„Aber natürlich, Sandra. Das freut mich. Sie, also du kannst Basti zu mir sagen. Das ist kürzer als Sebastian.“

Sie merkte an seiner Bewegung, dass er ihr die Hand geben wollte, doch sofort hatte er sie wieder zurückgezogen.

„Na, Basti, dann erzähl mal!“

„Gerne, Sandra. Ich wurde also um drei Uhr vierzehn angerufen; man erklärte, Bauarbeiter hätten zahlreiche menschliche Knochen im Boden des Sportgeländes der JVA Fuhlsbüttel ausgegraben. Du musst wissen, ich habe diese Woche Bereitschaft, habe sofort aufgelegt. So ein Schwachsinn, habe ich gedacht und mich noch mal im Bett umgedreht. Als das Klingeln des Handys nicht enden wollte, bin ich dann nochmals ran. Also, es handelt sich tatsächlich um zwei Leichen!“

Fischer zeigte auf Teile einer alten zerfledderten Wolldecke, zwischen denen Knochen lagen. Kaum einen Meter entfernt dokumentierten zwei Beamte der Spurensicherung mit ihren Fotoapparaten den Leichenfund.

„Die beiden Leichen lagen sicher fünf, eher zehn Jahre in diesem Grabe. Es befinden sich noch kleinere Anhaftungen von Gewebe an den Knochen, daher meine Zeitschätzung. Ich möchte mich da aber noch nicht festlegen.“

„Wie kommst du anhand der Knochen so schnell darauf, dass es sich um zwei Leichen handelt?“

„Sie waren in Decken gehüllt und lagen etwa 1,50 Meter voneinander entfernt. Ich habe mir – was die Knochen betrifft – einen kurzen Überblick verschafft, und schnell war mir klar: Da liegen zwei Leichen!“

„In Wolldecken eingehüllt?“

„Ja, Sandra! Und diese dicken Wolldecken, wie ich sie auch vom Militär kenne, halten für einige Zeit Maden, Würmer usw. vom Gewebe ab. Aber dann ...!“

„Wie tief lagen die Leichen?“

„Etwa einen Meter unter der dicken Sandschicht.“

„Begünstigen Tiefe, Sand und Decken in diesem Fall den Verwesungsprozess?“

Sandra wunderte sich etwas, wie sie um diese frühe Zeit schon solche hoch intellektuellen Fragen stellen konnte.

„Natürlich! Während Leichen, die zwischen 30 und 60 Zentimeter tief begraben liegen, innerhalb einiger Monate skelettiert sein können, dauert es bei Tiefen von einem Meter und mehr oft Jahre. Und Sand beheimatet eher weniger kleine Krabbeltiere – zumindest anfänglich!“ Der Rechtsmediziner war in seinem Element.

„Mich wundert, dass die Insassen den Verwesungsgeruch beim Sport nicht wahrgenommen haben?“, wollte die Kommissarin wissen.

„Nein, aber das ist nicht überraschend, Sandra. Aus einer Tiefe von einem Meter dringen kaum Gerüche nach oben. Vor allem, da der Sand dichter ist als zum Beispiel weiche Erde, wie wir sie in unseren Wäldern vorfinden. Und im Gegensatz zu Wohnungsleichen spielt der stetig wehende Wind eine große Rolle. Speziell hier oben im Norden. Eher hätte ich damit gerechnet, dass ein Wachhund den Geruch erschnüffelt und Alarm geschlagen hätte.“

Sandra war bemüht, aufkommende Gähn-Serien zu unterdrücken. Fischer hätte glauben können, sie interessiere sich nicht für seine Ausführungen. Sie spürte schon leichte Krämpfe im Kiefergelenk. Sebastian Fischer selbst hatte den Kopf nach hinten gelehnt und schien nachzudenken.

„Haben die denn überhaupt Hunde hier?“ Sandra hörte in die Stille des Hofes hinein, aber kein Hundegebell war zu hören.

Fischer zuckte mit den Schultern. „Manchmal wundert es mich schon, dass die Bewohner eines Gebäudes, in dem schon monatelang eine Leiche verwest, nichts riechen. Wenn wir Rechtsmediziner, aber auch die Bestatter das Gebäude betreten, schlägt uns schon im Flur sofort der üble Geruch entgegen.“

„Dein Resümee, Basti?“ Die Kommissarin glaubte für den Anfang genug gehört zu haben.

„Nun, die beiden wurden vor acht bis zehn Jahren hier abgelegt und vergraben. Sie waren damals bekleidet, ich würde mal auf Anstaltskleidung tippen. Man hat sie noch zusätzlich in Wolldecken eingewickelt. Hier vor Ort ihr Alter zu definieren, ist unmöglich, das muss im Butenfeld nach eingehender Untersuchung geschehen. Ich tippe jedoch auf zwei Männer, da es sich ja hier um ein reines Männergefängnis handelt. Einer groß, vielleicht etwa 1,80 bis 1,85 Meter. Der andere sicher unter 1,70 Meter.“ Der Rechtsmediziner schaute Sandra fragend an.

 

„Ist das nicht äußerst ungewöhnlich, zwei Tote in einer Strafanstalt? Verbuddelt auf einem Sportplatz, auf dem wohl täglich Hunderte Gefangene herumlaufen?“

„Natürlich, dasselbe habe ich mich auch schon gefragt.“

„Wie lange hätte es gedauert, bis sich auch die Knochen aufgelöst hätten?“

Fischer grinste wie ein junger Schüler, der endlich vom Lehrer nach dem Gedicht gefragt wurde, das er stundenlang auswendig gelernt hatte.

„Liebe Sandra! Knochen bestehen vor allem aus Kalziumphosphat. Sie sind also mineralisch und können im eigentlichen Sinne des Wortes nicht verwesen. Kalziumphosphat ist nur wenig wasserlöslich und baut sich im Erdreich nur langsam ab. Für Pflanzen ist es ein wichtiges Mineral und fördert – normalerweise – die Auflösung von Knochen. Wenn das nicht so wäre, wäre die Erde in vielen Gegenden meterhoch mit Knochen bedeckt. Aber hier in der Sandgrube ...!“

„Wer hat die Leichen gefunden?“

„Soviel ich weiß, wurden sie heute Nachmittag bei Baggerarbeiten ausgegraben!“

„Heute Nachmittag? Warum meldet man uns das erst so spät bzw. so früh am nächsten Tag, und was wird denn hier überhaupt gebaut?“

„Da musst du die Anstaltsleiterin fragen. Ich glaube, man wollte da etwas vertuschen, aber bevor ich mich zu weit aus dem Fenster lehne, frag doch Kriminalrat Jensen.“

Jensen stand plötzlich wie hergezaubert neben den beiden.

„Ich habe Ihre letzten Worte gehört, Dr. Fischer. Es ist tatsächlich wahr, Sandra. Die Verantwortlichen der Haftanstalt wollten das Ganze verschleiern oder zumindest verzögern. Erst einer der Baggerfahrer, derjenige, der die beiden Skelette gefunden hat, rief die Polizei. Hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Und was die Baumaßnahmen hier angeht, sprach die Anstaltsleiterin vom Neubau der Sportanlage.“

„Warum hat sie uns den Fund nicht sofort mit­geteilt?“ Sandras Kopf wies auf Frau Dr. Lönderer, die wie versteinert nun auch am Rande der Grube aufgetaucht war.

„Nun, sie wusste es wohl auch nicht früher.“ Jensen hatte zur Anstaltsleiterin geschaut und diese nickte stumm.

„So wie ich vermute, war die Tagschicht der Anstalt etwas überfordert und hat erst einmal Schweigen angeordnet.“ Wieder sprach der Kriminalrat für die Anstaltsleiterin mit. „Aber das ist noch zu klären. Ich habe Frau Lönderer gebeten, die komplette Tagschicht heute im Laufe des Tages hier in der JVA Fuhlsbüttel zur Vernehmung antanzen zu lassen. Sie erklärte mir, dass es zwölf Beamte seien.“

Sandra war überrascht: Nur zwölf Beamte bewachten die gesamten Strafgefangenen hier? Sie hatte noch die Zahl um vierhundert Häftlinge im Kopf. Aber vielleicht hatte sich Jensen auch verhört. Sie nickte zustimmend und der Kriminalrat schien zufrieden.

„Wenn alle Fotos im Kasten sind, würde ich die Leichenreste ins Butenfeld bringen lassen. Leider kann ich erst übermorgen mit einer Untersuchung beginnen, Herr Jensen“, mischte sich Dr. Fischer wieder ein.

Jensen horchte auf.

„Sie müssen wissen, ich fliege um zehn Uhr nach Stuttgart, muss dort den Kollegen bei der Obduktion eines verstorbenen Politikers helfen. Wurde von oben ...“, Sandra folgte Fischers Blick an den Himmel, „... angeordnet!“

„Sie wissen schon, werter Dr. Fischer, was die Presse in wenigen Stunden mit uns macht?“

„Da bin ich schon im Ländle!“, grinste der Rechtsmediziner.

„Sie sind gut raus!“ Jensen wandte sich ab und verließ die Grube.

„Kannst du mich nicht mitnehmen nach Stuttgart?“

„Nur zu gerne, Sandra!“, antwortete Sebastian Fischer.

Die Kommissarin ärgerte sich maßlos über ihren Ausbruch an Blödheit.


Gemeinsam mit der Anstaltsleiterin spazierte Sandra über den Sportplatz in Richtung des Ausganges. Jensen war schon vorausgegangen.

„Gibt es Wachhunde hier in der JVA?“, überraschte sie Frau Lönderer mit der Frage.

Die Frau war abrupt stehen geblieben und schaute ihr Gegenüber fragend an: „Wachhunde? Nein, wie kommen Sie auf die Idee? Das fehlte mir noch!“

Die Kommissarin nickte und zückte ihr Handy. Dann drehte sie sich um und begann einige Fotos der Umgebung zu machen.

„Hallo, Frau Holz, es ist Ihnen nicht gestattet, hier ohne meine Genehmigung zu fotografieren!“, meinte die Leiterin der Haftanstalt schnippisch.

Sandra ließ sich nicht beirren und machte schnell noch ein Panoramafoto der Gefängnisanlage. Dann drehte sie sich zu der erstaunt blickenden Frau um.

„Hören Sie, Frau Lönderer, wenn ich hier fotografiere, um herauszubekommen, welches die Umstände waren, die zum Tod der beiden Menschen geführt haben, tue ich das. Aber ich sende Ihnen gerne einen Abzug der Fotos. Denn hätten Sie Ihren Job richtig gemacht, müsste ich nicht mitten in der Nacht hier auf schlechtem Untergrund meine hellen Sneakers verschmutzen!“

Frau Dr. Lönderer war erneut stehen geblieben, und Sandra war klar, sie rang nach Atem.

„Aber nichts für ungut. Ich komme morgen vorbei, dann sparen Sie sich die Vernehmung im Landeskriminalamt. Sagen wir vierzehn Uhr?“

Die Kommissarin wartete nicht ab, sondern schloss schnell zu Kriminalrat Jensen auf, der schon das Vollzugsgebäude erreicht hatte.


Draußen vor dem Tor der JVA Fuhlsbüttel hatte der Aufzeichnungswagen eines Privatsenders die Zufahrt versperrt. Sandra saß im Wagen ihres Chefs, und obwohl Jensen hupte, was das Zeug hielt, war zunächst kein Durchkommen. Menschen mit großen Kameras und Mikrofonen standen umher und witterten ihre Chance auf eine Sensation.

„Würdest du das bitte übernehmen?“, bat Jensen die Kollegin, und Sandra öffnete die Wagentür etwas. Sofort streckte sich der haarige Windschutz eines Mikrofons direkt vor das Gesicht und es ekelte sie. Sandra schlug danach und das Mikrofon polterte zu Boden.

„Sind Sie noch ganz bei Trost?“, rief eine Frauenstimme und Sandra schaute in die wachen Augen einer Frau, die aus der Hocke kam, das Mikro in der Hand. Sie besaß einen selbstbewussten Blick und dazu einen Schopf voller rötlicher Locken.

„Glauben Sie, ich habe am frühen Morgen Lust auf ein Fellfrühstück?“

Sandra musste lachen und auch die Journalistin fiel ein.

„Entschuldigen Sie, man hat mich etwas geschubst. Ich bin Marlies von Hagen, Moderatorin des Hamburger SzeneMagazin!“

„Alles gut!“, entgegnete Sandra. Der Name von Hagen kam ihr bekannt vor. Das war doch diese Journalistin, die überall rumschnüffelte und in ihrer Hamburger Sensationsgazette nur Mist berichtete! Am liebsten schrieb sie wohl – so Sandras Informationen – Klatsch und Tratsch und Unwahrheiten über die Hamburger Promi-Szene.

„Ich bin todmüde, Frau von Hagen. Ich besitze wenig Informationen, beantworte keinerlei Fragen, kann Ihnen aber Folgendes mitteilen: Es handelt sich um einen Leichenfund. Zwei Personen, wie alt, wie groß, wie lange: Keine Ahnung! Sie wurden bei Bauarbeiten auf dem Sportplatz der Haftanstalt aufgefunden. Wir klären heute ihre Identität und so schnell wie möglich die Umstände, die sie in diese Grube gebracht haben. Und nun machen Sie bitte alle die Straße frei, bevor ich einen Abschleppwagen rufe.“


Sandra hatte nach ihrer Rückkehr noch zwei Stunden tief und fest geschlafen, dann eine kalte Dusche genommen und anschließend zwei Espresso ex getrunken. Ein Croissant, das Caro übrig gelassen hatte, in der Hand, war sie zum Hauptbahnhof spaziert. Ihre Gedanken waren bei dem morgendlichen Leichenfund. Das war doch unglaublich: Zwei Leichen, vergraben auf dem Sportgelände einer Haftanstalt. Und nicht vor hundert Jahren, sondern noch in diesem frischen Jahrhundert. Sie hatte schon vieles erlebt und noch mehr erfahren dürfen, aber das war sicher das Seltsamste, was sie je bearbeiten musste.

In ihrem Büro angekommen, warteten schon die Kollegen Emma Meyfeld und Mikael Vitthudt in Sandras Büro auf die Kommissarin. Emma hatte die Füße auf deren Schreibtisch abgelegt und machte beim Eintreten ihrer Vorgesetzten keinerlei Anstalten, dies zu ändern. Erst wollte Sandra ihre Kollegin zurechtweisen, ließ es dann aber und setzte sich auf einen Sessel an den kleinen Tisch.

„Sandra, erzähle, wir kommen um vor Neugierde. Der NDR überschlägt sich mit Meldungen aus Santa Fu.“