Lakritz

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Ein Zeitgenosse von Celsus und Scribonius, der römische Offizier und Staatsbeamte Plinius Gaius Secundus d. Ältere (23/24-79 n. Chr.) kannte das Süßholz (radix dulcis), neben Linden- und Palmensaft, als Süßstoff. Plinius benannte zwar die pontische Wurzel des Schwarzen Meeres, die beste Wurzel stammte ihm zufolge aber aus Sizilien. Darüber hinaus empfahl er bereits den eingekochten Süßholzsaft, der zur Verbesserung der Stimme unter die Zunge gestrichen und bei Brust- und Leberleiden angewandt wurde. Allgemein sei die Wurzel dem Wassersüchtigen gegen den Durst zu verordnen. Sie heile auch Blasengeschwüre, kranke Nieren, Geschwulst am After und Geschwüre an den Geschlechtsteilen. Gekaut sei sie ein gutes Magenmittel, hemme darüber hinaus den Blutfluss aus Wunden, weshalb sie als Trank vermischt mit Pfeffer und Wasser gegen das ›viertägige Fieber‹ helfe und Blasensteine abtreibe.14

Die von Theophrast begründete Arzneipflanzentherapie setzte jedoch weniger Plinius, sondern sein Zeitgenosse Pedanios Dioskurides, ein Militärarzt aus Tarsus in Kilikien, fort. Sein in griechischer Sprache abgefasstes Hauptwerk ›De materia medica‹ (lat. Übersetzung, 78. n. Chr.) war noch über das Mittelalter hinaus ein beliebter Ratgeber. Das Süßholz (Glycyrrhiza) führt Dioskurides hier ebenfalls als Pontische Wurzel ein, das auch Gentiana, Skythion, Adipson (durststillend) oder Symphyton (dicht verwachsen) genannt werde und hauptsächlich in Kappadokien und am Pontus vorkomme.15 Bei seiner genauen Beschreibung unterlief ihm jedoch der Fehler, dass er die Glycyrrhiza glabra den dornigen Pflanzen zuordnet. Auch im Geschmack erwähnt er sowohl die süßen als auch die herbschmeckenden Wurzeln, wobei letztere sehr wahrscheinlich von der Glycyrrhiza echinata L. abzuleiten sind. Doch weist Dioskurides darauf hin, dass die Wurzel zu Saft verarbeitet, dann ausgehärtet unter die Zunge gelegt und gelutscht werden soll.

Mit der Anwendung des Süßholzsaftes beschreiben Plinius und Dioskurides nun den Schritt, der in der Abhandlung von Theophrast über die Verwendung von Wurzeln nur angedeutet ist: die Zubereitung und Nutzung des ›Succus Liquiritiae‹ – des eingedickten Lakritz-Saftes.

Hierzu wird nicht mehr die Wurzel oder das Pulver aus feingestoßener trockener Wurzel in roher, gerösteter oder gedörrter Form verwendet, sondern die Wurzel mit Wasser aufgekocht und der Sud eingedickt und eingedämpft. Nach der heutigen Definition für Lakritz als verarbeitetes Produkt der Süßholzwurzel kann mit diesen Erwähnungen der Beginn der Lakritz-Geschichte markiert werden, denn bis in die Gegenwart wird in dieser Form das naturreine, pure Lakritz hergestellt.

Ein weiteres Zeugnis aus der Antike für die Verwendung des eingedickten Lakritz-Saftes liefert der ehemalige Gladiatoren- und Leibarzt von Marcus Aurelius und Septimius Severus – Galenos von Pergamon (129-199/216 n. Chr.). In seinem medizinischen Konzept, basierend auf der Säftelehre der vier Körperflüssigkeiten (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle), den Elementarqualitäten (Feuer, Erde, Luft und Wasser) und den vier Qualitäten (heiß, kalt, feucht und trocken), die in Einklang zu bringen sind, wird die Süßholzwurzel (dulci radice) als warm beschrieben. Der süße Geschmack weise darauf hin, dass sie die gleiche Mischung habe wie der menschliche Körper. Aber da die Wurzel etwas herb schmecke, heißt es weiter, müsse sie doch etwas kühler sein als die menschliche Natur. Dadurch habe sie die Fähigkeit, mit seiner Feuchtigkeit den Durst zu stillen. Schließlich reicht bei Galen die Behandlungsmöglichkeit mit Süßholz von Heiserkeit bis Tollwut.16

In seinen Werken benennt Galen auch andere Autoren, die Süßholz verwendet haben. So erfahren wir zum Beispiel von Amarantus dem Grammatiker (2. Jh. n. Chr.) ein Mittel gegen Fußschmerzen, das unter zahlreichen Ingredienzien auch den Succus enthält und ein Jahr lang in Pillenform eingenommen werden soll.

Hiermit sei der kurze Exkurs über die medizinische Verwendung der Süßholzwurzel während der Römerzeit, die eigentlich eine Zeitspanne von zwei Jahrhunderten umfasst, beendet. Zu bemerken bleibt noch, dass sich in dieser Zeit die Bedeutung der Medizin generell änderte. Galt es zunächst, die Bedenken der römischen Bevölkerung zu überwinden, schließlich war nach Aussage von Plinius bis dato die einzige Behandlungsweise von Krankheiten eine Diät aus Kohl, Salat, Zwiebeln und Kirschen, stand sie zu Galens Zeiten in hohem Ansehen.17 Ein Zeichen dieser Achtung ist die Benennung der ›Hiera‹ (Abführmittel), die nicht nur nach berühmten Feldherren und Herrschern benannt wurden, sondern auch so eindrucksvolle Titel trugen wie Athanasia (die Unsterbliche), Ambrosia (die Göttliche), Isotheos (die Göttergleiche) oder Isochryson (die Goldgleiche).18 In der Tradition der ›Empirischen Schule‹, alles zu einer Komposition zu vermischen, war auch für die Abführmittel das Süßholz unentbehrlich.

Nicht zu vergessen ist, dass die Römer die Grundlagen ihrer Wissenschaft aus Griechenland bezogen. Vor allem nachdem der Glanz Griechenlands erloschen war und von Rom überschattet wurde, eilten die griechischen Gelehrten, Philosophen und Ärzte nach Rom und vermittelten dort ihre bis dahin unbekannten Kenntnisse. Angefacht durch die Neugier der Römer wurde die Nachfrage nach Ärzten bald so groß, dass selbst die Domestiken berühmter Gelehrter sich in Schenken einmieteten, um Kranke zu kurieren. Hier wurde das Wissen, das vormals Gelehrte auf ihren langen Reisen erworben hatten, direkt an ihre Patienten weitergegeben.

Neben dem tradierten Wissen ermöglichte die militärische und politische Ausbreitung des römischen Imperiums die Einfuhr seltener und kostbarer exotischer Produkte, die zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden konnten. Als Herkunftsort der Süßholzpflanze benannten Plinius und Dioskurides Sizilien, Pontos und Kappadokien. Galen fügte diesen noch Kreta hinzu, und verweist damit auf einen weiteren Handelsweg. Denn der römische Kaiser unterhielt auf Kreta spezielle Kräutersammler und Wurzelschneider zur Versorgung des kaiserlichen Hofes, der Stadt Rom und anderer Provinzen, die die Bevölkerung mit Kräutern, Früchten, Samen, Wurzeln oder Säften belieferten.19 Dies markiert auch den Beginn der Tätigkeit von spezialisierten Drogenhändlern. Die Süßholzwurzel boten nun eigens ernannte Wurzelschneider und -sammler an Verkaufstischen oder an der Schwelle eines Ladens an. Zu dieser Zeit gab es aber auch wandernde Arzneihändler, ja, ganze Scharen von mehr oder weniger ehrbaren Kräuterhändlern, die nicht nur kostbare Heilmittel, sondern auch gefälschte und damit wirkungslose oder sogar gefährliche und tödliche Drogen anpriesen. Schon früh wurde hier der Ruf der Scharlatanerie gefestigt, der den Ärzten und Apothekern lange Zeit nachhing, sodass sie als würdelos bezeichnet und mit Wucherern und Gauklern in einen Topf geworfen wurden. Dies zeigt aber auch, wie erworbenes Wissen nach den Regeln der Gier und Gewinnsucht die Taschen mancher Blender bereichern konnte.

3 Ferner Handel – Die Pfade der Wurzel

Während das Süßholz eine weltweite Anerkennung genießt, ist der Genuss von Lakritz eine europäische Angelegenheit. Denn auf keinem anderen Kontinent zeigt die Wurzel durch ihre Verarbeitung und Anwendung eine solche Raffinesse und Vielfalt wie in Europa. Die Wurzel sollte hier jedoch erst im Mittelalter ihre volle Akzeptanz finden, nachdem deren Bekanntheit zeitweilig in Vergessenheit zu geraten schien. Deshalb steht nun die Frage im Vordergrund, welche Pfade die Glycyrrhiza seit der Antike auf ihrem Weg in nördliche Gefilde einschlagen musste, um zu diesem Ansehen zu gelangen.

Zunächst ging es nach dem Untergang des weströmischen Reiches um eine Positionierung im Kampf gegen das ›Fremde‹, das von der neuen christlichen Welt mit den antiken Lehren und Wissen verbunden wurde. Denn neben der Zerstörungswut einfallender Barbaren galt es auch, das von den Gelehrten der Antike mühsam zusammengetragene Wissen, und damit die vielen Süßholz-Rezepte, gegen die Schmähungen der christlichen Kirche zu verteidigen und vor dem Untergang bzw. ihrer Zerstörung als ›heidnische‹ Schriften zu retten.

Diese Aufgabe übernahmen ab dem 6. Jahrhundert paradoxerweise Benediktinermönche, die nach Auffassung des Apotheker-Chronisten Adrien Phillippe eher aus Langeweile denn zum Wohle der Wissenschaft die antiken Schriften kopierten und sich so dieses Wissen aneigneten.1 Vor allem durch den Codex »Regula Benedicti«, der Anweisungen für die praktische und literarische Pflege des antiken Wissens enthält, übermittelte der Klerus in seiner Missionstätigkeit der folgenden Jahrhunderte dem paganen Europa nicht nur seine christliche Lehre, sondern auch die Erkenntnisse der antiken Kultur: der Sprache und Literatur, der Künste, der technischen Wissenschaften, Naturwissenschaften und der Medizin.

Darüber hinaus besaßen die Mönche genügend Kenntnisse von der Heilwirkung der Kräuter, um die Arzneien aus der Natur selbst zu bereiten. Ihren Arzneischatz lieferten anfänglich noch die Pflanzen und Kräuter in Steppe und Wald, an Hecken, Ackerrainen und Bachufern. Mit der Regula ist den Benediktinern aber auch der Gartenbau zur Ordenspflicht gemacht worden. In vielen Regionen Europas ebneten die Mönche mit ihren Klostergärten den Weg für eine Kultivierung unbekannter Pflanzen, worunter sich auch die Glycyrrhiza befunden haben soll.

Um der Süßholzwurzel jedoch die Popularität angedeihen zu lassen, die sie im späten Mittelalter erhielt, wurden andere Wege eingeschlagen. Während im westlichen Europa die medizinische Wissenschaft in dichter Finsternis zum Erliegen kam, erblühte sie nach der Teilung des römischen Reiches (337 n. Chr.) im Osten, denn der antike Wissensschatz wurde im oströmischen Byzanz weiter gepflegt und entwickelt. Ein Beispiel hierfür ist die 72-bändige Enzyklopädie des Arztes und Historikers Oribasius aus Pergamon (ca. 325-403), Leibarzt von Kaiser Julian. Diese Enzyklopädie wurde aus den Werken Galenos und anderer Ärzte zusammengestellt. Auf das Wissen von Galen stützte sich auch der lydische Arzt Alexander Trallianus (525-605). In einem Süßholz-Rezept gegen Schlafmangel durch das Herabfließen eines dünnen Sekrets vom Kopf in die Luftröhre empfiehlt er einen Sud aus Mohnköpfen (Opium) angereichert mit Honig, Süßwein und Süßholz, wobei das Süßholz, falls nicht frisch vorrätig, auch durch den aus Kreta importierten Extrakt ersetzt werden kann.2

 

Ab dem 7. Jahrhundert schloss sich an das byzantinische Reich durch den Gebietsverlust nach der ›islamischen Expansion‹ gegen Süden und Osten ein Hinterland an, das unter dem Einfluss der arabischen Kultur zu einem Paradies erblühte. Mit der Besetzung der iberischen Halbinsel von Mauren im 8. Jahrhundert erstreckte sich dieses neue muslimische Reich zeitweise sogar von Sevilla bis Samarkand und von Aden bis Tiflis. Die unterschiedlichen Kulturen, Glaubensrichtungen und Verwaltungssysteme der besetzten Territorien wurden übernommen, toleriert und in die Gesellschaft der islamischen Kalifate integriert. Dies bildete die Grundlage, auf der dann antikes und arabisches Wissen miteinander verschmolzen. Viele Schriften berühmter Gelehrter der Antike wurden nun aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt und durch eigene Erkenntnisse erweitert.

Gerade diese Assimilation des Wissens führte zur Schaffung einer eigenständigen Heilkunde, aus deren Feder neue Wortschöpfungen wie Alkohol, Sirup oder Julep stammten. Entwickelt wurde auch das Lacuq (Looch), ein den Latwergen ähnlicher, dünner, süßer Gelee, der wie ein weiches Bonbon aufzulecken ist. Die schleimigen Teile von Früchten und Wurzeln werden hierzu aufgekocht und mit Mandelöl und Honig vermischt. Nach einem Süßholz-Rezept, das auch einer heutigen Anweisung für ein Lakritz-Bonbon entsprungen sein könnte, werden hierzu Gummiarabikum, Traganth, Succus Liquiritiae, Zucker und eine Latwerge von Samen geschälter Quitte, süßen Mandeln und gezuckerten Kürbiskernen miteinander vermischt und aufgekocht, bis es eine zusammenhängende Masse bildet, aus der man ein liebliches Hustenmittel enthält. Eine Lakritz-Apotheose der arabischen Heilkunst anderer Art ist ein Rezept, bei dem Süßholzpulver und andere Zutaten mit Veilchensirup und Rosenwasser angedickt werden. So zauberhaft es klingt, so banal ist seine Anwendung: Am späten Morgen geschluckt, hilft das Mittel gegen brennenden Harnausschuss [Tripper].3

Verbunden mit den arabischen Neuerungen kam der Wissensschatz der Antike dann an den kulturellen Nahtstellen von Orient und Okzident zurück nach Europa. Zwei Städte mit unterschiedlicher Geschichte spielten dabei eine wesentliche Rolle: Toledo und Salerno.

Im spanischen Toledo, das von 711 bis 1085 unter maurischer Herrschaft gestanden hatte, wurden zahlreiche Texte aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen. Beispielhaft für diese Epoche der maurischen Gelehrsamkeit mit ihrer Vorliebe für die süße Wurzel sei der in Malaga geborene arabische Botaniker und Arzt Ibn-al Baithar (gest. 1248) genannt. Er stützte sich in seinem Werk nicht nur auf die Ausführungen von Dioskurides und Galen, sondern auch auf den Arzt Avicenna (Ibn-Sina, 980-1037). Dieser vereinte in seinem ›Kanon der Medizin‹ (Qanun al-Tibb) griechische, römische und persische Traditionen und beschrieb 760 Medikamente mit Angaben zu deren Anwendung und Wirksamkeit. Avicenna empfahl Süßholz neben den Erkrankungen des Atmungstraktes, des Magens, der Niere und der Blase auch als Wundmittel und bei Geschwüren. In der Übersetzerschule von Toledo wurde eine Abschrift seines Kanons angefertigt, auf die Ibn-al Baithar zurückgreifen konnte und die er mit eigenen Kommentaren versah.4


Abb. 7 Glykyrrhiza, Abbildung aus dem ›Pariser Dioskurides‹ (9. Jh.)

Im italienischen Salerno entstand Ende des 10. Jahrhunderts die erste medizinische Fakultät Europas. An dieser weltoffenen Schule, die nach einer praxisorientierten Lehre ausgerichtet war, studierten neben christlichen Klerikern und Laien auch Juden und Frauen. Ihren Ruhm erlangte diese Schule durch den Einfluss des in Karthago geborenen Arztes Constantinus Africanus (1018-1087). Er gab mit seinen Übersetzungen arabischer Schriften in die lateinische Sprache nicht nur dem europäischen Medizinalwesen neue Impulse, sondern richtete hier ein Zentrum zur sorgfältigen Untersuchung der Glycyrrhiza auf ihre pharmakologischen Eigenschaften ein.5

Eine seiner Quellen ist das Werk des Gelehrten Abū Manșū Muwaffaq, der eine eigene Materia medica (ca. 980) in persischer Sprache verfasst hat. Nach Art von Galen beschreibt Manșū Muwaffaq die Süßholzwurzel als mäßig heiß, feucht und kalt, deren adstringierende Wirkung mit Feuchtigkeit gemischt sei. Neben den bekannten Anwendungsmethoden erleichtere der Saft den Frauen die Geburt und fördere den Brechreiz. Die Blätter sollen auch den üblen Geruch der Achselhöhle und des Fußes beseitigen.6

Die Schule von Salerno mit ihrer praxisnahen Ausrichtung ist zwar seit der Entstehung neuer Universitäten während des 12. und 13. Jahrhunderts in Montpellier, Bologna, Paris, Oxford, Cambridge und Padua unbedeutend geworden. Allerdings waren die in Salerno verfassten Lehrbücher noch lange Zeit als ärztliche Ratgeber in Umlauf. Zum Beispiel stellte die Drogenliste der Salerniter, die Alphita, für viele Arzneihändler bis in die Frühe Neuzeit eine verbindliche Richtschnur für ihren Drogenbestand dar. Zu den Werken, die hier ihren Ausgang nahmen, zählen auch das ›Antidotarium Nicolai‹ und der ›Liber de simplici medicina‹ (auch bekannt als ›Circa instans‹). Während das Antidotarium Nicolai recht komplizierte Arzneiformeln mit Angaben der Wirkungsweise und Anwendungsart enthält, werden in der Circa Instans die Drogen alphabetisch aufgelistet und ihre Elementarqualitäten sowie Indikationen beschrieben. In diesen und weiteren Kompendien aus dem 12. Jahrhundert durfte das Süßholz natürlich nicht unerwähnt bleiben. Matthaeus Platearius (M. de Platea; gest. 1161), ein Arzt und Lehrer an der Schule von Salerno und Verfasser eigener medizinischer Schriften, gibt sogar eine Anweisung für die Succus-Herstellung und benennt die noch heute handelsüblichen Formen: »Man zerstößt oder zerquetscht die Wurzeln, kocht die Masse mit Wasser aus, dickt die Lösung bis fast zum Trocknen ein, presst ab, trocknet den Extrakt an der Sonne und formt ihn, der Gestalt der benutzten Gefäße entsprechend, in Kuchen, Stangen oder runde Stücke.«7

An den neuen Universitäten, die unter starkem kirchlichem Einfluss standen und an denen Frauen nicht zugelassen waren, wurde das Medizinstudium allerdings ein Teil des ›Studium Universale‹ und war eher Gegenstand theoretischer Betrachtung als das Resultat praktischer Erfahrung. Gelehrt wurde dort eine Schulmedizin, die keineswegs das Vertrauen und die Anerkennung genoss, die der heutigen Medizin zuteil wird. Mit ihrer Etablierung trug sie jedoch entscheidend zum Untergang der weiblich-dominierten Heilkunde bei. Dabei waren die weisen Frauen jahrhundertelang die einzigen ›Samariterinnen‹ der Landbevölkerung. Denn während die Kaiser, Könige, Päpste und reichen Adligen ihre eigenen Ärzte hatten, konnten sich die einfachen Menschen auf dem Lande, wohin sich keiner der ›studierten‹ Laienärzte verirrte und wo die Kirche als Heilmittel nichts außer Wasser anzubieten hatte, nur an diese Frauen wenden. Dass die Süßholzwurzel nicht zu dem Repertoire der heilkundigen Frauen zählte, soll hier nicht weiter beunruhigen, denn einerseits ist die Quellenlage sehr dürftig, andererseits verwendeten sie nur den heimischen Pflanzenschatz, worunter in vielen Regionen, vor allem in Mitteleuropa, die Süßholzpflanze (noch) nicht zählte.

Bekannt war die Wurzel allenfalls durch einige wenige Kräuterbücher und Rezeptsammlungen und wurde zum Beispiel im Codex Bambergensis (ca. 795) und im Codex Sangallensi (ca. 1260) als Heilmittel aufgeführt.8 Erstaunlich ist allerdings, dass die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) in ihrer Schrift ›Ursachen und Behandlung der Krankheiten‹ zwei Rezepte mit Süßholz (Succus Liquiricus) benennt, eines mit Fenchel und Honig gegen Herzleiden und das andere als Abführmittel:

»Ein Mensch, der Abführgetränke herstellen und geben will, soll Ingwer, halb soviel Süßholz und ein Drittel soviel Zitwer wie Ingwer nehmen, dies pulverisieren und durchsieben und schließlich das ganze Pulver abwiegen. Dann nehme er so viel Zucker, wie das Pulver wiegt.«9

Hildegard von Bingen übernahm zwar nicht einfach kritiklos die Drogenkunde des Altertums, sondern bildete sich durch Beobachtung und praktische Erfahrung ihre eigene Meinung zur Wirkungsweise der einzelnen Heilpflanzen und bezog das naturkundliche Volkswissen ihrer Umgebung mit ein. Der Einsatz der Glycyrrhiza ist aber sehr wahrscheinlich nicht ihren naturheilkundlichen Kenntnissen, sondern vielmehr dem Einfluss der Klostermedizin zu verdanken. Ungewiss ist auch, ob sie auf Wurzeln aus dem eigenen Klostergarten zurückgreifen konnte oder das Süßholz über den Handel erstanden hat.

Im 12. Jahrhundert ist jedenfalls ein Handel mit der Süßholzwurzel nach Deutschland nachgewiesen. Sie wird in zwei Zolltarifen aus Stain an der Donau in Niederösterreich, einer Zollstätte an der Hauptstraße des Transithandels von Konstantinopel nach Deutschland, aufgeführt. Neben Süßholz wurden auch andere orientalische Kostbarkeiten, Aromen, Räucherwerk, duftende Gewürze und seltene Drogen, außerdem Seiden- und Goldstoffe, Priester-Ornate, Purpurmäntel und messingbesetzte Degenkoppeln gegen Waffen, Wolle, Tuch, Metalle und Holzwaren getauscht. Der Preis für Süßholz wird auf dieser Zollliste mit »Saum likoricii XXIIII or denaren« (24 Gold-Denare) angegeben.10

Der Beginn des Handels nach Konstantinopel reicht zwar in das frühe Mittelalter zurück. Mit den Kreuzzügen des 12. und 13. Jahrhunderts hatte er aber eine so große Ausdehnung, dass er mitunter den Beginn des interkontinentalen Transithandels markierte. Während dieser Zeit beluden die europäischen Kaufleute und Drogenhändler ihre Schiffe mit den begehrten orientalischen, vorder- und ostasiatischen Luxuswaren und wohlriechenden Stoffen nicht nur in Konstantinopel, sondern auch in den Mittelmeerhäfen von Beirut, Alexandria, Accon und Tyrus und brachten sie nach Italien. Aus dieser Zeit ist in einem venezianischen Seestatut von 1233 die Bestimmung für die Ausfuhr von Süßholz aus Syrien festgehalten. Laut diesem Statut wurden die Waren nach ihrem Verhältnis von Gewicht und erforderlichem Raum in drei Ladeklassen eingeteilt, wobei Süßholz zu der ersten Ladeklasse gehörte.11 Die größten Umschlaghäfen, von denen die Waren dann per Landweg oder zur See weiter nach Norden transportiert wurden, waren die beiden Stadtstaaten Venedig und Genua.

Von Venedig aus setzte sich im späten Mittelalter der Handel mit der Süßholzwurzel in nördliche Richtung auf den alten Handelsstraßen über den Ostalpenpass, die die Lagunenstadt mit der Donau und dem Rhein verbanden, fort. In Deutschland gelangten die Waren landeinwärts direkt in die großen Handelsstädte Nürnberg, Augsburg und Regensburg oder in die Messestädte Frankfurt (Main), Braunschweig oder Leipzig. Dort deckten sich dann auch die Arzneihändler mit den Drogen ein, die sie nicht aus der näheren Umgebung beziehen konnten.

Dieser vermehrte Handel barg auch Gefahren. So war die Verbreitung der Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts über weite Teile von Europa der Vernetzung durch Handelskontakte zuzuschreiben. Seinen Ausgang nahm der ›Schwarze Tod‹ 1346 an der Seidenstraße, wo Pelzhändler mit virenverseuchten Murmeltierfellen ihren Handel trieben. Über Astrachan und Kaffa (Feodossija) gelangte der Virus schließlich auf dem Seeweg nach Konstantinopel und verbreitete sich weiter nach Westeuropa und den nordafrikanischen Ländern, bis die Seuche 1352 in Russland abklang. Ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung fiel der Pest zum Opfer. In vielen Städten wurde zur Bekämpfung der Pandemie eine ›Pestschrift‹ erlassen, die einen Verhaltenscodex und Rezepte enthielt. Unter den hilfreichen Drogen zur Bekämpfung der Seuche wurde auch das Süßholz aufgezählt, so zum Beispiel in der Pariser Pestschrift von 1348.12 Durch solche Schriften erlangte die Glycyrrhiza im 14. Jahrhundert eine, wenn auch ungewollte, so doch europaweite Bekanntheit.

 

Die verheerenden Seuchen des 14. Jahrhunderts führten ebenfalls zu einer starken Vermehrung der Apotheken. War der Apotheker ursprünglich ein Händler, der von Stadt zu Stadt zog und seine Waren in offenen Verkaufsständen anbot, ließ er sich im Laufe des 14. Jahrhunderts häuslich nieder und regelte seine Geschäfte aus den Kontoren. Den Kontoren angeschlossen waren die ›Apotheca‹, zunächst Lagerräume für Waren unterschiedlichster Art, die sich ab dem 14. Jahrhundert zu den heute wohl vertrauten Handelsorten für Arzneimitteln entwickelten.

Ab dem 15. Jahrhundert lässt sich der Handel mit der Süßholzwurzel durch den Weg, den die Arzneimittel in die Apotheken-Lager genommen haben, weiter nachzeichnen. Bezeugt durch die Arzneitaxen13, die von dem Magistrat der Städte und den Landesfürsten aufgestellt wurden, um die Preise für Arzneimittel festzulegen und dadurch einen aus der Not der Kranken heraus denkbaren skrupellosen Handel mit Heilmitteln zu unterbinden, taucht die Wurzel zum ersten Mal in einer italienischen Liste aus Ferrara von 1424 als Requelizia auf. 1450 befindet sie sich auf einer Taxe der Stadt Frankfurt (Main), wo sie als Liquericia angeboten wurde.

In dem darauffolgenden 16. Jahrhundert geben die Medikamenten-Listen jedoch nicht nur Aufschluss über die Bezeichnung der angebotenen Waren, sondern auch über deren Darreichungsform und Herkunft. In dem Drogenverzeichnis der Stadt Esslingen von 1550 befindet sich der Succus Liquiritie, in der Apothekentaxe von 1571 sogar ein liquiriciae liquor cond., ein kondensierter Lakritz-Likör, und eine brandenburgische Taxe von 1574 weist geschabtes Süßholz (Glycyrrhizae rasae) aus. Mehrere Listen führen Kreta als Herkunftsort für den Succus auf, zum Beispiel die Frankfurter Listen von 1582 und 1609, die Taxen der Stadt Mainz von 1605 und Schweinfurt von 1608. Darüber hinaus stehen die ›skythische‹14 und ›spanische‹ Wurzel (Rad. Dulcis Scytia et Hispanica, Frankfurt a. M. 1582) und der ›venezianische Süßholzsaft‹ (Worms, 1609) in hohem Kurs.

Doch das Süßholz wurde von Venedig oder Genua nicht nur auf dem Landweg über den Alpenpass in den Norden gebracht. Die Galeeren der italienischen Händler umschifften auch die iberische Halbinsel weiter nach Flandern und Brabant, Brügge und Antwerpen. Die Niederlande erhielten bereits im 13. Jahrhundert ›recalisse‹ aus Italien und Spanien, und im 14. Jahrhundert wurde es auch über Hamburg und Lübeck eingeschifft. Aus Flandern gelangte das Süßholz in die nördlichen Regionen, vor allem nach Dänemark, wo Hendrik Haperstreng schon 1244 seine Heilwirkung lobte.

Den Schiffstransport von spanischem Süßholz nach Nordeuropa bezeugt auch die Schmähschrift »The Libelle of Englyshe Policye« (Das Büchlein von Englischer Staatsklugheit) aus dem Jahre 1436. In dem ersten Kapitel werden die Waren aufgezählt, die von Spanien nach Flandern zum Hafen von Brügge verschifft werden:

»Ihr, die ihr’s wissen wollt, mögt jetzt erfahren,

Was aus Hispanien an brauchbaren Waaren

Zum Handel kommt. Es sind dem Lande eigen

Rosinen, Datteln, Bastardwein und Feigen,

Sevilla-Oel, Süßholz zu bill’gen Preisen

Castil’sche weisse Seife, Wachs und Eisen,

Korn, Wolle, Fries, Ziegen- und Lammfell auch,

Für Laschen-Macher trefflich zum Gebrauch,

Quecksilber, Schwefel.«15

Diese Verse zeigen eindeutig, dass im 15. Jahrhundert die spanische Süßholzwurzel (»dem Lande eigen[e Waren]«) und nicht mehr das Süßholz aus der Levante zu billigen Preisen gehandelt wurde. Für den regen Tausch mit der spanischen Wurzel spricht auch die Handelsbezeichnung ›Spanisches Süßholz‹, die seit dem Mittelalter verbreitet ist.

Im gleichen Zeitraum, wie der unbekannte Autor der ›Englischen Staatsklugheit‹ die spanischen Galeeren mit Süßholz an den englischen Küsten vorüberziehen sah, soll sich auch ein französischer Staatsmann um die Verbreitung der Pflanze verdient gemacht haben. Es ist Jacques Cœur (1395-1456), der Kaufmann aus Bourges und Schatzmeister des französischen Königs Karl VII., ein kluger Geschäftsmann und Abenteurer seiner Zeit, dem am Ende seines Lebens durch eine Intrige der Mord an der Favoritin des Königs, Agnès Sorel, vorgeworfen wurde. Durch seine Verbindungen mit dem Hause Aragon, dessen Königreich auch Sizilien und Süditalien einbezog, hatte er rege Handelsbeziehungen nach Neapel. Die Schiffe seiner Handelsflotte sollen, unbestätigten Quellen zufolge, von hier das kalabresische Süßholz nach Marseille und Montpellier mit sich geführt haben. Ein solcher Handel zwischen Sizilien und Marseille wird jedoch bereits im 12. Jahrhundert erwähnt. Demnach hatte ein französisches Schiff in Italien 17 Pack (etwa 480 kg) gebündeltes Süßholz (faisos Liquiricie) an Bord genommen.16

Über das Mittelmeer und die Levante kamen mit der französischen Handelsflotte aber auch andere, seltene Spezereien nach Europa – so zum Beispiel das Gummiarabikum, das bis in die heutige Zeit als natürliches Bindemittel für die Lakritz-Herstellung eine wichtige Rolle spielt.17 Ursprünglich wurde das Gummiarabikum in Ägypten eingeschifft. Hierher kam das Beste aus der senegalesischen Akazie gewonnene Harz, von der Westküste Afrikas. Es wurde quer durch den ›arabischen‹ Kontinent zu den Häfen der Levante transportiert, was ihm auch seinen Namen gab. Dieser Handelsweg verkürzte sich, als 1364 französische Kaufleute aus Dieppe die westafrikanische Küste ansteuerten, das Gummiarabikum aus dem Senegal ausführten und vor Ort eine Handelsgesellschaft gründeten, die von nun an den europäischen Kontinent auf direktem Wege mit dem teuren Harz versorgte. An dem Handel mit Gummiarabikum beteiligte sich auch Jacques Cœur, dessen Schiffe in den französischen Mittelmeerhäfen anlegten.

Montpellier, eines der Zentren seiner Handelstätigkeiten, stand im Mittelalter ebenfalls unter dem Szepter des Hauses Aragon und unterhielt Konsulate in Accon, Tyrus und Tripolis. Die Stadt lag an der mittelalterlichen Salzstraße und war eine Station auf dem Jakobsweg, der zahlreiche Pilger zum Grab des heiligen Apostels Jakob nach Santiago de Compostela führte. Bereits im 12. Jahrhundert bezeugte der Rabbiner Benjamin bar Jona aus Tudela in Kastilien in seinem Reisebericht den frühen Handel in Montpellier.18 In diese Zeit wird auch die Legende über schlaue Händler angesiedelt, die mit kleinen Lakritz-Honigkugeln das Wechselgeld aufrundeten, das sie an die Pilger des Jakobswegs herausgaben, wenn diese auf ihrem Weg nach Santiago de Compostella in der Basilika Notre-Dame-des-Tables eine Pause einlegten.19

Parallel zum Handel hatte sich Montpellier auch zu einer bedeutenden mittelalterlichen Universitätsstadt mit einer starken medizinischen Fakultät entwickelt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mehrere chirurgische Schriften im 13. Jahrhundert den ›Succus liquiritiae‹ erwähnen und selbst die Empfehlung zum Befördern des ›Zahnens‹ bei kleinen Kindern, niedergeschrieben von dem italienischen Arzt Aldebrandino di Siena (1256), aus Montpellier stammt.20 Für den Gründer der Universität, den Burgunderkönig Phillip IV. (1268-1314), wurde auch eine Handschrift des Platearius (der sog. Codex Hamilton) angefertigt, die eine frühe Abbildung einer stilisierten Süßholzwurzel enthält.


Abb. 8 Liquirite, Abbildung des Codex Hamilton (13. Jh.)

Ebenfalls in Montpellier soll das erste pharmazeutische Konfekt hergestellt worden sein. Diese Behauptung stützen die Manuskripte des berühmten Anatomie-Professors Bénédicitin (1494-1553). Nach seinen Rezepten hätten ortsansässige Apotheker kleine Lakritz-Dragées hergestellt, die als Glücksbringer von den Absolventen der Fakultäten verteilt wurden.21