Lakritz

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Dagegen wurde die Hauptwurzel Glycyrrhiza glabra gerade aufgrund des hohen Bedarfs für den Arzneimittelschatz auch in einigen Regionen der Welt angebaut. Im nördlichen Teil Europas war es vor allem in England (Surrey und Yorkshire), Deutschland (Thüringen und Franken (Bamberg)) und Österreich (Znajm und Auspitz (heute in Tschechien Znojmo und Hustopeče)), in denen diese Variante wuchs. Der Anbau machte auch vor der ›neuen‹ Welt nicht halt. In Neuseeland und Australien bestehen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Süßholzkulturen, und heute finden sich auch Anbauflächen in Brasilien, Kalifornien und Südafrika.

Bei einem Anbau ist eine Vermehrung durch die Samen allerdings ausgeschlossen, da die kultivierte Pflanze selten blüht und sich dadurch nur wenige oder keine Samen bilden. Vielmehr setzt hierzu der Süßholzbauer die Stecklinge in einem Meter Reihenabstand in etwa 30 bis 40 Zentimeter tiefe Gräben aus. In den ersten Jahren pflanzt er die Ausläufer auch in Mischkulturen zwischen Kartoffeln und Kohl (England), Weizen, Erbsen und Mais (Kalabrien/Italien), oder Spinat, blauem Kohl, Salat, Zwiebeln, Spargel und Merrettich (Bamberg) an. Traditionell ist die Pflanzung zwischen Weinstöcken, wodurch dem Wein ein holzig-süßliches Aroma verliehen wird.

Das kultivierte Süßholz benötigt eine reichliche Düngung mit Jauche und Stallmist. Eine ausreichende Wasserversorgung und regelmäßiges Hacken sind weitere Faktoren, die bereits nach 3-4 Jahren eine erste Ernte ermöglichen. Bei Wildwuchs kann bereits nach 1-2 Jahren geerntet werden. Sichtbares Zeichen für die Reife ist die stark verkorkte Wurzel. Die Rinde lässt sich dann auch nicht mehr von der Hand abschälen. Das Alter wird durch das Brechen der Wurzel festgestellt, eine zitronengelbe Farbe verrät die junge Wurzel, die alte Wurzel ist dunkelgelb bis schwarz. Wegen ihrer gelben Farbe wird das Süßholz von der indogenen Bevölkerung Kanadas auch ›Kfwa‹ (ranzig, fettig) genannt und mit ranzigem Speck assoziiert. Nach einer Erzählung graben sich Mäuse in die Erde, um die Wurzel anzunagen. »Diese sind ranzig, diese sind gelb«, auf diese Weise höre man die Mäuse unter der Erde knabbern.14

Beim ersten Biss in eine frisch geerntete Wurzel der Glycyrrhiza füllt nicht die herbe Süße der Lakritze, sondern das unverwechselbare Aroma knackiger Kaiserschoten den Gaumen. Erst während des Trocknens entwickelt sich dann der Geschmack zu jener Eigentümlichkeit, die eine 50fache Wirkung von reiner Saccharose (Rüben- und Rohrzucker) hat.

In Europa erfolgt die Ernte vom Spätherbst bis zum Frühjahr, bevor der neue Austrieb beginnt. In dieser Zeit hat der Strauch sein Laub verloren, und es kommt bis zur nächsten Regenperiode zu einem Wachstumsstopp. Bei der Ernte wird mit der Hacke oder dem Pflug der Boden umgepflügt und die Wurzel mit der Egge eingesammelt. Hierzu sind zwei Varianten überliefert. Zum einen bleibt die Hauptpfahlwurzel stehen, und es kommen nur die Ausläufer zur Ernte. Die Erntehelfer schneiden die Stolonen mit dem Messer ab und ziehen sie mit der Hand aus der Erde heraus. Zum anderen sammeln die Helfer die ganzen Wurzeln mit den Ausläufern ein, schichten sie auf Haufen und lagern sie über Nacht. Anschließend werden die Ausläufer und Wurzeln gewaschen, geputzt und meist durch oberflächliches Abschaben von den Nebenwurzeln befreit. Flinke Arbeiterhände zerteilen dann die Wurzelstöcke in 10 cm lange Stücke, um sie in einer Mischung aus Sand und Erde über den Winter zu lagern, und im Frühjahr wieder einzupflanzen. Währenddessen kommen die Ausläufer entweder roh in den Handel oder werden zum Süßholzextrakt weiterverarbeitet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbrachten die Felder mit wildwachsenden Pflanzen einen durchschnittlichen Ernteertrag von 1000 kg Süßholz pro Hektar. Der Ertrag bei Süßholzkulturen lag sogar bei 5000 kg pro Hektar.


Abb. 4 Säubern und sortieren der frischgeernteten Wurzel (ca. 1900-1910)

Der erste Schritt vor der Weiterverarbeitung der angeschnittenen geernteten Wurzelausläufer ist der Trockenprozess an der Sonne oder in eigens eingerichteten Trockenräumen, um eine Schimmelbildung zu vermeiden. Nach der Trocknung werden die Ausläufer gewaschen, zerschnitten, in einer Mühle zerquetscht und anschließend mit Wasser ausgekocht. Der Kochprozess setzt auch die Kohlenstoffe frei, die dem Lakritz seine schwarzbraun bis schwarze Farbe verleihen. Anschließend wird der Sud ausgepresst, bis die Süßholzmasse vollkommen ausgelaugt ist. Nach dem einfachen Verfahren dampfen die Arbeiter den gewonnenen Saft in Kesseln unter fortwährendem Umrühren ein. Der Sud kann auch mehrmals durchgefiltert und aufgekocht werden, bevor er zur Lakritz-Masse reduziert wird. Darüber hinaus wird der Lakritz-Masse heute durch das Vakuumverfahren die Feuchtigkeit entzogen. Allgemein erhält man aus fünf Teilen frischer Wurzel einen Teil fertiger Ware – den Lakritz-Extrakt ›Succus Liquiritiae‹.

Aus dem Succus lassen sich die schwarzen Lakritz-Blöcke bzw. -Brote (5 kg schwere Quaderblöcke), Stangen oder Pastillen formen. Nach dem Trocknen auf hölzernen Platten werden die Blöcke und Stangen in Lorbeer eingewickelt, um Bruch und Feuchtigkeit zu vermeiden. Die Pastillen kommen in Dosen in den Handel.

Die Qualität des Succus lässt sich besonders gut an den Lakritz-Stangen überprüfen. Sie besitzen je nach Sorte verschiedene Durchmesser und verschiedene Längen (1-2,5 cm dick und 11-20 cm lang), sind schwarz, außen glatt und in der Wärme biegsam. Vollständig ausgetrocknet, lassen sie sich leicht zerbrechen. Die Bruchflächen sind dann muschelig, glänzend schwarz und zeigen einzelne Luftblasen.

Während die Stangen und Pastillen direkt als Endprodukt verzehrt werden, sind die Lakritz-Blöcke der Ausgangsstoff für die Süßwarenherstellung. Sie finden aber auch in der Tabak- und Pharmaindustrie ihre Verwendung. Blocklakritz hat etwa folgende Zusammensetzung: 18 % Wasser, 18 % Glycyrrhizin, 11 % Sacharide, 28 % Gummi und Stärke, 20 % Farb- und andere Extraktstoffe und 5 % Asche.15

Um das süße Weichlakritz herzustellen, werden diese harten, schwarzen Blöcke aus Süßholzsaft in heißem Wasser aufgelöst und anschließend mit den verschiedenen Zutaten vermischt. Dazu gehören Zucker (Saccharose, Invertzucker oder Rohrzuckermelasse), Mehl oder Stärke (Glucosesirup), Bindemittel (Gummiarabikum, Gelatine usw.), sowie geruchs- und geschmacksgebende Aromastoffe. Bei der Herstellung spielen noch die Temperatur der Verarbeitung (70-80° C bzw. 100-120° C), die Trocknungszeit und die Feuchtigkeit der Lakritz-Masse eine Rolle.16

Ein Unterscheidungsmerkmal zwischen der naturreinen, harten Lakritze und dem Weichlakritz ist der Glycyrrhizin-Gehalt, dem wichtigsten Inhalts- und Wirkstoff der Süßholzwurzel. Der Gycyrrhizin-Gehalt schwankt je nach Herkunft der unbearbeiteten Wurzel zwischen 6 und 25 %. Er liegt bei vakuumbearbeiteten Präparaten mit 20-25 % deutlich höher gegenüber einer Behandlung durch das Auskochen mit 10-15 %.

Bei naturreiner Lakritze beträgt der Gehalt an Glycyrrhizin also mindestens 6 %. Diese Form kann naturrein belassen oder aber mit Gummiarabikum, Stärke und Glucose angereichert und mit Minze, Anis, Veilchen und anderen Geschmacksnoten aromatisiert werden. Bei Weichlakritz beträgt der Glycyrrhizin-Gehalt mindestens 1 %. Darüber hinaus gibt es auch Süßigkeiten mit Lakritze, in denen der Süßholzsaft nur für den Geschmack verwendet wird.

Demnach ist der Inhalt nicht immer identisch mit dem, was die Verpackung verspricht. So wurde früher der reine Lakritzensaft in betrügerischer Absicht durch die Extrakte von Quecken, Löwenzahn, Zichorien, Schwefeleisen oder Tonerde verfälscht, oder das Süßholzpulver mit Mehl, pulverisierten Olivenkernen oder Curcuma versetzt. Abgesehen von diesen Eskapaden einiger gewinnsüchtiger Unternehmer war es weit verbreitet, den Succus mit Kirsch-, Pflaumen- und Aprikosenmus einzudicken, bevor daraus das süße Konfekt entstand.

2 Tradiertes Wissen – Im Fokus der antiken Wissenschaft

Ganz selbstverständlich führen wir heute das Süßholz in unserem Arzneischatz und genießen seine verspielte Variante – Lakritz. Dabei beruht unser Wissen auf jahrtausendalten Überlieferungen, die eine Transformation von der Wurzel zum süßen Konfekt erst möglich gemacht haben. Dieses Wissen gilt es nun aufzuspüren. Doch sind die Wege lang und weit, die der Spurensucher auf der Zeitskala zurücklegen muss, um Informationen über Lakritz zu erhaschen. Aus dem Lichtermeer der heutigen Zeit führen sie zurück zu einem gebündelten Lichtstrahl, der sich in kleine, flackernde Lichter auflöst. Solche flackernden Lichter sind die Quellen und Zeugnisse, die wir über die Süßholzwurzel aus der Zeit der Antike haben.

Einen frühen Hinweis auf die Glycyrrhiza gibt eine Passage des Hedammu-Mythos, nach dem die Göttin Ištar die Begierde der ›alles-verschlingenden‹ Schlange Hedammu nur durch Süßholz einzudämmen wusste.1 Erzählt wurde diese Geschichte von den Hethitern (ca. 1700-700 v. Chr.), einem kleinasiatischen Volk des Altertums. Andere Quellen benennen die Gesetzessammlung des babylonischen Königs Hammurabi (1728-1686 v. Chr.) als erste namentliche Erwähnung der Süßholzpflanze. Darüber hinaus verweist eine Drogenliste, die im assyrischen Mesopotamien (17. Jh-609 v. Chr.) auf der Tontafel URU.AN.NA eingeritzt wurde, im 12. Jahrhundert v. Chr. auf die assyrische Entsprechung für die Süßholzwurzel – Šūšu. Ebenso enthalten zwei Rezepte gegen Gelbsucht, wiederum auf assyrischen Tontafeln aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., Šūšu als Wortschöpfung. Danach vergehen weitere 400 Jahre, bevor die nächsten schriftlichen Zeugnisse datierbar sind, diesmal neben Asien auch in Europa.

 

In China wird die Wurzel als Heilmittel benannt, in Europa ist das antike Griechenland der Ort, an dem die Wurzel in Pflanzenbüchern beschrieben wird. Von Griechenland ausgehend, verdichten sich dann die Informationen über den medizinischen Gebrauch der Wurzel im Römischen Reich und verlieren sich nach dessen Untergang.

Diese Aufzählung nach Daten und Orten über die erste historische Erwähnung der Glycyrrhiza markieren Schnittpunkte in einem Koordinatensystem, das nicht nur Zeugnis von ihrer Existenz ablegt, sondern auch ihre Verwendung als medizinische Heilpflanze dokumentiert. Darüber hinaus enthalten sie Informationen über den Hintergrund jener Kulturkreise, die sie verwendeten.

Zunächst spiegeln die heutigen Informationen aber einen Wissensstand wieder, der auf einer langwierigen Erforschung beruht und einer solchen Benennung vorangeht. Dieser Forschungsprozess um den medizinischen Einsatz wirkungsvoller Pflanzen und ihrer richtigen Dosierung bestand anfangs aus kleinen, mühsamen Schritten. Es begann mit der Auswahl der richtigen Pflanze, die entweder als Ganzes oder in ihren Bestandteilen als Samen, Blüte, Blatt, Stiel oder Wurzel verwendet wurde. Dann ging es an die Verbesserung der Anwendung in unterschiedlichen Aggregatzuständen: roh, getrocknet, gekocht, gedörrt, gepresst, zerkleinert, als Pulver oder Saft.

Die erste Erfahrung mit den Wurzeln des Schmetterlingsblütlers, auf die sich die Entwicklung der Süßholzpflanze zur medizinischen Heilpflanze stützen konnte, reichen sehr wahrscheinlich noch in die Jäger- und Sammlerzeit zurück, als außer Früchten und Samen vor allem die Wurzeln zur Nahrung dienten. Hervorstechend war dabei vielleicht ihr süßlicher Geschmack, und auch die Wirkung bei Husten dürfte schon früh bemerkt worden sein. Ihre durststillende Eigenschaft könnte aber vor allem den wandernden Stämmen wichtig gewesen sein, die sie deshalb sammelten und getrocknet mit sich führten. Erst später gelangte die Wurzel dann in die Hände von weisen Frauen und Männern, die sie systematisch bei Krankheiten einsetzten.

Dieser langwierige Erfahrungsprozess zeigt sich noch heute an dem Beispiel zahnender Säuglinge, denen Wurzelstücke wegen ihrer antiseptischen und beruhigenden Wirkung in den Mund gelegt werden, damit sie dann genüsslich darauf herumkauen können. Auch die schmerzstillenden Tinkturen zum Einreiben der wunden Zahnflächen, die derzeit von Apothekern verabreicht werden, sind mit Süßholz verfeinert. Der Ursprung für eine solche Anwendung liegt aber tief verborgen in der Vergangenheit, wo er über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergereicht wurde, ohne die Wirkung zu hinterfragen. Einzig der Erfolg, darin erkennbar, dass die kreischenden Kinder für kurze Zeit still sind, bestätigt die Richtigkeit dieser Anwendung. Gleichzeitig ist es für viele die erste Begegnung mit Lakritz.

Seit dem Aufkommen von Schriftkulturen werden solche Erfahrungen auch schriftlich festgehalten und lassen sich dann frühestens auf den assyrischen Tontafeln entziffern, nach denen mit der Süßholzpflanze zur äußerlichen Anwendung medizinische Bäder zubereitet, mit ihren Blättern und Samen Bandagen und Verbände gegen Fußleiden, Schwellungen und Entzündungen im Genitalbereich bestrichen und mit der ausgekochten Wurzel Gelbsucht auskuriert werden konnten. Zur inneren Anwendung klein geschnitten und in Bier gegeben, half die Wurzel bei Husten, und ihr Sud war ein beliebtes Klistier. Darüber hinaus stand die babylonisch-assyrische Medizin im Dienst der Astrologie, wodurch die Glycyrrhiza einen magischen Platz erhielt, denn sie zählte zu einer der 51 Pflanzen, um einen Zauber zu entkräften. Zusätzlich bereicherte sie als Genussmittel neben Früchten und Nüssen jedes assyrische Festmahl.2

Von ebensolcher Vielfalt wie in Assyrien sind auch die Belege über die Anwendung der Süßholzpflanze (madhuka/yastimadhu) in Indien. Zwar gibt es in Indien selbst keine nennenswerten Süßholzpopulationen, doch wurde die Pflanze aus dem mesopotamischen Reich und den angrenzenden Regionen Pakistans und Afghanistans eingeführt. Bekannt ist sie in Indien aus den vedischen Texten des Chirurgen Susruta, die bis ins 6. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen sollen. In der Veterinärmedizin hat sie sich gegen Fieber bewährt und wird in der Humanmedizin als durststillendes Mittel, gegen Grippe und Magenbeschwerden eingesetzt. Den Menschen hilft sie auch als Gegengift gegen Schlangenbisse und ist ein Genussmittel, das den Liebeszauber entfacht.3

Der indische pharmazeutische Pflanzenschatz hat große Übereinstimmungen mit dem benachbarten chinesischen. Doch in China sind die Pflanzen in ein System der geschlossenen Ordnung eingebunden. Hier zeigt sich besonders deutlich die Entwicklung hin zu einem tradierten Wissen, das systematisch festgehalten wird. Es ist bestimmt von dem Drang des Menschen, das Leben nach Ordnungsprinzipien zu sortieren. Ein solches Prinzip ist in der chinesischen Heilmedizin die Unterteilung der Pflanzen nach bestimmten Klassen, ausgerichtet nach ihrer Wirkung.

Dies geht unter anderem aus einem der ältesten und bekanntesten Bücher über Ackerbau und Heilpflanzen in China hervor, dem Shen nung pen-ts’ao king aus der Han-Zeit.4 Das Buch ist in drei Bände unterteilt, die jeweils eine bestimmte Klasse von Drogen behandeln. So gibt es in der chinesischen Heilkunde ›Fürsten‹, ›Minister‹ und ›Agenten‹. Die Fürsten sind unschädlich und können nach Bedarf beliebig lange eingenommen werden. Die Minister sollen hingegen mit Bedacht verabreicht werden, während die Agenten giftig sind und nur angewendet werden sollten, wo sie wirklich indiziert sind. In diesem Ordnungssystem verweist gerade die Vielfalt, mit der einzelne Drogen zu Rezepten kombiniert werden, auf den hohen Wissensstand über Krankheiten und ihre Behandlung.

Die Süßholzwurzel (kan-ts’ao = Honig-Kraut) ist unter den Fürsten eine der wichtigsten Pflanzen. Eine gewisse ›Noblesse‹ ist ihr auch nicht abzusprechen, wenn wir die Illustration eines Arzneibuches aus der Shao-hsing-Periode (1159) betrachten.


Abb. 5 kan-ts’ao, Süßholzzeichnung der Shao-hsing-Periode (1159)

Das ältere ›Shen-nung pen-Ts’ao‹ rechnet sie bereits zu den lebensverlängernden und verjüngenden Drogen. Außerdem zählt sie neben Ingwer zu den Mitteln, die alle Gifte paralysieren und steht symbolisch für Stärke und Ausdauer. Sie wird geröstet, gedörrt, in Wasser oder Wein mit Ingwer geschmort oder gekocht. Darüber hinaus wird sie in Verbindung mit Ministern und Agenten eingesetzt: als ›aufbesserndes Mittel‹ bei ›Kälte des Magens‹, als ›regulierendes Mittel‹ bei Erbrechen, als ›schweißtreibendes Mittel‹ bei ›heißer Haut und innerer Kälte‹, als ›antidyspeptisches Mittel‹ bei Schweißausbrüchen, Völlegefühl und Erkältung, als ›pneuma-regulierendes Mittel‹ bei ›inneren Schädigungen durch übertriebenen Geschlechtsverkehr‹, ›Leere des männlichen Prinzips‹ und Erkältungskrankheiten, als ›windvertreibendes Mittel‹ bei Kopfschmerzen, getrübtem Blick, Nacken- und Rückensteifheit, Krämpfen, Verwirrtheit, Sprachstörungen, Gefühllosigkeit, Hitze, Frost, Wahnideen und Schlaganfall, als ›kältevertreibendes Mittel‹ bei unwillkürlichem Urinabgang mit mangelndem Durstgefühl, Erbrechen, Durchfall, Leibschmerzen, als ›hitzevertreibendes Mittel‹, als Husten-Mittel, als Mittel gegen Schwindsucht, Geschwülste, zur Geburtshilfe und Gynäkologie, bei Augenleiden und Gonorrhoe. Und dies sind nur einige Beispiele zur Anwendung von Süßholz in der chinesischen Heilkunde, die der Experte Franz Hübotter zu berichten weiß.5

Ein solcher Wissensschatz blieb natürlich nicht unentdeckt oder ließ sich hinter Mauern verbergen. Vielmehr hatte China mit seinen angrenzenden Ländern auch einen regen Wissensaustausch. Ein Indiz für diesen Transfer liefern die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern China und Indien. Dass dabei nicht nur mit Waren gehandelt wurde, deutet eine Legende an, wonach im Jahr 648 v. Chr. der Kaiser von China einen Gesandten nach Indien geschickt haben soll, welcher mit einem hinduistischen Gelehrten zusammentraf. Dieser erzählte dem Gesandten, er sei 200 Jahre alt und besitze ein Rezept für die Unsterblichkeit, woraufhin sofort nach Erhalt des Berichtes eine zweite chinesische Delegation abgeschickt wurde, um diesen ›Stein der Weisen‹ zu suchen.

Ebenso gab es enge Beziehungen zwischen dem assyrischen Reich und China, und auch Indien war eng mit dem mesopotamischen Assyrien und Persien verbunden. Hier wurden die Waren über den See- und Landweg hin- und hertransportiert. Jedoch gibt es keine Anhaltspunkte, dass zu dieser Zeit über weite Entfernungen auch mit der Süßholzwurzel ein Handel getrieben wurde. Was sich einerseits daraus erklären lässt, dass die Wurzel zwar leicht von Gewicht, aber als Gehölz sehr sperrig ist und viel Platz einnimmt, während der Ertrag nur gering ausfällt. Andererseits bestand auch keine Notwendigkeit, mit ihr Handel zu treiben, da zumindest China und Mesopotamien selbst über große Ressourcen des wild-wachsenden Schmetterlingsblütlers verfügten.

Einen Hinweis, dass es sich lediglich um einen Wissensaustausch handeln könnte, während die Pflanze auf eigenem Territorium wuchs und nur entdeckt werden musste, liefert die Bemerkung des griechischen Botanikers Theophrast von Eresos (372-288/7 v. Chr.), einem Zeitgenossen und Schüler des Aristoteles. Er hielt fest, dass die Skythen, ein Nomaden- und Reitervolk (9. Jh. v. Chr.-3. Jh. n. Chr.), auf ihren langen Reisen das Süßholz (Glykeia) als Reiseproviant mit sich führten:

»Süß ist auch die skythische Wurzel, ja sie wird von manchen geradezu Süßwurzel genannt. Sie wächst an der Maiotis [Asovsche Meer]. Sie ist gebräuchlich gegen Asthma, trockenen Husten und überhaupt bei Brustbeschwerden. Auch gegen Wunden wird sie mit Honig gegeben. Sie vermag auch den Durst zu stillen, wenn man sie im Munde hält. Daher sollen die Skythen mit derselben und Hippake [Ziegenmilch] elf bis zwölf Tage lang aushalten können.«6

Die Glycyrrhiza wächst tatsächlich auf dem ehemaligen Territorium der Skythen, das von den weiten südsibirischen Steppen über den Kaukasus bis zum Schwarzen Meer und dem Donaudelta reichte und dessen südliche Grenzen an China, Indien und Mesopotamien grenzten. Durch Eroberungszüge erstreckte sich ihr Gebiet zeitweise sogar bis nach Ägypten. Dass die Skythen auf ihren langen Strecken die Wurzel als Wegzehrung mit sich führten, sie hoch zu Ross oder auf dem Kamel genüsslich an ihrem Süßholz raspelten, könnte zur Nachahmung aufgefordert und zum Beispiel umherziehende Händler, die mit ihnen Kontakt hatten, veranlasst haben, die Süßholzwurzel ebenfalls als Reiseproviant in ihrem Gepäck zu führen.

Vor allem waren es aber Wissensreisende, die fremde Länder erkundeten und dort einen Wissensschatz aufnahmen, den sie in ihren eigenen Kulturbereich zurückbrachten. Einer dieser Reisenden war auch jener Theophrast von Eresos, der den Hinweis über die skythische Wurzel lieferte. Seine Kenntnisse von den exotischen Gewächsen hatte Theophrast weder vom Hörensagen noch aus anderen Schriften, sondern er stützte sich auf eigene Beobachtungen, die er auf seinen ausgedehnten Reisen machen konnte. Aufnahme fand dieses angesammelte Wissen im Lykeion (Scholarch) von Athen, einer von Aristoteles gegründeten philosophischen Schule, die unter seiner Leitung stand. Dem analytischen Anspruch dieser Schule folgend, sollten hier Phänomene wie Leben und Tod, Krankheit und Heilung erklärt werden.

Das Verdienst von Theophrast war nun, schon früh die Botanik systematisch zu erfassen, und die Herkunft von Pflanzen und ihre Anwendung zu beschreiben. In seinen Hauptwerken der ›Geschichte der Pflanzen‹ (Historia plantarum) und Ursachen derselben (De causis plantarum) sind über 500 Pflanzen (Arznei- und Giftpflanzen) verzeichnet, deren größter Bereich die Abhandlung über die Wurzeln und deren Säfte ausfüllt. Theophrast unterscheidet hier die Wurzeln nach ihrem Geschmack und Geruch: die einen schmecken scharf, bitter, die anderen mild, süß; die einen haben einen widerlichen, die anderen einen angenehmen Geruch. Während er das Einsammeln der Wurzeln zur Herbstzeit empfiehlt, wird der Saft aus der Wurzel entweder im Früh- oder im Hochsommer ausgezogen. Hierzu werden die Wurzeln zerrieben und mit Wasser zu einer dicken Brühe aufgekocht. Diese Richtlinien hatten lange Zeit auch für die Ernte und Weiterverarbeitung der Süßholzwurzel Gültigkeit.

Ein Handel mit der Süßholzwurzel nach Griechenland, wie er sich bei Theophrast andeutet, ist aber historisch nicht nachgewiesen. Er war hier ebenfalls nicht notwendig, da wilde Vorkommen der Pflanze an den Küsten des Schwarzen Meeres auf griechischem Territorium zu finden waren. Hierzu liefert uns Theophrast in seiner Beschreibung das wichtige Indiz: Das Süßholz gedeiht an der Maiotis, dem Asowschen Meer. Dieses Meer, angrenzend an das Schwarze Meer, wurde in Vorzeiten von den Skythen besiedelt.

 

An der benachbarten Nordküste des Schwarzen Meeres lebten die Pontos-Griechen, die verbrüdert mit den Hellenen waren, aber im Widerstreit mit den Skythen lagen und auch lange der Unterwerfung durch die Römer trotzten. Zu den hartnäckigsten Gegnern Roms zählte wiederum der König von Pontos, Mithridates VI. Euphator (136-63 v. Chr.), ein weiterer Zeuge der Süßholzpflanze. Dieser unbezwingbare Rivale der römischen Macht erlag zu seinen Lebzeiten der pharmazeutischen Kunst. Aus Angst, von seinen Feinden vergiftet zu werden, begründet durch seine Grausamkeit und seine heftige Leidenschaft, erprobte er an Sklaven, Verbrechern und Tieren alle ihm bekannten giftigen Substanzen, mit dem Ziel, ein allgemein wirksames Gegengift (Antidot) zu finden. Er selbst nahm täglich ein gewisses Quantum an Gift und Gegengift und gewöhnte sich dermaßen an den Gebrauch, dass er es im Augenblick seiner letzten Niederlage nicht vermochte, sich selbst mit einem geeigneten Gift zu töten. Insbesondere eines seiner Mittel, bestehend aus 54 verschiedenen Substanzen, zu denen auch die heimische Süßholzwurzel zählte, erlangte Weltruhm und wurde folglich nach ihm ›Mithridaticum‹ benannt.

In seiner pharmazeutischen Schöpfungskraft konnte sich Mithridates auf die Heilkunde der griechischen ›Empirischen Schule‹ berufen, nach deren Lehre alle verfügbaren Mittel zu Kompositionen (Mischungen) vereinigt wurden. Sie handelte gemäß dem Glauben, dass alles, was sich im Einzelfall bewährt, auch in gemengten Substanzen bei komplizierten Krankheiten und mit zahlreichen Symptomen helfe. Eine Spezialität aus dieser Zeit sind die Latwerge (Electuarium), bei denen gemischte Pflanzenpulver oder Pflanzenauszüge zu einer marmeladenartigen Masse aufgekocht und als Mus, Brei oder Paste verabreicht werden. Noch bis ins Mittelalter war Süßholz ein Bestandteil dieser Latwerge. Die Verwendung in Latwergen bewirkte jedoch, dass ihre Einzelwirkung lange Zeit unterschätzt wurde und sie nur in abenteuerlichen Kombinationen erhältlich war.

In der Antike zählten solche Kompositionen nicht nur zur geheimen Kunst des Arztes. Ihrer bemächtigten sich auch Feldherren und Herrscher, die schließlich, wenn schon im Leben versagt, als Namensgeber einer solch unnachahmlichen Mischung in die Weltgeschichte eingehen konnten und dadurch Unsterblichkeit erlangten. Die Kunstfertigkeit des Mithridates war jedoch bereits zu seinen Lebzeiten so berühmt, dass kurz nach seinem Hinscheiden der römische Feldherr Pompeius (106-48 v. Chr.) die Rezeptsammlung des König von Pontos übersetzen und als eine der Siegestrophäen nach Rom bringen ließ. In Rom wurde das Rezept ›Mithridaticum‹ von Andromachus (54-68 n. Chr.), dem Leibarzt Neros, korrigiert und die Anzahl der Substanzen auf 64 vermehrt. Neben Opium, Honig, Wein und dem Drüsensekret Bibergeil fügte er als wirksamste Kraft noch das Fleisch von frisch getöteten Vipern hinzu. Der Physiker Servilius Damocrates (1. Jh. n. Chr.) hielt die Herstellung dieses Trankes in Gedichtform fest und benennt in einer Verszeile das Süßholz: »Mische hinzu die gleiche Menge von schwarzer Süßholzwurzel mit ihren honigsüßen Zweigen«.7

Seine Komposition bezeichnete Andromachus als ›Theriak‹, und pries sie mit der Fähigkeit an, auch ›die widerwärtige, schweratmige Pest‹ zu heilen. Der ›Theriaca Andromachi‹ erlangte neben dem ›Mithridaticum‹ bis in die frühe Neuzeit als Universalheil- und Wundermittel eine hohe wirtschaftliche Bedeutung.8 Ein Umstand, der auch für die Geschichte des Lakritzes von Interesse ist. Denn die strikte Einhaltung des Rezeptes für diese ›Königin der Arzneimittel‹ machte die Süßholzwurzel für viele Jahrhunderte zu einem unabkömmlichen Bestandteil in den Regalen der Ärzte und Apotheker.


Abb. 6 Bestandteile des Theriak (1975)

Mit der Übernahme des medizinischen Heilschatzes des Königs von Pontos durch die feindlichen römischen Eroberer wird auch auf einen anderen Bereich hingewiesen, für den das Süßholz eine Bedeutung hatte – die Kriegsmedizin. Dass die süße Wurzel ebenfalls zu ihrem Kriegsproviant zählte, wird immer wieder von großen Armeen berichtet. Diese Tradition reichte bis in den I. Weltkrieg, als französische und türkische Soldaten mit Süßholzstangen ausgestattet waren.9 Früher sollen zunächst die Truppen Alexanders des Großen (356-323 v. Chr.), dann auch die römischen Soldaten die durstlöschende Wurzel als eiserne Ration im Tornister getragen haben. Dies sind jedoch Vermutungen, da zeitgenössische Berichte nirgends eine Mitteilung über den militärischen Gebrauch von Süßholz in der Antike aufweisen.10

Unbestritten ist jedoch, dass Alexander durch seine Feldzüge der griechischen Welt neue Handelsmöglichkeiten mit dem Orient eröffnete. Hierdurch gelangten exotische Substanzen aus Ägypten und Indien, wie Hyänengalle, Blut von Krokodilen oder Schildkröten, Kamelurin, gesprenkelte Echsenköpfe und dergleichen mehr, nach Griechenland. Zu seiner Zeit kommt die süße Wurzel in einem Rezept aus Makedonien vor. Das Antidot stellte der berühmte Chirurg und Pharmakologe Neilus um 320 v. Chr. für den Antipater zusammen. Die Überschrift »antidotus tyrannis dicta, ut Nilus Antipatris« lässt den Schluss zu, dass es sich bei dem Antipater um den Reichsverweser von Alexander dem Großen gehandelt habe, der 319 v. Chr. starb. Durch die Feldzüge Alexanders könnte die Pflanze auch in Ägypten bekannt geworden sein, wo inzwischen auch griechische Könige herrschten und Alexandria zum neuen Mittelpunkt des geistigen Lebens wurde. Jedenfalls mischte sich im 1. Jh. v. Chr. Mithridates von Pergamon (gest. 46 v. Chr.), der illegitime Sohn des Königs von Pontos und einer Konkubine, während des Alexandrinischen Krieges zwischen Julius Caesar und dem ägyptischen König Ptolemaios XIII., sein eigenes Antidot und griff dabei auf das Süßholz des Landes zurück.11

Auch für Rom bedurfte es keiner Einfuhr aus den weit entlegenen Regionen Chinas, Mesopotamiens oder der kaukasischen Steppe. Schließlich gehörte der gesamte Mittelmeerraum in seiner Blütezeit zum römischen Reich. Regionen mit einer natürlichen Population des Schmetterlingsblütlers Glycyrrhiza, wie Spanien, Südfrankreich, Syrien, Kilikien, Griechenland und die Küsten des Schwarzen Meeres waren Vasallenstaaten oder besetzte römische Gebiete. Demzufolge tauchte die Süßholzwurzel auch im römischen Arzneimittelschatz zu Beginn der Zeitrechnung auf.

Zunächst mussten die ersten medizinischen Schriften aber noch die Skeptiker über die Wirksamkeit von Medikamenten überzeugen. Dies gelang insbesondere dem Enzyklopädisten Aulus Cornelius Celsus (14-37 n. Chr.) aus Verona durch seine einfache Sprache. Die Behandlung einer Mandelentzündung mit der Wurzel (Radix dulcis) erklärt er folgendermaßen:

»Sind die Mandeln durch Entzündung angeschwollen, ohne dass Geschwüre dabei vorhanden sind, so muss man gleichfalls (d. h. wie bei Zahnschmerzen) den Kopf einhüllen und die kranke Seite äußerlich mit heißen Dämpfen bähen; der Kranke muss viel spazieren gehen, im Bette den Kopf hochlegen und mit zerteilenden Mitteln gurgeln. Dasselbe leistet auch die sogenannte süße Wurzel, nachdem man sie zerstoßen und in Rosinenwein oder Honigwein gekocht hat.«12

Doch schon sein vermeintlicher Schüler Scribonius Largus (1. Jh. n. Chr.) verfasste kompliziertere Rezepte, in denen mehrere Ingredienzien zu Pillen gedreht wurden. Die beiden Kompositionen mit Süßholz, einmal gegen Luftröhrenerkrankung (Rezept 75), zum anderen gegen Bluterguss (Rezept 86), werden zu Pastillen geformt und anschließend unter die Zunge gelegt oder in lauwarmem Wasser aufgelöst.13 In einem weiteren Sinne handelt es sich hier um die ersten Lakritz-Pastillen, die einem Kranken verabreicht wurden.