Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol: Kreuzberger Szenen

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Opfer der Gentrifizierung

Er sitzt auf einem der Betonklötze, mit denen die Stadt die Admiralbrücke verschönert hat und die seit einiger Zeit von jugendlichen Rucksacktouristen­schwärmen belagert werden. Seine grauen Haare, der Schnau­zer und seine akkurate, von Rentnern bevorzugte, in Beige-Tönen gehaltene C&A-Kleidung macht ihn auf dieser Brücke der schnatternden U-18-Jährigen suspekt.

Ich denke: Wenn sich solche Leute unter das Jungvolk mischen, ist das der Anfang vom Ende für das neue KOZ, wie das Kommunikationszentrum in den Kleinstädten in einer Mischung aus Frustration und Überdruss genannt wird, hier aber als spontaner Treffpunkt schon Fernsehen und Zeitungen beschäftigt hat und die Anwohner ebenso nervt wie den türkischen Billigbierverkäufer an der Ecke frohlocken lässt, denn er macht den Umsatz seines Lebens.

Der Mann in Beige sitzt einfach nur da und raucht. Und wenn er eine Zigarette ausgetreten hat, steckt er sich eine neue an. Das hat etwas Systematisches und Verlässliches an sich. Unter seinen Füßen hat sich eine beachtliche Sammlung von platten Stummeln angehäuft. »Überall nur Latte macchia­to. Was soll der Scheiß?«, hustet er kurzatmig.

Wie sich herausstellt, ist er ein Opfer der Gentrifizierung des Viertels. Als er vor dreißig Jahren nach der Arbeit mit gesteiftem Hemdkragen und einem Blazer aus dem Haus trat, konnte er einfach eine Kneipe ansteuern, um am Tresen kurz einen zu zwitschern. Und dann noch einen, und noch einen, bevor er leicht derangiert nach Hause wankte. Und heute? »Nur noch dieses Milchkaffeezeugs. Sieben verschiedene Sorten. Und Kuchenzeugs. Wer braucht das eigentlich? Reingehen und ein Bierchen zischen ist nicht mehr. Gibt hier einfach keine anständige Kneipe mehr.«

Ein Verlierer in der neuen schönen Welt auf der Admiralbrücke, ein Relikt, das der guten alten »Sorgenpause« nachtrauert. »Aber da ist ja jetzt ein Italiener drin«, sagt er verächtlich und zieht an einem weiteren kleinen Sargnagel.

Echte Balliner

»Ick hau dir in die Fresse, du dumme Fotze!«, dringt ein martialisches Brüllen in mein Schlafzimmer und weckt mich. Es dauert etwas, bis mein schlaftrunkenes Hirn sich langsam zu fragen beginnt, wer verdammt nochmal schon am frühen Morgen solche hier im Viertel doch eher selten zu hörenden, politisch unkorrekten Worte ausstößt. Es ist gerade mal zehn Uhr, und bis ich mich aus dem Bett gequält habe und zum Fenster gewankt bin, ist niemand mehr zu sehen. Die Straße liegt friedlich da, aber der Schein trügt, denn ich habe mich nicht verhört.

Gut, ich habe da so einen Verdacht. Im Nebenhaus wohnt nämlich Hartz IV. Er ist schon lange arbeitslos. Manchmal meldet es sich noch zu Wort. Dann aber eher unqualifiziert. Vor allem, wenn es sich mit seinem Hund unterhält. Es ist stark tätowiert, trägt einen Cowboyhut und Brille. Und es ist ein echter »Balliner«. Die sind hier im Viertel eher selten, aber wenn man welche sehen will, bietet das Prinzenbad eine gute Gelegenheit, und irgendwie ist es auch der richtige Ort, denn man muss vier Euro Eintritt zahlen, um sie besichtigen zu können. Ins Wasser gehen sie nie, jedenfalls habe ich sie dort noch nie gesichtet. Eines der seltenen Exemplare dieser Spezies hat einen hervorragend geformten Eierkopf, trägt Glatze, einen Schnurrbart, reichlich Tattoos – Adler, Drachen, Schlangen und so Zeug –, und aus der knappen Badehose ragen etwas zu dünn geratene Beinchen. Wie bei den anderen weist sein Körper eine tiefe Bräunung auf. Um den Hälsen hängen fette, glänzende Goldketten. Die kleine Gruppe sitzt immer auf der Terrasse und aalt und ölt sich. Und als ich an ihnen vorbei schlendere, sagt einer gerade: »Mann, wie die Zeit rast, wa?«

Auch eine üppige blonde Frau ist dabei. Früher waren es zwei. Eine fehlt. Sie war noch dunkler als die anderen, fast so dunkel wie eine Kastanie, und dann auch fast so schrumplig.

Goldkettchenjungs

Zwei Schwangere liegen in den Liegestühlen der »Goldmarie« und klagen sich ihr Leid. Die eine mosert: »Jeder starrt mir auf den Bauch, als ob er noch nie ne Schwangere gesehen hätte, dabei gibt es die hier doch im Dutzend.« Nur Berlin Mitte soll eine höhere Schwangerendichte haben. Hier rollen sie im Minutentakt an einem vorüber. »Und anfassen will auch jeder«, sagt die andere. »Das geht mir vielleicht auf die Eierstöcke.«

Puuuh, denke ich eingeschüchtert. Sonst denke ich lieber nichts. Ist vielleicht besser so. »Wenigstens schützt ein Bauch vor rassistischen Übergriffen«, sagt die eine wieder. »Hä?«, macht die andere. Drei gut durchtrainierte türkische Goldkettchenjungs aus der U18-Liga wären ihr über den Weg gelaufen, die nur auf ein Zwinkern lauerten, um ihr zu erklären, was Sache ist: »Was guckst du? Willste auf Fresse? Ich mach dich Urban, ey!« Aber dann hätten sie den Bauch bemerkt. Sofort wurden sie sanft und boten ihr sogar einen kleinen Welpen zum Kauf an, der um sie herumsprang. »Für 300 kannst du haben. Kann dein Kind mit spielen.« Auf dem Weg nach Hause beobachte ich, wie drei 16-jährige Kids mit unklarem migrantischen Hintergrund einer Frau hinterher pfeifen und ein paar testosterongesteuerte Anzüglichkeiten giggern. Die Frau dreht sich um. Sie ist hochschwanger, ihre Augen funkeln. »Oh, tut uns leid. Ham wir nicht gesehen. Viel Glück noch«, schnattern sie ehrlich erschrocken über ihren Fauxpas und verdrücken sich schnell. Aber nicht schnell genug, denn ich bin wie ein Schatten hinter ihnen und kriege noch mit: »Geiler Arsch, echt ey.« Aber sie haben den nächsten schon im Visier. Diesmal den von einer garantiert Nichtschwangeren. Das Spiel beginnt von neuem.

Zu Hause ruft mich Horst Tomayer an: »Sach-ma, mein Herzallerliebster, bist du libidinös zufrieden? Alles im grünen Bereich?«

Anraunzerei

»Hey, es ist nicht statthaft, hier ein Eis zu essen«, blökt uns eine ältere Frau mit einer Aldi-Plas­tiktüte vor der Eisdiele an, vor der es vor Eisschleckern nur so wimmelt und vor der auch spät abends noch Leute Schlange stehen. Die Frau hat offensichtlich nicht mehr alle Schweine im Rennen. Aber dieses »Es ist nicht statthaft« gefällt mir. Es passt so gar nicht in das Gezeter, das ihr pausenlos aus dem Mund quillt. Es deutet vielmehr auf intensiven Kontakt mit Behörden hin und hat sich wahrscheinlich auf diese Weise in ihren aktiven Wortschatz geschlichen.

Niemand kümmert sich um sie oder reagiert auf sie. Jeder geht ihr aus dem Weg, und jeder ist ein potentielles Opfer ihrer Anraunzerei. Einen Mangel an Opfern gibt es nicht, denn wir befinden uns auf der Admiralbrücke, auf der wie an jedem warmen Sommerabend eine Art Powwow stattfindet, ein Gelage mit jungen Rucksacktouristen aus verschiedenen Ländern, die alle auf die gleiche tolle Idee gekommen sind und eine Gitarre mitgebracht haben. Gegenüber der Dänin, die leicht entrückt an den Saiten ihrer Harfe herumzupft, sehen sie aber mit ihrer Gitarre echt alt aus. Leere Bierflaschen klirren übers Pflaster. Und über allem liegt the wall of Schnattersound, ab und zu durchbrochen vom lauten Gelächter einer türkischen Männergruppe. Die meisten verstehen die keifende Frau mit den wirren Haaren gar nicht, wenn sie durch die auf dem Pflaster sitzenden Hippies hindurchschlurft und sie anfaucht, was alles »nicht statthaft« ist, und es ist so ziemlich alles »nicht statthaft«.

Ich glaube, sie ist eine ehemalige Anwohnerin, die die penetrante Lärmsoße nicht mehr ausgehalten hat und ein Opfer der nervlichen Belas­tung wurde. Nun schleicht sie jeden Abend herum und führt ihr letztes Gefecht gegen die feindliche Invasion aus dem Ausland, das sie aber schon lange verloren hat.


Mikroökonomie

»Pfoten weg, du alte Schachtel«, scheucht der Mann mit dem schwarzen und nach hinten gegelten Haar die »alte Schachtel« weg, die die neben ihm akkurat aufgereihten leeren Bierflaschen einsammeln will, denn das ist sein Leergut, das ist das Geld für sein nächstes Pils. »Was du wollen mit die ganze Flasche leer? Du besser arbeiten«, gibt es ihm die »alte Schachtel« zurück, während der Mann mit orientalisch gemusterten Hosen, deren Schritt irgendwie kurdisch in der Kniekehle hängt, versucht, ihr auf den Hintern zu klopfen. Aber da er im Schneidersitz auf dem Boden hockt, ist er nicht beweglich genug. »Haust du endlich ab, du Blindschleiche«, legt er nach, weil die »Blindschleiche« weiterhin so tut, als wolle sie ihm die Flaschen vor der Nase wegschnappen. Sie kabbeln sich auf freundschaftliche Weise.

Aber es gibt auch den grantigen alten Muffel, der mit einer großen Ikea-Einkaufstüte unterwegs ist und dabei ahnungslose, über die Revierkämpfe nicht informierte neue Sammler angiftet. Sechs ältere, weißhaarige Frauen zähle ich, die über die Brücke streifen, seitdem sie zum Treffpunkt junger Touris geworden ist, für die es das Größte ist, ganze Nächte damit zuzubringen, auf dem Bordstein oder am Brückengelände zu sitzen und zu trinken.

Sie haben eine Art Mikroökonomie ins Leben gerufen, oder vielleicht besser Elendsökonomie. Zu den Flaschensammlern hat sich auch eine Cocktailmixerin gesellt. Sie hat eine kleine Kühlbox dabei und ein wackliges Beistelltischchen, ist mit Minze, Zitrone und crushed ice rudimentär mit Beilagen ausgestattet, und schüttelt in Plas­tikbechern etwas zurecht, das Mojito sein soll. Ich probiere es lieber nicht. So risikofreudig bin ich auch wieder nicht.

Fünfzig Meter weiter in der Admiralstraße brennt ein Auto. Eine Art neuer Freizeitgestaltung Berliner Jugendlicher, die mit dem Herumlungern auf der Brücke nicht so richtig ausgelas­tet sind. Polizei rennt über die Brücke zum Tatort, Feuerwehr lalüt um die Kurve.

Die Frau rührt ungerührt zwei Flüssigkeiten zusammen und bewegt ganz professionell zwei ineinandergesteckte Plastikbecher rhythmisch über der Schulter. Leider setzt sich ihre Geschäftsidee nicht durch, denn die jugendlichen Herumlungerer bleiben beim Billigbier. Autos aber werden weiterhin abgefackelt.

 

Terrorismus

Der Reporter der heute-Nachrichten berichtet live aus Mallorca über den Anschlag der ETA, bei dem zwei Polizisten in die Luft gesprengt wurden. Die Kamera zoomt auf ein paar schaulustige Touristen mit Schlabbershorts, die breitbeinig herumstehen und glotzen. Man sieht sie von hinten, und ich frage mich, ob der Kameramann mit dieser Einstellung womöglich ein bisschen Sabotage betreibt. Und auch der Reporter scheint etwas verwirrt: »Eine deutsche ... äh, deutliche Absage an den Terrorismus.«

Ich denke, mal gucken, wie es in Berlin mit der deutschen ... äh, deutlichen Absage an den Terrorismus aussieht. Nadja und ich fahren mit dem Auto zum Spandauer Damm, wo die Hells Angels wohnen. Seit ein Anführer ein Messer in den Rücken bekommen hat und einem anderen fast ein Bein abgehackt wurde, sind die Hells Angels wieder zum Staatsfeind Nr. 1 aufgestiegen.

Vor dem Charlottenburger Schloss großer Empfang. Die Straße wird einspurig. Das Empfangskomitee trägt MP, guckt irgendwie gelangweilt, ist olivgrün und für die hochsommerlichen Temperaturen viel zu warm gekleidet. Autofahrer mit Glatze oder sonstwie gefährlich aussehend werden herausgewunken und erschossen. Obwohl ich meine gefährlich aussehende Sonnenbrille aufhabe, darf ich weiterfahren. 200 Meter weiter wieder Kontrolle mit Nagelbett, das aber nur ausgerollt wird für den Fall, dass jemand ausbüchsen will. Einen Hells Angel kann ich nicht entde­cken, und das liegt nicht an meiner Sonnenbrille, wie mir Nadja bestätigt.

Wir fahren zurück nach Kreuzberg. Da ist mehr los. Auf der Admiralbrücke schreit ein Admiralbrückendjango »Ich fick deine Mutter!« und tritt einen harmlosen Hippie, der sich aufs Pflaster langgelegt hat. Ein paar Leute zerren ihn weg. »Den sollte man nach Mallorca abschieben«, schlage ich vor. Nadja hat eine bessere Idee: »Zwei Hells Angels engagieren. Einfach nur zum Rumlungern und zum Einschüchtern.«

Geburtstagsparty

Luggi Lugmeier hat im »Froschkönig« zu seinem 60. Geburtstag geladen. Und wenn ein ehemaliger Geldtransportüberfaller einlädt, dann kommt man besser. Ich überlege, ob ich ihm eine aus Seife geschnitzte und mit schwarzer Schuhcreme eingeriebene Pumpgun schenken soll, denn eine Zeit lang war das ja der Hit bei Ausbrechern. Aber damit käme ich jetzt ein bisschen zu spät, denn Luggis letzter Geldtransport liegt schon über dreißig Jahre zurück. Außerdem geht schwarze Schuhcreme ganz schlecht wieder ab. Da kann man dann gleich seine Fingerabdrücke bei der Polizei hinterlassen.

Dann fiel mir noch ein, dass es juristisch gesehen keinen Unterschied macht, ob man mit einem Stück Seife eine Bank überfällt oder mit einer echten Knarre. Das wusste ich von einem Freund, der das auch nicht wusste und sich vorher auch nicht informiert hatte, und dann war es zu spät und das Gericht verknackte ihn zu sechs Jahren für einmal in die Bank gehen und »Zaster her!«-Rufen. Weil aber niemand auf seine Spielzeugpis­tole reinfiel, wurde er auf der Stelle eingesackt. Nadja findet das total ungerecht.

Ich schenke dem Ex-Geldtransportüberfaller eine Flasche Wein, ein Buch und eine CD. Darauf schreibe ich jeweils: »Guter Wein«, »Gutes Buch« und »Gute Musik«. Ich denke, es wäre vielleicht nicht schlecht, dies extra zu erwähnen, weil die anderen wahrscheinlich auch Wein, Musik und Bücher schenken. Und da will man sich ja schon ein bisschen von abheben.

Er kriegt dann aber einen Freisprung aus 4000 Metern Höhe. Ich glaube mit Fallschirm, obwohl das nicht extra erwähnt wurde. Schließlich wird noch eine Arie und ein sehr ergreifendes norddeutsches Heimatlied gesungen und die anarchis­tische Besäufniskomödie »Der Firmling« mit Karl Valentin gezeigt, der innerhalb von fünf Minuten in einer Gaststätte ein totales Chaos anzettelt. Das bleibt dann aber aus.

Baumpatenschaft

Jeden sonnigen Sommermorgen fahre ich auf dem Weg ins Prinzenbad beim Urbanhafen an einem alten Baum mit mächtiger Krone vorbei, der am leicht abschüssigen Hang hin zum Kanal sich dagegen zu stemmen scheint, ins Wasser zu kippen. Das ist jetzt noch nicht so interessant, höchstens für © TOMs Naturtante, die hingebungsvoll Bäume umarmt.

Um diesen Baum herum tut sich jedoch Seltsames. Es sieht ein wenig aus wie eine Kunstinstallation, könnte aber auch einfach nur liebevoll arrangierter Müll sein.

Sobald in einem öffentlichen Raum private Gegenstände herumliegen, habe ich eine instinktive Scheu nahezutreten, aber dann wage ich es doch. Auf den aus dem Boden ragenden Wurzeln liegen Plastikplanen, ich entdecke eine Kronkorkensammlung, eine rote Paprikaschote, verwelkte Blumen, Einkaufstüten von Plus, Plastikschachteln, Besteck, Lametta und andere Dinge, die man an diesem Ort nicht unbedingt vermuten würde.

»Interessierste dich für dette hier?«, fragt ein Mann mit verwuschelten Haaren, der sich unbemerkt genähert hat. Er sieht nicht wie jemand aus, der einem unbedingt ein Ohr abkauen will. Er erklärt mir, dass der Baum unter seinem besonderen Schutz stehe. Er hätte viel zu leiden gehabt, weil sich »Palästinenser oder Araber, det weeß ich jetzt nicht so genau«, an seinen Wurzeln gerieben hätten, und deshalb würde er sie mit einer Plane schützen, damit sie sich wieder erholen könnten, denn sonst würde der Baum seine Orientierung verlieren. Ich nicke andächtig.

Er sagt das ohne missionarischen Eifer, eher professionell. Am Ende der Führung sagt er: »Siehst ja nicht aus wie diese abgestandenen Leute sonst hier, wa. Biste von der Presse? Artikel sind mir egal, aber wenn du Mercedes für ne Patenschaft gewinnen könntest, da würde ich nicht nein sagen.«

Notaufnahme

Manche sitzen in der Notaufnahme, um Kasse oder Privat zu raten und eine Ferndiagnose zu stellen. Wie z.B. der zu einem Mann umgebaute Schriftsteller Simon Borowiak. Eigenartiges Hobby, aber auch nicht eigenartiger als inmitten nackter Menschenmassen in der Sonne zu braten. Borowiak hat große Erfahrungen in der Elendsforschung gesammelt und ist ein Fachmann. Aber manchmal ist das selbst für einen Laien wie mich gar nicht schwer.

Kasse, wenn überhaupt, und gaga vermute ich, als ein Mann in leicht verwahrlostem Zustand und flatternden Hosenbeinen durchs Wartezimmer der Notaufnahme des Urban-Krankenhauses schlurft und mir als einzig Anwesendem mit finsterem Gesicht und wie eine aufgebrachte Furie zuzischt, wer alles ein »verfickter Arsch« sei, dabei kenne ich gar keinen von den verfickten Ärschen.

Und das liegt nicht an den 40 Grad Fieber, mit denen ich mich in die Notaufnahme geschleppt habe, wo ich im Gang abgestellt werde. »Keine Papiere?«, fragt ein Pfleger. Er meint nicht mich, sondern eine Samariterin, die einen Delirium Tremens angeliefert hat. »Kannste gleich wieder mitnehmen. Wir haben hier schon einen polnischen Alkoholkranken.« Dann gerate ich in sein Blickfeld. Er guckt kurz in mein schmales Krankendossier. Theatralisch ruft er aus: »Warum bringt ihr mir nicht mal so einen vorbildlichen Kranken?«

Ich bin viel zu sehr mit Schwitzen und Zähneklappern beschäftigt, als mich geschmeichelt zu fühlen. Immerhin werde ich in ein Behandlungszimmer abgeschoben, dort allerdings vergessen. »Wie heißen Sie? Ihr Name? Machen Sie die Augen auf? Hören Sie mich?«, höre ich eine Schwester laut auf den polnischen Alkoholkranken einteufeln. Keine Reaktion. Sie gibt auf. Ich sehe die Füße des polnischen Alkoholkranken. Sie zucken.

Schön wie das Zittern der Füße eines Alkoholikers, rauscht mir ein leicht abgewandeltes Zitat vom Comte de Lautréamont durch den Kopf. Dann lasse ich die Rollos runter.

Jugendbanden

In der Umkleidekabine des Spreewaldbades treffe ich auf fünfzehn Halbstarke mit arabischem Migrationshintergrund und mit Oberwasser. Auf einem Haufen sind Pubertierende nie ein schöner Anblick, in diesem Fall ist die Sache besonders haarig, denn nach dem Prinzip »Gemeinsam sind wir unausstehlich« brüllen sie, was ihre Kehlen hergeben, was nicht wenig ist, und schlagen mit den flachen Händen rhythmisch auf die dünnen Pressspanzwischenwände der Umkleidekabinen. Kein Bademeister lässt sich blicken. Ich allein gegen eine halbnackte, randalierende Meute, die skandiert: »Tod den Juden! Tod den Juden!«

Schöne Scheiße. Ich tue so, als ob ich gar nicht da wäre, nichts höre und sehe schon gar nicht, was mir sogar gelingt, denn ich werde nicht be­läs­tigt, aber ich wünschte, mein alter Kumpel Eddy wäre hier. Ein Brocken von einem Mann. Nicht ganz so groß wie das Empire State Building, hätte er alle in eine Flasche gestopft und sie der Strömung eines reißenden Gebirgsflusses überlassen. Jedenfalls, wenn ich ihm gut zugeredet hätte.

Er hat mir mal einen vergilbten Zeitungsausschnitt gezeigt: »Jugendbande überfällt Polizeirevier. Fünf Beamte schwer verletzt im Krankenhaus.« Mit seiner riesigen Pranke deutete er darauf und meinte: »Ich habs gemacht. Solo!« Ich guckte ihn an wie ein Schwachsinniger. »Na, ist das nichts?« »Doch«, sagte ich.

Er wanderte dann nach Kanada aus, um Gras über die Sache wachsen zu lassen, wurde Holzfäller, und als er genügend Geld zusammenhatte, kam er zurück und lebt seither von seinen Ersparnissen.

Den Rest ihres Lebens hätten die Jungs lieber mit einem tollwütigen Hund in einem Wandschrank zugebracht, als noch einmal Eddy zu begegnen und an der Bodenleiste entlangzukriechen wie Fliegen, denen man die Flügel ausgerupft hat. Manchmal hilft eben nur Wunschdenken, um über die eine oder andere Demütigung hinwegzukommen, in die einen Leute wie in einen Scheißhaufen tunken, den sie im Kopf haben, wo sich sonst nichts anderes befindet.

Wirtschaftswunder

»Martini zu jeder Gelegenheit«, lockt ein Schild im »Wirtschaftswunder«. Da kann ich nun wirklich nicht widerstehen und trete ein. Das »Wirtschaftswunder« befindet sich in der Yorckstraße neben dem Yorck-Kino. Jeder kennt es, nur ich habe mich noch nie hierher verirrt, obwohl ich nicht sooo weit weg wohne. Dreiundzwanzig Jahre gibt es das »Wirtschaftswunder« schon, das ist selbst für ein Wirtschaftswunder eine lange Zeit. Bratenfettdunst hängt schwer wie aufdringliches Egoïste in der Luft.

»Nirgends sonst auf der Welt könnten Restaurants, die so nach Fritten stinken, auch nur vierzehn Tage überleben«, merkte Harry Rowohlt mal über den Geruchssinn der Deutschen an, wobei das »Wirtschaftswunder« natürlich kein Restaurant ist, weshalb es eigentlich umso verwunderlicher ist, dass es nach altem Fett riecht. Aber vielleicht steht deshalb die Tür offen. Aus den Boxen hämmert harter Postpunk. Ein Refrain wird gerade gnadenlos zu Tode geritten. Es ist kalt und ungemütlich auf den Fünfzigerjahreeisdielenaluminiumstühlen.

Keine Ahnung, warum es mich hierher verschlagen hat. Okay, das Versprechen auf einen »Martini zu jeder Gelegenheit«, klar. Aber eigentlich war ich auf der Suche nach einem ruhigen, warmen und romantischen Café mit einem Pinguin als Ober, und das ist ja wohl das genaue Gegenteil von dem, was ich hier vorfinde. Bin ich ein Spielball mir unbekannter Gelüste, die geputscht und die Kommandozentrale meines Hirns übernommen haben? Aber vielleicht gibt es dieses Café, das ich suche, gar nicht, jedenfalls nicht in Kreuzberg, weil es in meiner Vorstellung immer so aussieht wie das Kaffeehaus Prückl in Wien.

Blaue Stunde. Ich bestelle einen Martini. Die Bedienung im gemusterten Kapuzenshirt guckt unsicher. Sie fragt mich, ob mir der Martini schmeckt. Ich komme mir vor wie ein Versuchskaninchen. Dann lese ich in Robert Menasses neuem Erzählband, weil ich nicht die ganze Zeit auf die großen Comic-Gemälde an der Wand starren will, die nach einem schlechten Seyfried aussehen, also so wie das letzte Wahlplakat von Ströbele.

Die Geschichte handelt vom Erfinder des Parfüms Egoïste. Ich trinke noch einen Martini. Die Stones klagen, dass sie keine Befriedigung kriegen können, und die Beatles raten, es gleich zu lassen. Bratenfettduft wabert weiter durch die Kälte.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?