Za darmo

Erzählungen

Tekst
Autor:
0
Recenzje
iOSAndroidWindows Phone
Gdzie wysłać link do aplikacji?
Nie zamykaj tego okna, dopóki nie wprowadzisz kodu na urządzeniu mobilnym
Ponów próbęLink został wysłany

Na prośbę właściciela praw autorskich ta książka nie jest dostępna do pobrania jako plik.

Można ją jednak przeczytać w naszych aplikacjach mobilnych (nawet bez połączenia z internetem) oraz online w witrynie LitRes.

Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Professor Runkel

Sowie es klingelte, riß Professor Runkel die Tür auf und stand mit einem Ruck in der Klasse.

»Asseyez-vous.«

Die Stuhlklappen polterten donnernd nieder. – Dann atemlose Stille. »Primus.« – Der schoß erschreckt in die Höhe. »Wie kann es noch heißen?« Professor Runkel rollte die Augen, daß man nur das Weiße sah. Der kleine Jude auf der letzten Bank begann zu kichern, leise, verstohlen. Zur größeren Vorsicht kroch er hinter den breiten Rücken seines dicken Vordermannes.

»Assoiyez-vous«, stotterte der Primus und machte seinen berühmten devoten Augenaufschlag.

Arnold Bubenreuther, als er ihn ansah, schüttelte sich vor Ekel. – Runkel stülpte seinen schwarzen Schlapphut mit der riesigen Krempe auf den Kleiderhalter und zog seinen grünen Lodenmantel aus. Unter dem Lodenmantel kam noch ein schwarzer, halbwollener Sommerpaletot zum Vorschein.

Die Klasse hielt sich mucksstill.

Arnold Bubenreuther blickte zum Fenster hinaus. Er sah nichts als ein Stück heißblauen Sommerhimmels, in dem die verkrüppelte und verstäubte Krone eines Kastanienbaumes hing.

Runkel entledigte sich des zweiten Mantels und stürmte auf das Katheder. Den Kopf mit der buschigen Mähne nach hinten gestreckt, saß er da und zerrte an den beiden Enden seines braunen Vollbartes.

»Wer hat das Fenster aufgelassen?« schrie er plötzlich.

»Ich werde den Betreffenden gleich zum Fenster raushalten. Zum Teufel, Sie wissen, seit mich in dem verfluchten Kriege die verfluchte Kanonenkugel in den verfluchten Schenkel getroffen, kann ich keinen Zug vertragen. – Sie, schließen Sie das Fenster.«

Irgendeiner schob den Riegel zu. Die Klasse duckte sich murrend. Nun konnte man wieder eine geschlagene Stunde in dieser muffigen Luft hocken, nur weil es diesem Kerl da oben so gefiel.

Runkel schlug das Klassenbuch auf. Als ob er nicht genau sehe, brachte er die rechte Hand vors Auge und drehte mit der andern das Buch herum.

»Ordnungsschüler«, brüllte er.

Der kleine, schüchterne Penschke ging mit unsicheren Schritten vors Katheder.

»Was haben Sie denn für eine Sauschrift? Da soll es doch gleich Bauernjungen oder Holzklöppel regnen! Das geht doch über die grasenden Mitternachtsnächte mit ultravioletten Schatten! Verflucht, wer kann das lesen? Ist das Siamesisch? Arabisch? So herum? Wie herum?«

Der kleine Penschke war dem Weinen nahe.

Bubenreuther scharrte mit den Stiefeln.

»Bubenreuther«, Runkel schnellte wie der Teufel des Kinderspielzeugs aus der Kiste, die das Katheder darstellte, empor. »Sie denken wohl, ich sehe Sie nicht? Ich werde Sie an der Busenkrause nehmen und mit drei Stunden Arrest zum Tempel rausschmeißen. Darauf können Sie Gift, darauf können Sie Blausäure nehmen. – Penschke, setzen Sie sich, Bubenreuther, die Lektüre, lesen Sie, wir sind Seite …?«

»Zweiundsechzig, Herr Professor«, klang es unisono.

»Was, Fessor, Fessor? Das ist ja teuflisch! Nennen Sie mich meinetwegen Herr Gelehrter, meinetwegen Heinrich, aber nicht dies gottverdammte Professor. – Bubenreuther, Sie Schacher, lesen Sie.«

Bubenreuther las: »Nous avions perdu Gross-Goerschen; mais cette fois, entre Klein-Goerschen et Rahna, l'affaire allait encore devenir plus terrible …«

Runkel fauchte und biß auf die Unterlippe, daß sein Bart wie eine borstige Wand dastand: »Kein Franzose sagt avions, es heißt a-wü-ong, die zweite Silbe kurz: a-wüong. Lesen Sie weiter.«

Bubenreuther las und übersetzte leidlich. Runkel klopfte ihm auf die Schulter: »Da soll der Teufel dem Eosinschwein das Licht halten: der fürnehme Baron von Bubenreuther hat mal präpariert. – Fahren Sie fort, Schulz.«

Schulz konnte vor Angst kaum das Buch in den zittrigen Händen halten. Er trug eine Brille, war blaß, dumm und sehr fleißig. Runkel ärgerte ihn mit Vorliebe, gab ihm aber nachher bei der Zensur, weil er ihm nie Widerstand entgegensetzte, immer »genügend«.

»Schulz«, schrie er ihn an, »Sie sind wohl vom Affen frisiert. Ich habe mit Ihnen erst noch was zu besprechen – von gestern, ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen, um nicht zu sagen einen Hahn. Habe ich Ihnen nicht verboten, mich zu grüßen, wenn Sie mit Ihren Eltern auf der Straße gehen? Weshalb haben Sie mich gegrüßt? Damit die Leute mich anglotzen und sagen: ›Da läuft wieder der tolle Runkel‹, he, was?«

Die Klasse verbiß sich mit Mühe das Lachen. Aber lachen durfte niemand. Wer herausplatzte, flog unweigerlich in Arrest.

Draußen klopfte es leise.

Runkel fuhr herum: »Das ist doch, um mit der Jungfrau zur Decke zu fahren: wer stört den Unterricht? Es ist sowieso bald voll, und man kommt zu nichts. Primus, sehen Sie nach.«

Der Primus öffnete die Tür und ließ den Schuldiener ein, welcher Runkel ein Heft und einen Bleistift überreichte.

»Es ist von wegen Hitzeferien«, sagte er und plinkte zu den Jungens herüber.

Mit einem Schlage spielte um alle verdrossenen, müden Gesichter ein seliges Lächeln.

»Gott sei Dank.« Bubenreuther atmete es leise vor sich hin.

»Mein lieber Bubenreuther«, Runkel war heute gnädiger Laune, »mäßigen Sie sich. Hitzeferien? Es ist zum Wahnsinnigwerden, Hitzeferien bei dieser Kälte. Ich friere immer – immer. Sehen Sie meine beiden Paletots. Einen Pelz könnte ich vertragen.«

Der Schuldiener klingelte. Es war also heute die letzte Stunde.

»Präparieren vierundsechzig und fünfundsechzig. Unsern Ausgang segne Gott. Penschke wird die Aufgaben erst ins Klassenbuch schreiben. Amen …«

Runkel tobte durch die Straßen, den Schlapphut in die Stirn gedrückt.

»Wieder einmal erlöst von den verdammten Bengels – sie wissen es nicht, was für eine Mühe es mir macht, der zu sein, der ich bin … Du lieber Gott, du lieber Gott … wenn ich sie nicht piesacke, piesacken sie mich – wie kann ich sie sonst meiner Überlegenheit versichern, ich muß sie unter die Knute nehmen, sonst glauben sie's nicht. Und ich bin ihnen überlegen … wenn ich's diesem Bubenreuther nur geben könnte. Er hat ein impertinentes Gesicht.«

Bubenreuther ging mit zwei kleineren Schülern an ihm vorbei. Runkel schwenkte ironisch lächelnd zuerst seinen Hut: »Morgen, Morgen – sind das Ihre Brüder, lieber Freund?«

Bubenreuther beantwortete die Frage, während er sich ein wenig rückwärts wandte: »Nein, Herr Gelehrter.« Dann lüftete er seine Mütze.

»Pardon«, schnarrte Runkel, »Pardon.«

Wenn ich ihn nur erwischen könnte, dachte Runkel. –

Nach knappen zehn Minuten hielt er vor einem Eckhaus. Er rückte den Hut zurecht und putzte sich den Kneifer. Es schien, als ob er die eine Straße heruntersehe, nach dem Fabrikschornstein oder der Kirchturmspitze, oder in die andere Straße hinein, die schon auf freies Feld führte: im Hintergrund verlief sich ein bläulich-blasser Hügelzug in dunstige Wolken. Es schien nur so. In Wahrheit schielte er nach dem zweiten Stockwerk des Eckhauses hinauf.

Würde sie wissen, daß er heute um elf Uhr frei wäre? Würde sie überhaupt da sein? Wenn sie den Thermometer nachgesehen hätte, hätte sie sehen müssen, daß es Hitzeferien geben würde.

In einem Fenster des zweiten Stockes verschob sich eine gelbe Tüllgardine. Wenig später – und aus dem Haustor trat ein schwarzseidnes, ältliches Fräulein, das einen Pompadour überm Arm trug und sich eben die Handschuhe zuknöpfte.

Runkel grüßte sehr galant, seine Bewegungen verloren auf einmal das Eckige, Groteske.

»Sehen Sie, Herr Professor«, lächelte sie, »das hab ich mir gedacht. Da werden Sie und Ihre Jungen froh sein. – Es liegt aber auch ein Gewitter in der Luft«, fügte sie hinzu und zeigte mit dem Sonnenschirm auf den trüben Horizont.

»Wohin geht es nun – in den Stadtpark oder übers Feld nach Gerbersau?«

»Nach Gerbersau, sobald es Ihnen genehm ist«, sagte Runkel mit vollendeter Höflichkeit. Jeder Gedanke an Stadt und Gymnasium berührte ihn heute unangenehm. Er könnte allen möglichen Schülern begegnen …

»Der Weg unter den Pappeln ist schattig, und der Wald nachher bei der Hitze kühl und wohlig«, suchte er sie zu bestechen.

»Nanu, wo bleibt Ihr frostiges Gemüt, lieber Professor, frieren Sie ausnahmsweise nicht? – Aber gut, Gerbersau sei die Parole«, pflichtete sie bei.

Sie setzten sich langsam in Bewegung.

Runkel war sehr einsilbig.

Ich hätte sie früher heiraten können. Verflucht, warum habe ich es nicht getan?

Das Fräulein plauderte viel und lustig: von der Verlobung Ella Munkers mit Leutnant Beckey und daß sie beide kein Geld hätten und er wahrscheinlich Polizeioffizier werden müßte, wenn sie sich überhaupt einmal heiraten wollten … von der Fleischteuerung, dem »Barbier von Sevilla« und den letzten Reichstagswahlen – sie trieb Politik mit Leidenschaft. Runkel hörte mit halbem Ohre zu. Er sah von ferne sich eine Gestalt nähern, die ihm bekannt vorkam.

Er wurde unruhig und wollte durchaus umkehren.

»Aber weshalb, lieber Professor«, lachte das Fräulein, »wir werden doch nichts Halbes tun.«

Der Professor stand eine quälende Angst aus. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. –

Arnold Bubenreuther grüßte höflich, als er dem Paare begegnete. Runkel vergaß ganz wiederzugrüßen – in seinem Erstaunen. Diesmal vergaß er es wirklich ohne Absicht.

»War das nicht der junge Bubenreuther?« fragte das Fräulein.

Runkel überhörte die leise Frage.

Wo hat dieser Bubenreuther nur sein ironisches Gesicht gelassen? dachte er erregt, er steckt es doch sonst alle Augenblicke auf? Und seltsam, ich weiß genau, er wird von dieser Begegnung der Klasse nichts erzählen. Warum? Hat er – Mitleid mit mir?

Runkel schnitt ein böses Gesicht, daß das Fräulein erschreckt stehenblieb.

»Was haben Sie denn, Professor?«

»Nichts, liebes Fräulein«, Runkel lächelte grimmig, »ich glaube, die Schüler halten hier draußen in Gerbersau ihre verbotenen Kneipereien ab. Man müßte ihnen das Handwerk legen.«

 

Insgeheim dachte er: Der Bubenreuther, dieser – Hund hat Mitleid mit mir. Er erfrecht sich, Mitleid mit mir zu haben. Wenn ich ihn nur fassen könnte …

Weibertreu

Meine Damen, ich hoffe, Sie werden mir die kleine Geschichte nicht übelnehmen, die ich Ihnen hier erzähle: denn sie ist ziemlich leichtfertig. Aber ich möchte Ihnen zur Beruhigung mitteilen, daß Sie sich im fernen Indien zugetragen hat. In Europa gilt, wie allgemein bekannt, die Ehe als Sakrament, und noch nie hat in Europa eine Frau ihrem Gatten die Ehe gebrochen. – – – Es war einmal ein Herr namens Viradhara und eine Dame namens Kamadamini. Letztere war ein junges, zartes und fröhliches Geschöpf, während ihr Gatte Viradhara bereits jenes Alter erreicht hatte, von dem es im indischen Sprichwort heißt: »Ein alter Esel zieht nicht mehr«. Kamadamini fand nun, daß es noch genug junge Esel gebe, die ihren kleinen Korbwagen gerne ziehen möchten, sofern sie sie nur einspanne. Solches tat Kamadamini und geriet in einen Ruf, der selbst bis zu ihrem alten Gatten drang. Der Gatte ward auf das heftigste bestürzt, als er solches vernahm, schwieg aber still und beschloß bei sich, sein Weibchen auf die Probe zu stellen. Er sprach eines Tages zu ihr: »Meine zärtliche Taube möge verzeihen, wenn ich sie einige Tage allein lasse, denn ich habe in Geschäften eine längere Reise anzutreten« – küßte sie auf die Stirn und verließ das Haus, um auf Umwegen wieder dahin zurückzukehren und durch das Fenster in das Zimmer einzusteigen und sich dort unter dem Bett zu verstecken. Kaum hatte Viradhara das Haus verlassen, als Kamadamini sich putzte und schmückte, kleine Kuchen buk in bester Butter und bestem Mehl und ihre Dienerin mit einer Einladung zu einem jungen Herrn sandte, der ihr schon öfter den kleinen Korbwagen gezogen hatte. Der junge Herr erschien auch mit vielen Freuden, sie aßen und tranken und begaben sich danach in das Zimmer und ins Bett.

Hierbei nun berührte Kamadamini mit einem Fuß zufällig den Leib ihres Gatten, der versteckt lag, um sie auf die Probe zu stellen. Klug, wie die Frauen in allen bösen Dingen nun einmal sind – Verzeihung meine Damen: in Indien … –, wußte sie sofort, wer da liege und um was es sich handle. Als nun ihr Liebhaber sie umarmen wollte, stieß sie ihn zurück und sprach: »Herr, Ihr dürft mich nicht berühren.« Der junge Herr erwiderte ärgerlich: »Ich bitte Euch, mir Auskunft zu geben, schöne Frau, warum in aller Welt Ihr mich sonst habet rufen lassen?« Sie sprach: »Ich besuchte vor Sonnenaufgang den Tempel der Kandika. Da erscholl plötzlich eine Stimme: ›Unglückliche, du wirst innerhalb dreier Monate Witwe sein.‹ – Ich erschrak bis ins tiefste Herz, denn ich liebe meinen Mann über alles in der Welt, selbst mehr als mein Leben oder meine Ehre. Und ich flehte: ›Göttin, gibt es ein Mittel, meinen Gatten vor dem Verhängnis zu retten?‹ Sie erwiderte: ›Ja. Ich will dir dieses Mittel nennen: du mußt einen fremden Mann umarmen – so wird der deinem Gatten bestimmte Tod auf diesen übergehen, er aber wird hundert Jahre alt werden.‹ – Wisset also, daß Ihr mich nun zwar umarmen dürft, daß aber der Tod von der Göttin Kandika Euch sicher ist …«

Da lächelte der junge Mann, denn er begann die junge Frau zu begreifen, indes der Ehemann sich in seinem Versteck hin und her wälzte wie ein Kater, den man krault. Und der junge Herr sprach: »Gern will ich den Tod auf mich nehmen, nachdem ich Euch habe umarmen dürfen«, und also umarmten und liebten sie einander, während der Gatte, ob des Opfers, das seine Gattin aus Liebe zu ihm brachte, Tränen der Rührung vergoß.

Als sich nun der junge Mann zum Fortgehen anschickte, da kroch auch der Gatte unterm Bett hervor. Tränen noch in den Wimpern, umarmte ihn, der höchlich erschrocken tat, und sprach: »Mein Lebensretter! Mein treuester Freund bis zu deinem unvermeidlichen Tode!« Und er küßte seine Frau und sprach: »Du bist die treueste Frau, die je auf Erden wandelte. Sei gesegnet.«

Hiermit, meine Damen, ist meine Geschichte zu Ende, und ich bemerke, um jedem unliebsamen Mißverständnis vorzubeugen, daß so ungetreue Ehefrauen, so nichtsnutzige junge Burschen und so alberne alte Ehemänner natürlich nur in Indien vorzukommen pflegen.

Das Schreibmaschinenbureau

»›Geflügelte Hand‹, Bureau für Schreibmaschinen-Arbeiten« stand unten an der Tür auf schwarzumrändertem Porzellanschild.

Ich läutete.

Lautlos öffnete sich die Tür, und ich stand im Bureau. Es war völlig schwarz tapeziert. Die Fensterläden waren geschlossen. Auf einem Schreibtisch brannte eine grüne elektrische Lampe.

Ein äußerst schwindsüchtiger Herr, der sich in dem grünen Lichte wie ein längst Gestorbener ausnahm, trat hohl hustend auf mich zu. Seine Lunge rasselte. Aus seinem Munde kroch fast körperlich wie eine quallige Masse fauliger Atem.

»Sie wünschen?« flüsterte der Schwindsüchtige.

»Ich möchte jemandem diktieren. Haben Sie Angestellte, die Sie mir empfehlen können?«

Der Schwindsüchtige schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Angestellten.«

»Und die ›Geflügelte Hand‹?«

»– bin ich selbst…«

Er verneigte sich zeremoniell.

Ich sah unwillkürlich auf seine Hände; sie waren zart und schlank wie die Hände von Frauen. Sie allein schienen noch von Blut durchpulst, das bis zum Kopf nur noch in spärlichen Fasern und Rinnen gelangte.

Es war eine sonderbare Situation. Unleugbare Sympathien zogen mich zu diesem Verwesenden, dessen Gegenwart mich dennoch peinlich bedrückte.

»Ich möchte Ihnen mein … Leben diktieren«, sagte ich zögernd. »Radiotelegraphisch. Werden Sie folgen können? Ich bin noch jung. Ich stehe fiebernd in allen Flammen. Selbst meine Ruhe rast. Sehen Sie meine Augen! Sie prüfen die Dinge tausendstrahlig wie mit den Armen eines Polypen. Meine Fäuste zerschmettern die Sterne und die Türen, die sich mir nicht öffnen wollen. Ich glaube glücklich, etwas zu gelten. Den Enkeln soll mein Leben noch lebendig sein. Ich werde kurz vor meinem Tode bei Ihnen vorsprechen und das Manuskript korrigieren. Schreiben Sie! Ich zahle mit meinem Blut …«

Der Dürre verbeugte sich, und ich ging. Das Leben wurde bunter mit jedem Tag. Die Jahreszeiten schaukelten wie Schmetterlinge an mir vorbei: silbern, grün, rot und golden. Eine Kette von Frauen schlang sich um meinen Schlaf. Taten türmte ich. Mein Wille wirkte. Bis an den Thron scholl mein Ruhm. Orden bewiesen, daß ich für Ordnung warb. Geld, daß ich galt. Ruhm, daß ich rühmte. Das Volk klatschte den Herren und Helden, die, meinem Griffel entgeistert, über die Bühne schwankten, begeistert zu. Schon lasen ehrfürchtig erstarrte Schüler in den Schullesebüchern meine moralischen Geschichten, meine göttlichen Gedichte. An den Universitäten begann man Vorlesungen über meine Werke zu halten. Ich alterte zusehends.

Als ich meine letzte Stunde nahen fühlte, begab ich mich, mühselig am Stocke dem Auto entsteigend, in das Bureau der »Geflügelten Hand«.

Der Dürre empfing mich gemessen lächelnd und heiser hustend.

»Die Arbeit, die ich Ihnen aufgab«, sagte ich und sank mühselig in einen Stuhl.

»Ich habe wenig Arbeit mit Ihnen gehabt. Weniger, als ich vermutete. Hier ist das Manuskript.« Und er reichte mir einen winzigen Zettel, darauf standen diese Worte:

»Er war ein Mensch, nicht weniger, nicht mehr. Er starb, bevor er starb. Möge er leben, nachdem er lebte.«

Ich schrie, zermalmt von den wenigen Worten: »Siebzig Jahre bin ich alt geworden und schrieb siebzig Bücher: ist dies das Resultat meiner Rechnung? Der Wert meines Wesens?«

Da strich der Dürre mit knochiger Hand über meine Stirn: »Beruhigen Sie sich, bitte, mein Bester. Millionen gehen mit einem leeren, weißen Zettel zu Grab. Bleibt nur ein Wort von Ihnen für die Ewigkeit, so leben Sie unsterblich im Liede des menschlichen Leides …«

Ich lehnte den kahlen Kopf an das Polster des Stuhles: »Was habe ich zu zahlen, bitte?«

Maßlos übermüdet fiel ich, weinend wie ein Kind, trostlos erschüttert in den letzten Schlaf.

Ich bemerkte noch, wie der Dürre mir das Herz aus dem Leibe, die Augen aus dem Kopfe schnitt und wieder eintönig auf seiner Maschine zu klappern begann.

Das Sprichwort

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, dachte die Kröte. Denn sie war den ganzen lieben langen Tag und die ganze lange liebe Nacht allein. Niemand mochte sie, niemand ging mit ihr spazieren, niemand spielte mit ihr im Kaffeehaus Tarock, niemand verstand sie.

Es war ein schauderhaftes Leben.

»Zahlen!« zischte sie an der Bar, wo sie bösartig auf einem hohen Schemel hockte und Glühwein trank, was ihr sowieso nie bekam, zog sich ihre Regenhaut an und begab sich zum Schöpfer aller Dinge.

Sie lüftete höflich ihren braunen Plüschhut und trug ihm ihr Anliegen vor.

»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«, sagte sie weinerlich und betrübt, »habe ich jemandem etwas Leides getan? Ich sehe nur so aus.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der liebe Gott, »ich verstehe Sie nicht recht – aber Sie zitierten soeben ein Sprichwort: sind Sie vielleicht ein Mensch?«

Betroffen dachte die Kröte nach, und kleinlaut gab sie schließlich zu: »Nein.«

»Also«, sagte der liebe Gott. –

Die Kröte lebte hinfort einsam weiter. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie war der Dialektik des lieben Gottes nicht gewachsen.

Der Bär

Diese Geschichte beginnt wie ein Märchen der Brüder Grimm. Es ist aber kein Märchen. Es ist auch keine rechte Geschichte mit dem nötigen Schlußpunkt: eine runde Geschichte etwa, rund und durchsichtig wie eine Glaskugel, mit einer schillernden Moral. Diese Geschichte ist nämlich (beinahe) wahr und hat sich zugetragen in der kleinen Stadt, in der ich kürzlich zu Besuch weilte. Sie ist nichts als eine traurige und lächerliche Arabeske zu dem erhabenen Ereignis des Krieges, das sich draußen (weit von hier, die kleine Stadt weiß nicht wo … ) abspielt.

An dem Tage, an dem Deutschland an Rußland den Krieg erklärte, traf in der kleinen Stadt der weit- und weltberühmte Zauberer Francesco Salandrini ein, welcher dort eine Vorstellung seiner großen und geheimen Künste zu geben gedachte. Er vermochte Wasser in Wein und Wein in Wasser zu verwandeln. Er zog den Bauernburschen auf dem Lande und den verblüfften Jünglingen und den kichernden Fräuleins der kleinen Städte nur so die Taler aus Nase und Ohren und ließ sie klappernd in seinen schwarz polierten Zylinder springen, obgleich offensichtlich zutage trat, daß er selber nicht im Besitze eines einzigen dieser silbernen Dinger war. Er zerschlug in seinem bereits erwähnten Zylinder, dem man gewisse magische Kräfte nicht absprechen durfte, ein halbes Dutzend roher Eier und buk ohne Feuer und ohne Pfanne in nichts als eben diesem Zylinder einen veritablen wohlschmeckenden Eierkuchen.

Herrn Salandrinis Gefährt, das mit einigen kleinen Fenstern versehen und ziegelrot angestrichen war, rollte, von einem schwermütigen und betagten Pferde gezogen, über die Oderbrücke rumpelnd in die Stadt ein. In seiner Begleitung befanden sich noch seine Frau: Bella, die Schlangendame, die schwebende Jungfrau, das überirdische Medium und eine Person, welche den prosaischen Namen Hugo führte.

Herr Salandrini, der sich mit Weltgeschichte und Politik noch nie in seinem Leben befaßt hatte (und es auch fürder nicht zu tun gedachte, da er Steuern zu zahlen weder willens noch fähig war), verwunderte sich nicht wenig, die kleine Stadt in heller Aufregung zu finden. Alle Leute liefen durcheinander, die Kinder schrien und sangen, und die Frauen sahen besorgt aus den Fenstern.

Nichtsdestoweniger lenkte Herr Salandrini seinen Wagen ruhig und besonnen nach dem Salzplatz, wo an Jahrmärkten die Würfelbuden prunken und die Karussells sich munter drehen, um dort sein »Interessantes Wundertheater« aufzuschlagen.

Er hatte mit Hilfe der schwebenden Jungfrau gerade den ersten Pflock in die Erde getrieben, einen Strick darum geschlungen und Hugo daran gebunden, als sich federnden Schrittes der dicke Polizist Neumann nahte, der ihn ebenso bestimmt wie freundlich darauf aufmerksam machte, daß er sich die weitere Mühe der Errichtung seines »Interessanten Wundertheaters« sparen könne. Der Krieg sei erklärt. Die für heute abend angesagte Vorstellung könne vom Bürgermeister in Anbetracht der ernsten Zeitumstände nicht mehr gestattet werden. Es gehe jetzt um andere Dinge als um den Eierkuchen im Zylinder oder um den gedankenlesenden Bären Hugo. Kein Mensch habe Lust, sich derlei abenteuerlichen Unsinn jetzt anzusehen. Er möge sein »Interessantes Wundertheater« bis auf günstigere Zeiten suspendieren. Damit entfernte sich der Polizist Neumann, freundlich und bestimmt, wie er gekommen war.

 

Herr Salandrini war wie vor den Kopf geschlagen. Die Möglichkeit eines internationalen Konfliktes, der ihn um Beruf und Brot bringen konnte, hatte er nie im entferntesten in Berechnung gezogen. Auch Hugo, der gedankenlesende und wahrsagende Bär, hatte ihn davon in Kenntnis zu setzen verabsäumt, ja, er schien selber noch nichts von dem drohenden Unheil, das sich auch über seinem Haupte in dunklen Wolken zusammenballte, zu ahnen. Er saß klein und verhungert neben dem Pflock, knabberte wie ein Kind an seinen Pfotennägeln und starrte mit jenem Ausdruck beseelten Stumpfsinns vor sich hin, der unsere Lachmuskeln eben so reizt, wie er unser Grauen erweckt.

Herr Salandrini setzte sich auf die Wagendeichsel und sann den ganzen Tag, was er nun anfangen solle, um sich und seine Familie durchzubringen. Er hieß eigentlich Schorsch Krautwickerl und war aus Bamberg. Zum Heeresdienst würde man ihn nicht mehr einziehen, dazu war er zu alt. Im übrigen war er sich sehr klar, daß er augenblicklich bei niemand auf Verständnis und Teilnahme für seine merkwürdigen Kartenkunststücke und die erstaunliche Begabung des gedankenlesenden Bären Hugo zu zählen habe.

Er sann mehrere Tage. Dann ging er auf das Bürgermeisteramt und bat um irgendeine, wenn auch die geringste, Arbeit. Die schwebende Jungfrau und der Bär blieben in banger Erwartung zurück. Sie teilte schwesterlich mit ihm eine alte Brotkruste.

Herr Salandrini kehrte mit der frohen Botschaft zurück, daß er als Koksarbeiter bei der städtischen Gasanstalt Verwendung gefunden habe. Das war wenigstens etwas, wenn auch nicht viel, denn das Gehalt, das Herr Salandrini empfing, reichte kaum für einen Magen (der Bedarf – in Koksarbeitern ist schon im Frieden nicht nennenswert). Wenn also die schwebende Jungfrau zur Not noch mit versorgt war – vielleicht fände sie in der Stadt eine Stelle als Aufwaschfrau? –, was sollte aus dem kleinen, sowieso schon halb verhungerten Bären, ihrem Liebling, Kapital und Abgott werden?

Am nächsten Tage erschien in der Zeitung ein Inserat: »Edle Herrschaften werden um Abfälle gebeten für den wahrsagenden Bären des Zauberers Salandrini.«

So sättigte sich der Bär Hugo von nun ab an den Abfällen edler Herrschaften, die ihm nicht so reichlich zukamen, daß sie ihn völlig befriedigten. Er saß auf dem Salzplatz, an seinen Pflock gebunden, unter Aufsicht der schwebenden Jungfrau, welche Wäsche ausbesserte, und der Herbstregen wusch seinen Pelz. Es wurde Spätherbst, und der Bär fror. Sein Pelz zitterte und seine müden Augen sahen furchtsam zum bleiernen Himmel empor.

Die schwebende Jungfrau weinte.

Da kam Herr Salandrini auf einen guten Gedanken. Er war ja Koksarbeiter an der Gasanstalt. Er bat den Magistrat um Erlaubnis, den Bären in einen leeren warmen Raum der Gasanstalt, neben den großen Öfen, unterbringen zu dürfen. Der Magistrat, der sich von der Harmlosigkeit des halb verhungerten und schwächlichen kleinen Bären längst überzeugt hatte, gab die Einwilligung, und der Bär hockte nun hinter einer hölzernen Gittertür und blickte mit traurigen Augen in die feurige Glut der Öfen. Hin und wieder besuchten ihn die Kinder des Gasanstaltsinspektors und brachten ihm ein Stück Kriegsbrot oder Küchenreste. Er fraß alles, was ihm zwischen die Zähne gestopft wurde.

Eines Morgens aber lag er tot hinter dem Gitter, und das rosa Licht der Öfen tanzte über sein dunkelbraunes spärliches Fell.

Herr Salandrini war erschüttert, aber als Koksarbeiter hatte er keine Zeit zu langen Meditationen. Die schwebende Jungfrau warf sich schreiend über den toten Bären und das ganze sah aus wie ein Bild von Piloty.

Ob der Bär an Gasvergiftung oder an Unterernährung zugrunde ging, war nicht festzustellen.

Herr Rechtsanwalt K. kaufte Herrn Salandrini das Bärenfell samt dem Kopfe ab. Herr K. ist im Begriff, die Stadt zu verlassen und in Z. eine neue Praxis aufzunehmen. Er wird sich das Fell des wahrsagenden Bären Hugo in seinem Herrenzimmer an die Wand nageln, und wenn er Freunde bei sich zu Gast hat, wird er mit einer großen Gebärde auf das Fell deuten, seine Zigarrenasche nachlässig abschlagen und zerstreut zu erzählen beginnen:

»Als ich noch in den schwarzen Bergen Bären jagte …«