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Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

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Die Schweizer hatten sich mit dem Fabeldichter Ulrich Boner, mit Bodmer, Breitinger und vor allem mit Geßner schon vorteilhaft in die deutsche Literatur eingeführt, als sie mit Jeremias Gotthelf (aus Murten, 1797 bis 1854) einen Haupttreffer machten. Was sind das für Kerle, die Schweizer Bauern und Bäuerinnen des Pfarrers Bitzius aus dem Emmental. Auf angeerbter Scholle sitzen sie: derb, treuherzig, fromm. Kein Falsch ist an ihnen und kein Flitter. Ihr Wort: eine Enzianblüte im Gebirge. Die Schweizer können aber nicht nur bäuerisch derb, sie können auch städtisch, à la mode oder historisch gekleidet daherstolziert kommen, wie Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer beweisen.

Gottfried Keller (aus Zürich, 1819–1890) läßt seinen »Grünen Heinrich« in der Tracht aufmarschieren, die Grimmelshausen, Heinse, Goethe in die deutsche Literatur eingeführt haben: jeder mit etwas anderem Schnitt. Das Problem der Entwicklung beherrscht den »Grünen Heinrich« auf seinen tausend Seiten: so gut wie Simplex, wie Ardinghello, wie Wilhelm Meister ist er auf dem Wege zu sich selbst. Der Weg, der zu einem selbst führt, ist nun nicht so bequem wie die Chausseen bei Kopenhagen, wo alle fünf Minuten, an jeder Wegbiegung, eine Tafel steht: nach da und nach da und nach da: man kann nicht fehlgehen. Wie steht es hingegen mit den Wegen zu sich? Da gerät man auf allerlei Nebenpfade, in Gestrüpp, Wolfsgruben, auf fremden Besitz, und man muß froh sein, wenn man schließlich am Abend die Herberge findet und auf der harten Ofenbank schlafen darf. Man weiß manchmal wirklich nicht, ob man das Rechte trifft, wenn man z. B. Maler- und Anstreicherlehrling wird. Und schließlich wendet sich doch alles zum Rechten, denn man bringt von der Malerei ein unverlierbares Gut im Felleisen heim: die Kraft der lebendigen Anschauung aller Dinge. Es kommt für den Dichter nicht darauf an, die Gedanken zu Ende zu denken, sondern auch den Erscheinungen bis ins Herz zu sehen, sie zu durchschauen. Als wäre der Mensch ein Stück Glas. Solches konnte Gottfried Keller. Und weil er eine so klare Anschauung von den Menschen hatte, deshalb gerieten sie in seinen Novellen so klar und durchsichtig. Diese Novellen, gesammelt in den Büchern »Die Leute von Seldwyla«, »Sieben Legenden«, »Züricher Novellen«, »Das Sinngedicht« – bedeuten einen Gipfel deutscher Erzählerkunst. Wer als Erzähler ihn wieder erreichen will, der muß hoch und mühsam klettern – da wird es nicht so bequem hinaufgehen wie auf den Rigi, das ist schon mehr eine Matterhornbesteigung. Gottfried Keller hat ein vollkommenes Gedicht, das Gedicht vom alten Pan im Walde, geschrieben. Sein Landsmann Heinrich Leuthold deren drei oder vier, sein anderer Landsmann C. F. Meyer (aus Zürich, 1825–1898) deren viele. Hat Gottfried Keller typisch schweizerische Züge in seinem Wesen und Dichten, so wird man bei Meyer trotz manchen schweizerischen Stoffes (der Roman »Jürg Jenatsch«) vergebens danach suchen. Seine Landsmannschaft ist undeutlich und unbestimmt. Er hat sich selbst als Statue eines Dichters nach einem Idealbild konstruiert. Er führte das Leben einer steinernen Statuette: ganz Marmor, ganz Glanz. Vierzig Jahre war C. F. Meyer, als er sein erstes Buch, ein kleines Buch Gedichte, veröffentlichte. Er hat mit seinen Gedichten sein Bestes gegeben, ungeachtet mancher schönen Novelle. Die Gedichte sind von einer leidenschaftlichen Liebe zur Form erfüllt. Genug konnte ihm nie und nimmermehr genügen. Ihm zitterte eine Flamme im Busen, die er mit heiliger Scheu hütete.

 
Daß sie brenne rein und ungekränkt.
Denn ich weiß, es wird der ungetreue
Wächter lebend in die Gruft gesenkt.
 

Von den Göttern, die er oft zu sich zu Gaste lud, waren ihm Bacchus und Silen die liebsten.

 
In der schattendunklen Laube gab Silen, der weise, Stunde,
Der ihm weich ans Knie geschmiegte Bacchus hing an seinem Munde,
Lieblich lauschend.
 

Und sein schönstes, sein wildestes Symbol fand C. F. Meyer in der Veltlinertraube.

Es ist dem Trifolium Spitteler, Nietzsche, George zu danken, daß die deutsche Sprache in den achtziger Jahren nicht völlig unter die Räder der naturalistischen Bier- und Leiterwagen kam. Carl Spitteler (aus Liestal, geboren 1845) sagte mit seinem »Prometheus und Epimetheus« der Wirklichkeit, die sich verwirkt hatte, die Fehde an. Leider wurde er selbst in seinen nächsten Werken aus einem Prometheus, einem Fackelbringer, ein Epimetheus, ein Mensch der Verwirrung und des Dunkels, denn in »Conrad, der Leutnant« und »Imago« tut er es den schlechtesten Naturalisten und Psychologisten gleich. Daß der bedeutendste Psychologe der Gegenwart, Professor Freud in Wien, seine Zeitschrift nach der »Imago« nannte, ist zuviel der Ehre für dieses ganz analytische, aber der Synthese völlig ermangelnde Buch. Jeder Dichter, Herr Professor Freud, ist instinktiv Psychoanalytiker. Aber hier beginnt erst der Weg und der Wille zum Psychosynthetiker. Im »Olympischen Frühling«, dem großen griechischen Epos, hat Spitteler sein bestes Selbst wiedergefunden. Er fand das Reich Apollos, das Reich, »das nicht von dieser Welt ist«. – Von jüngeren Schweizern sind zu nennen: der früh (1919) verstorbene Karl Stamm, ein Lyriker von vielen Graden, der zarte Idylliker Robert Walser, der religiös vergrübelte Albert Steffen (geb. 1874), Romandichter theosophischer Richtung.

Eine in ihrer verbohrten Problematik Hebbel geschwisterte Natur ist Otto Ludwig (aus Eisfeld, 1813–1865). Er sah sich zeitlebens im Schatten Shakespeares stehen und kam deshalb nur in seinem biblischen Trauerspiel »Die Makkabäer« und in seinen Novellen über ihn hinaus, in denen er als antizipierter Dostojewski und Zola erscheint. Es könnte nicht schaden, wenn – über Dostojewski – Otto Ludwigs Prosa nicht vergessen würde. Sie ist der feierlichen Auferstehung wert. Wird Gustav Freytag (aus Kreuzburg, 1816–1895) aus der Gruft der Vergessenheit auferstehen? Vielleicht mit seinem bürgerlich-soliden Roman »Soll und Haben«, worin jedem Charakter sorgsam sein Debet und Kredit zuerteilt ist. Des Mecklenburgers Fritz Reuters (1810–1874) humoriges und herzliches Plattdeutsch ist leider nur einem engen Kreise von Deutschen verständlich. (»Ut mine Stromtid.«) Wilhelm Raabes (aus Escherhausen, 1831 bis 1910) ernster Humor, seine bedächtige Menschenfreundlichkeit, seine bittersüße Melancholie, wird deutschen Herzen als eine deutsche Angelegenheit immer lieb und vertraut sein. Für Wilhelm Raabe gibt es kein besseres Epitheton als dies ohne jeden Nationalismus gesagte: deutsch. »Der Hungerpastor«, »Der Schüdderump«, »Horracker« werden bleiben wie des Friesen Theodor Storm (1817–1888) rosenblätterige Novellen: Immensee, Pole Popenspäler, Der Schimmelreiter und die kleine Erzählung »Im Saal« – eines der frühesten und schönsten Gebilde Storms, das er im Revolutionsjahr 1848 ersann. Die Sehnsucht nach der guten friedlichen Zeit, der wir sonst zu trauen gar nicht geneigt sind, wird, wenn wir sie lesen, übermächtig in uns. Früher – ja, das war freilich eine stille, bescheidene Zeit: »Die Menschen waren damals noch höflicher gegeneinander. Das Disputieren und Schreien galt in einer feinen Gesellschaft für sehr unziemlich. Wer seine Nase in die Politik steckte, den hießen wir einen Kannegießer, und war's ein Schuster, so ließ man die Stiefel bei seinem Nachbar machen. Die Dienstmädchen hießen noch alle Stine und Trine, und jeder trug den Rock nach seinem Stande … Aber was wollt ihr denn?« fuhr die alte Großmutter fort, »wollt ihr alle mitregieren?« Ja, Großmutter, das wollen wir nun freilich, und darum sind wir auch alle so unglücklich und ruhlos, so hin und her gerissen zwischen Stern und Erde, so kriegerisch und friedlich zugleich.

Paul Heyse ist im Strom der Zeiten schon versunken, so tief versunken wie Geibel (aus Lübeck, 1815–1884), der einst so hochgefeierte. Geibel wollte 1871 mit seinen »Heroldsrufen« eine große Zeit einrufen. Aber Krieg und Sieg von 1870/71 hatten für die deutsche Dichtung und Kultur eine katastrophale Wirkung. Die Heroldsrufe riefen einem Zeitalter, das in niedrigstem Materialismus, größtem Größenwahn, in Goldsucherei, Aufgeblasenheit (aufgeblasen wie ein Jahrmarktsschwein) und Chauvinismus seinesgleichen suchte. Hohenzollernsch patentierter, mehr oder weniger gereimter Patriotismus von Geibel und seinen Nachbetern und Nachtretern lyrisch, von Wildenbruch, selbst einem abseitigen Hohenzollernsproß, dramatisch aufgeputzt, von Julius Wolff in seinen Ritterromanen in die große Vergangenheit projiziert, aus ihr eine große Gegenwart und große Zukunft abstrahierend (wie sprach doch Wilhelm II. einst? »Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen …«), süßlich gesabberte Lyrik der Baumbäche und Bodenstedter, eine unechte flache Erzählerkunst – das waren die ersten kulturellen Früchte der Einigung des deutschen Volkes. Fast zwei Jahrzehnte hat das deutsche Volk diese Limonadensuppen in sich hineingesoffen, während ihm der frische Trunk der echten Dichtung, den ihnen Mörike, Raabe, Leuthold, C. F. Meyer, Fontane spendeten, nicht recht munden wollte. Einzig Theodor Fontane (aus Neuruppin, 1819 bis 1898) brachte es zu einiger Berühmtheit, nicht aber wegen seiner großen Kunst der Milieu- und Menschenschilderung, sondern wegen seiner stofflichen Vorwürfe, die er meist dem Leben des märkischen Adels entnahm. Niemand hat das Gute und Edle, was im spezifisch-junkerlichen Typus steckt: die starre Pflichterfüllung, das karge, wie hinter geschlossenen Türen geführte Gefühlsleben, das moralisch-märkische Pathos reiner glorifiziert und geschildert als Fontane im »Stechlin«. Auch das alte Berlin der siebziger und achtziger Jahre fand in ihm seinen berufenen Schilderer. Wer sich vom heutigen Berlin entsetzt abwendet, versäume nicht, dem Fontaneschen einen Besuch abzustatten. Er wird entzückt aus diesem Berlin, das unwiederbringlich dahin ist, zurückkehren. Das Gelungenste und Geformteste in Fontanes Romanen sind die Frauengestalten: Cecile und Effi Briest wandeln in einem Reigen mit Mignon und Philine, Liane und Toni Häusler.

 

Otto Ludwig und Theodor Fontane im Erzählerischen, Hebbel und Anzengruber im Dramatischen, Leuthold im Lyrischen, sind die Vorläufer und Fanfarenbläser der Bewegung, die man als die naturalistische bezeichnet hat. Es ist zu bemerken, daß Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus, Futurismus nur Hilfsworte sind, um Begriffen und Bewegungen, Ideen und Wallungen beizukommen. Wo der Ismus aufhört, da fängt der Dichter erst an, denn letzten Grundes macht die Einzelseele, nicht die Massenpsyche oder -psychose erst den Dichter zum Dichter. Jeder Mensch hat eine bestimmte seelische Richtung, in der er läuft, und wer in derselben Richtung geht, den begrüßt er als seinen Weggenossen mit besonderer Herzlichkeit. Nun gibt es aber viele Wege. Viele Wege führen nach Rom: ins Heiligtum der Kunst, in den Tempel des Gottes. Es ist Überheblichkeit, den Weg, den ein anderer geht, von vornherein als einen falschen zu bezeichnen und Hohn und Gelächter ihm nachzurufen. Als Maßstab der Kritik darf nur die Qualität gelten: der Zusammenhang des relativen mit dem absoluten Prinzip. Ein guter naturalistischer Roman ist mir lieber als ein schlechter expressionistischer und umgekehrt. – Was wollte der Naturalismus? Er entstand als kraftvolle Gegenbewegung gegen die unwahre und unechte Afterkunst, wie sie seit 1870 in Deutschland zur herrschenden geworden war. Er lehnte allen Historismus, alle idealisierende Stilisierung ab: wollte nur lebenswahr sein und forderte an Stelle einer Verhüllung der Natur ihre Entschleierung bis zur letzten Nacktheit. Er wollte die Natur abschreiben, die natürlichen Dinge natürlich darstellen. Wenn der Naturalismus die Imitation der Natur vielfach zur These erhob, so beging er natürlich a priori einen Denkfehler. Eine Nachahmung der Natur kann es nicht geben: immer tritt ja der Gestaltende mit einem subjektiven Willen an sie heran. Einzig der Buddha, der völlig Objektivierte, könnte auch ein vollkommener Naturalist sein: aber er würde es wiederum nicht sein, weil ihm der Wille zur Gestaltung von vornherein abgeht. Er will nichts. Der naturalistische Dichter aber wollte doch etwas: nämlich die Natur darstellen. Wo ein persönlicher Wille ist, ist schon ein persönlicher Stil. So ist denn als ästhetisches Gesetz nur eine Spielart des Naturalismus: der Impressionismus zu diskutieren. Der Impressionismus will, daß die Seele wie eine Braut sich hinlagere, damit die Natur liebend einströme mit Fluß und Wolke, Stern und Falter. Der Expressionismus, die Gegenbewegung gegen den Impressionismus, fordert programmatisch: schleudere deine Seele aus dir heraus in die weite Welt, hinauf in den hohen Himmel: so erst wirst du ganz wahr sein. Der Impressionismus predigt die Wahrheit des Seins, der Expressionismus die Wahrheit der Seele. Es ist klar, daß auf einer höheren Ebene diese Forderungen sich in einem Schnittpunkt berühren: da, wo Sein und Seele, Erde und Himmel eins geworden sind. Im Formalen äußert sich der Gegensatz der beiden Strömungen derart: beim Impressionismus: Analyse des Geistes, Synthese der Form. Beim Expressionismus: Synthese des Geistes, Analyse der Form. – Die Naturalisten waren für Deutschland die Entdecker des Proletariers als »Gegenstand« der dichterischen Betrachtung: da ihrer Betrachtung ja auch das Niederste und Unterste wert erschien. Aber der Proletarier, der arme Mensch, der ärmste Mensch, blieb ihnen eben doch nur »Gegenstand«. Erst die politischen und expressionistischen Dichter der jüngsten Generation haben den entscheidenden Schritt vollzogen, indem sie sich mit dem Proletarier identifizierten. Die proletarische Lyrik der Henckell (geboren 1864), Mackay (geboren 1864) – Mackays Roman »Der Schwimmer« ist eine der besten Prosaleistungen des Naturalismus – usw. wirkt denn auch ziemlich zahm bürgerlich. In Arno Holz' (aus Rastenburg, geboren 1863) »Buch der Zeit« klingt sie kräftiger. Dessen eigentliche Bedeutung liegt aber nicht darin, sondern in seinem romantischen Buche »Phantasus«, mit dem er zwar keine Revolution der Lyrik, wie er meinte, eingeleitet und eingeläutet hat, aber die wesentliche Stimme seiner eigenen Lyrik fand. Diejenigen, bei denen der Naturalismus ein totes Dogma wurde, sind, manche noch lebendigen Leibes, gestorben. Des romantischen Naturalisten Max Halbe bestes Werk ist eine kleine Novelle: Frau Meseck. Am Leben blieb der unverwüstliche, kräftige Detlev von Liliencron (aus Kiel, 1844–1909), der lyrische Husar, der niederdeutsche Feuerreiter. In der plattdeutschen Lyrik exzellierte Klaus Groth (aus Dithmarschen, 1819–1899), der Dichter des »Quickborn«, in bodenständigen österreichischen Bauerndramen Ludwig Anzengruber (aus Wien, 1839 bis 1889). Vom Naturalismus kam, ihn überflügelte bald mit silbernen Flügeln: Gerhart Hauptmann (geboren 1862 in Salzbrunn). Wie ein Baum zieht er seine Säfte aus der schlesischen Erde, aber seine Krone ragt in den Himmel, und sein Gezweig überschattet hundert Naturalisten. Mit der Weißglut seines Willens hat er die naturalistische Theorie durchschmolzen. Keine konstruierten Maschinen, keine Homunkulusse durchwandeln die Welt seines Dramas: Menschen voll Blut und Sehnsucht, arme, elende Menschen, geprügelt wie Hunde von der Peitsche des Schicksals, hungernd und frierend, hungernd nach Brot und Licht, frierend an den kalten, steinernen Herzen der Mitmenschen, Menschen, die in einer ewigen Dämmerung »vor Sonnenaufgang« leben, »einsame Menschen«, zu denen selten genug der Ton der »versunkenen Glocke« herauftönt, Menschen, die einzeln nicht leben dürfen wie die schlesischen Weber, die ein Klumpen blutendes, zuckendes Stück Fleisch sind, Menschen, die fried- und ruhelos das Labyrinth des Daseins durchirren, bis eine sanfte Frau auch mit ihnen einmal das »Friedensfest« feiert. Wie sind die zu beneiden, die, wie Hannele, so früh von dieser schmutzigen Erde zum Himmel fahren dürfen! Daß sie Kinder bekommen, zeugen und gebären – wie furchtbar! Wer will den ersten Stein auf »Rose Bernd« werfen? Wer stürzt nicht weinend in sich zusammen, wenn der brave, ehrliche »Fuhrmann Henschel«, zwischen Schuld und Unschuld schwankend, sich erhängt? Alle Gestalten Hauptmanns sind Narren in Christo, wie der religiöse Schwärmer Emanuel Quint, der im neu erwachenden religiösen und sektiererischen Leben der Zeit noch eine Rolle spielen wird.

Wie die Geibelperiode in Empfindelei und Süßlichkeit, so artete der Naturalismus schließlich in Krafthuberei, törichte Brutalität und Apotheose des Misthaufens aus. Süßigkeit des Wortes, Sinnlichkeit der Seele: die Schönheit verfiel dem Fluch der Lächerlichkeit. Es ist das Verdienst von Friedrich Nietzsche und Stefan George, das deutsche Wort in barbarischer Epoche bewahrt und in heiligen Hainen Anbetung und Weihrauch der tönenden Gottheit dargebracht zu haben. Friedrich Nietzsche (1844–1900) ist mit der musikalischen und rhythmischen Prosa seines »Zarathustra« der Lehrmeister der jungen und jüngsten Dichtung geworden. Als Lyriker gehört er zu den edelsten deutschen Lyrikern. »Frei« war Nietzsches Kunst geheißen, »fröhlich« seine Wissenschaft. Alle seine Lieder sind trunkene Lieder. Ob er sie singt in Venedigs brauner Nacht an der Rialtobrücke oder sie von San Marco gleich Taubenschwärmen ins Blau hinaufsendet und wieder zurücklockt, ihnen noch einen Reim ins Gefieder zu hängen. Oder ob in Sils Maria ihn, der wartend sitzt, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel, der Schatten Zarathustras grüßt. Ob im Herbst, in der Ebene, die ersten grauen Krähen ihn überfliegen und ihn mahnen, daß der Winter naht.

 
Aus unbekannten Mündern bläst's mich an,
– Die große Kühle kommt …
 

Er wurde einsam. Immer einsamer. Und alle seine Lieder sang er schließlich nur noch sich selber zu, »damit er seine letzte Einsamkeit ertrüge«.

 
Hoch wuchs ich über Mensch und Tier;
Und sprech ich – niemand spricht zu mir.
 

War die Natur Nietzsches eine Kreuzung aus Dionysos und Ahasver, die trotz aller Schmerzen die Ewigkeit, zu der sie verdammt war, lieben mußte, eine wilde, tobende Natur, die lieber brüllte als seufzte oder zwitscherte, – so ist Stefan George (geboren 1868 in Büdesheim) der strenge Priester der Gelassenheit und Gebundenheit, der Verkünder asketischer Lüste, maß- und zuchtvoll. Auch der verkündet wie Nietzsche eine Kunst, die jenseits von Gut und Böse wirkt, er steht den moralischen Forderungen eines Teiles der jungen Generation ferner als fern.

»Du sprichst mir nicht von Sünde oder Sitte.« In einem seiner ersten Gedichte versteigt er sich bis zur Apotheose der Ausschweifung: im Heliogabal. Aber immer reiner klärt sich seine Welt: bis das Jahr der Seele herrlich sichtbar wird, der Teppich des Lebens sich vor ihm breitet, der Engel ihm den Weg weist und der Stern des Bundes magisch erblinkt. Stefan George begann als Fackelträger des reinen Wortes in einer Zeit, die das Wort verunreinigte und beschmutzte, er schritt fort und schreitet weiter als ein Flammenträger des reinen Sinnes in einer Zeit, die verschwelt und rauchig loht, die zu Baal und Beelzebub betet, die kein Sonnengold, nur ein Geldgold kennt, die alles »zweckmäßig« einrichtet und als Ziel die Zweckmäßigkeit postuliert oder die Ziellosigkeit an sich. Die geistige und moralische Begriffe verwechselt und ein politisches Parteiprogramm von Spinozas Ethik nicht zu unterscheiden vermag. Sie hat auch bei George gebändigte Leidenschaft mit Temperamentlosigkeit, die Gebärde des echten Priesters mit den Tingeltangelallüren ihrer geistigen Charlatane, die gekonnte Kunst mit gemachter Mache verwechselt. Sei's. Die Weltgeschichte ist auch das Weltgedicht: einige der schönsten Strophen dieses Gedichtes hat Stefan George gesungen.

Aus dem Kreise Georges sind als Dichter von Rang Hugo von Hofmannsthal (geb. 1874 in Wien) und Rainer Maria Rilke (geb. in Prag 1875) hervorgegangen. Hofmannsthal ist der Dichter bezaubernder kleiner Versdramen. Er führt ein Skelett, das mit blühenden Rosen behängt ist, im Wappen. Rilke ist ein Mönch, der statt der grauen Kutte eine purpurrote trägt, die Seligkeit des Himmels liebt, aber die Freuden der Welt nicht verachtet.

Die »ersten Hergereisten«, die der kommenden deutschen Dichtergeneration die neuen Lieder lehrten, waren Nietzsche und George. Alfred Mombert (geboren 1872 in Karlsruhe) und Theodor Däubler (geboren 1876 in Triest) gehören zu den ersten, die sie lernten. Mombert schrieb metaphysische Dramen und Gedichte, Däubler das diesseitige Epos »Nordlicht«, eine Kosmogenie voll von Schwelgerei und Orgie des Wortes und des Reimes. Richard Dehmel (aus dem Spreewald, 1863–1920) hält sein Gesicht den romantischen Gestirnen zugewandt. Die goldene Kette der deutschen Lyrik ist ohne ihn nicht denkbar, er ist ein kostbares Glied in ihr, deren Anfang Walter von der Vogelweide, deren vorläufiges Ende Franz Werfel hält. Er hat die Tradition der deutschen Lyrik über eine Zeit der Verfahrenheit und Traditionslosigkeit hinübergerettet. Als alles tot und trübe schien. Er hat der deutschen Lyrik das Liebeslied neu geschenkt: Das dunkle Du, das dunkle Ich, die durch die Nacht sich suchen – und sich finden.

Christian Morgenstern (aus München, 1871–1915) schuf in seinen »Palmström«gedichten eine grotesk-philosophische Lyrik eigenster Prägung, die besonders dem menschlichen und vermenschlichten Tier zu Leib und Seele rückt. Da erscheint ein Steinochs, der sich von menschlicher Gehirne Heu nährt. Auf schwärmt am Horizont ergrauter Kasernenhöfe der sagenhafte E. P. V. (auch Exerzierplatzvogel genannt). Wir sind hoch und heiter beglückt, daß es ihn und Palmströms und v. Korfs fundamentale Melancholie – immerhin – noch gibt. Schade, daß ich beim neuerlichen Quellenstudium für diese kleine Literaturgeschichte v. Korfs glänzende Erfindung nicht benutzen konnte, welcher, weil er schnell und viel lesen mußte, eine Brille erfand,

 
deren Energien
ihm den Text zusammenziehn.
Beispielsweise dies Gedicht
läse, so bebrillt, man – nicht!
Dreiunddreißig seinesgleichen
gäben erst – ein – – Fragezeichen!
 

Die Dadaisten, Apologetiker des abstrakten Humbugs, sind Wilhelm Buschs, des genialen Malerdichters (1832 bis 1908) und Morgenstern's Nachfahren.

Die deutsche Frauendichtung beginnt, nachdem sie seit Mechtild v. Magdeburg jahrhundertelang den Dornröschenschlaf geschlafen, wieder aufzuleben mit der Westfälin Annette v. Droste-Hülshoff (1797–1848), die freilich für den ersten Blick gar nichts Frauliches an sich hat. Ihre Formen sind streng, herb, ihr Gang ist straff, ihre Miene leicht verdüstert: wie ein halb heller Tag auf der westfälischen Heide, wenn Erde und Himmel die Plätze vertauscht haben, und die roten Heidekrautblüten wie Sterne, die Wolken wie braune Ackerschollen sind. Auf ihr müdes Haupt gaukelte selten ein süßes Lachen.

 
 
Liebe Stimme säuselt und träuft
Wie die Lindenblüt' auf ein Grab …
 

Herb wie ihr lyrischer Stil ist ihr Prosastil in der Novelle »Die Judenbuche«. Marie v. Ebner-Eschenbach (aus Mähren, 1830–1916) besitzt ein Talent von großer Weite der Empfindung, das formal eng begrenzt ist. Ricarda Huch (geboren 1864 in Braunschweig) suchte ihre Themen im Risorgimento und im Dreißigjährigen Krieg. Enrica von Handel-Mazetti (geboren 1871 in Wien) schrieb historische Romane mit katholisierendem Einschlag. Die deutsche Frauenlyrik der jüngsten Zeit gipfelt in Else Lasker-Schüler (geboren 1876 in Elberfeld). Wer fühlte sich nicht als ewiger Jude und sänke vor Jehova ins Knie, wenn sie ihre hebräischen Lieder singt? Wenn sie ihre Verse in einen alten Tibetteppich verwebt? Emmy Hennings gab in kleinen Versen (»Die letzte Freude«) und in kleiner Prosa (»Das Gefängnis«) eine Autobiographie des weiblichen Vaganten. Eleonore Kalkowska ließ im Krieg den Rauch des Frauenopfers steigen. Sie schreitet vom Gedicht zum Drama.

Man hat Frank Wedekind (1864–1918) einen Bruder und Genossen der Lenz, Büchner, Grabbe genannt. Er hatte nicht die selbstverständliche Grazie dieser drei (die Grabbe auch im Grausigen bewies). Er war kein Kind der Natur. Die Natur war ihm in jeglicher Gestalt verhaßt und widerwärtig. Vor einer schönen Landschaft erfaßte ihn ein Brechreiz. Und er wurde erst wieder beruhigt, wenn er die Berge, etwa als ein liebendes Paar in Umarmung, drastisch definieren konnte. Er war ganz gewiß ein Erotomane, dessen moralische Komplexe sich bis zum exzessiven Pathos steigern konnten. Er war ein genialer Spießer – mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein erotischer Frömmler. Ein frömmelnder Erotiker. Flagellant, Sadist, Masochist aus religiöser Überzeugung. Ihm war das Weib die große Hure von Babylon und als solche immer anbetungswürdig. Er führte ein Tagebuch aller Zärtlichkeiten, der sanften und der schrecklichen. Er führte dieses Tagebuch gewissenhaft wie ein Oberlehrer. Als Oberlehrer (mit dem schlechten Gewissen des ehemaligen Schülers …) fühlt er sich auch seinen Geschöpfen gegenüber: einer Lulu, einer Franziska, die zu seiner Liebe, zu seinem Leben emporgepeitscht wurden – um sich dann an ihrem Lehrmeister aufs grausigste zu rächen. In der Verbohrtheit im Problematischen ist er Hebbel, in der Technik den Stürmern und Drängern verwandt: diese dramatische Technik der Einzelbilder, Einzelszenen, wie sie »Frühlingserwachen« einführt, hat im deutschen Drama neuerdings Furore gemacht. Sein Kinderdrama »Frühlingserwachen« wird bleiben, bleiben wird der »Marquis von Keith«, der letzte Akt von »Schloß Wetterstein« und vor allem: »Lulu«. In ihr und in der kleinen Wendla hat er die natürliche Dämonie des Weibes groß gestaltet. Es ist vielleicht kein Zufall, daß in den vorzüglichsten Dramen der Epoche Frauen im Mittelpunkt der tragischen und komischen Handlung stehen: die Lulu im »Erdgeist«, Hannele in »Hanneles Himmelfahrt«, die Wulffen im »Biberpelz«, Madame Legros (im gleichnamigen Drama von Heinrich Mann) –, dies beweist, daß wir in einer romantischen Periode leben: Lulu ist die Inkarnation der geschlechtlichen, Hannele die der kindlichen, Madame Legros die der mütterlichen Liebe der Frau. Lulu will irdische Lust, Hannele himmlische Liebe, Madame Legros dies- und jenseitige Gerechtigkeit. – Wilhelm Schmidtbonn (geboren 1876) behandelte im »Grafen von Gleichen« das Problem des Mannes zwischen zwei Frauen. Der erste Akt gehört zu den besten ersten Akten der deutschen Literatur. Sein »Wunderbaum«, ein Prosabuch, birgt viele Wunder. Carl Sternheim zeichnet in seinen Dramen karikaturistische Bilder aus dem bürgerlichen Heldenleben: Streber, Schieber, sentimentale Kokotten, amusische Dichter, intellektuelle Schweinehunde, Auch- und Bauchsozialisten. In seinen Dramen wie in seinen Novellen holt er das Letzte virtuos, aber ohne Herz, aus der Technik des Wortes. Seine Geschichten laufen ab wie Maschinen. Er ist ein Ingenieur der Sprache. Herbert Eulenberg (geboren 1876 in Mühlheim) bemalt seine dramatischen Helden und Heldinnen blaßrosa und blaßblau. Sie gleiten schattenhaft durch eine romantische Kulissenwelt. Eduard Stucken (geboren 1865 in Moskau) beschwört noch einmal Montsalvatsch und die Gralsritter in klingenden, mit Innenreimen geschmückten Versen. Seine Romantrilogie »Die weißen Götter« erheischt Respekt. Georg Kaiser (geboren 1878 in Magdeburg) pflanzt sich ganz breitspurig und heutig vor uns hin. Teufel, ist das ein Leben, das sich da vor uns und um uns und in uns abspielt. Aktiengesellschaften werden gegründet aus Menschenliebe, aus Bonhomie, mit Ewigkeitsansprüchen. Beim »Brand des Opernhauses« entzünden sich alle Leidenschaften. »Von morgens bis mitternachts« rollt ein ganzes Leben ab via Bankinstitut, Freudenhaus, Park, Café, Heilsarmee, um in »Hölle, Weg, Erde« sich als leere Leere, parodierte Form, Konjunkturkommunistik zu entschleiern. Da ist mir R. John Gorslebens (aus Metz, geb. 1883) bedenken- und gewissenloser geistiger Abenteurer »Der Rastaquär« schon lieber. Denn der ist ehrlich. Hanns Johsts ekstatische Szenerien haben sich zu einem adligen Drama »Der König« und zu einem problematischen Gegenwartsroman »Kreuzweg« edel ausgereift. Georg Kaiser, Sternheim, Eulenberg geben in ihren Dramen allerlei indirekte Antworten auf direkte Fragen. Das sind alles Passionen, die sich da abspielen. Walter Hasenclever (geboren 1890) im »Sohn« und René Schickele (aus dem Elsaß, geboren 1883) in »Hans im Schnakenloch« gehen zur Aktion, zur These, zur Forderung über. Nicht: so seid ihr! Sondern: so sollt ihr sein! So soll der Sohn gegen den Vater, der Mensch zwischen den Rassen sich entscheiden! Hasenclevers »Antigone«, Unruhs »Ein Geschlecht« sind ebenfalls programmatische Äußerungen gegen den Krieg, während Hasenclever in seinem Drama »Menschen« zur Romantik umkehrt – den Weg, den noch alle Aktivisten werden schreiten müssen (Schickele beschritt ihn im »Glockenturm«) –, sich aber nach der anderen Seite purzelbaumartig überschlägt und beim übelsten Text zum Filmdrama landet. Höher steht sein okkultes Spiel »Jenseits«.

Paul Kornfelds »Verführung« gehört zu den typischen, monologischen Dramen des jungen Menschen aus der expressionistischen Epoche. (Einige andere: Hanns Johst »Der junge Mensch«, Walter Hasenclever »Der Sohn«, Klabund »Die Nachtwandler«.) Es ist das Erfreulichste von ihnen. Das Problem »Vater und Sohn« gestaltet eindrucksvoll in seinem gleichnamigen Fridericus-Drama auch Joachim v. d. Goltz.

Den schönsten deutschen Roman um 1900 schrieb Friedrich Huch mit seinem »Pitt und Fox«. Biedermeierliche Zartheit und groteske Gotik blühen darin. Pitt ist der gute, der entmaterialisierte, Fox der schlechte materialistische Deutsche, wie ihn Heinrich Mann später in seinem Untertan Diederich Heßling so bitterböse abkonterfeit hat. Ouckama Knoop malte im »Sebald Soeker« die Untergangsstimmung des Abendlandes, längst ehe sie gefällige Mode wurde. Hermann Löns jagte den wilden »Wehrwolf« über die Heide. Des Schwaben Emil Strauß (geb. 1866) Kindertragödie »Freund Hein« ist mir unvergeßlich. Der Halkyonier O. E. Hartleben (1864–1905) etablierte sich mit glänzend geschriebenen ironischen Impressionen. Eine Abart des Impressionismus ist der Psychologismus, wie ihn Thomas Mann (aus Lübeck, geb. 1875) in seinen ausgezeichneten Romanen und Novellen »Die Buddenbrooks«, »Tod in Venedig« übt. Er analysiert mit medizinischer Gewissenhaftigkeit die Einzelseele. Dem Studium der Massenseele gilt neuerdings seines Bruders Heinrich Mann (aus Lübeck, geboren 1871) Bemühung. Er ist der Dichter der Demokratie geworden in seinen Romanen: »Die kleine Stadt«, »Die Armen«, »Der Untertan«. – »Die kleine Stadt«, ein italienischer Kleinstadtroman, der schildert, wie eine fahrende Theatertruppe eine kleine Stadt revolutioniert, ist ein Markstein in der Geschichte des deutschen Romans. Seine früheren Italienromane, besonders die prachtvolle Trilogie »Die Göttinnen«, zeigen ihn noch ganz als Apologetiker des Übermenschen, des Einzelmenschen, des Anarchisten, als hymnischen Diener der Schönheit, der Kraft und der sinnlichsten Gewalt. Wer, der je der Herzogin von Assy begegnete, könnte sie vergessen? Denn sie war ihm Kind, Mutter und Geliebte.

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