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Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

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Luther starb 1546 in Eisleben. Von seiner geistlichen Lyrik nahm das evangelische Kirchenlied seinen Anfang. Ihre schönsten geistlichen Lieder verdankt die evangelische Kirche Paul Gerhard (1607–1676, starb in Lübben als Prediger). Ein einfaches Gemüt paart sich mit einem streitbaren Gotteseifer und einem unbeirrbaren poetischen Formgefühl. Wir alle, die wir Evangelische (ach! keine Evangelisten mehr …) sind, haben als Kinder diese Gedichte in der Konfirmationsstunde auswendig gelernt und in der kahlen Dorfkirche gesungen. In ihnen durfte sich das kindliche Gemüt Gott wahrhaft nah fühlen. Die Musik dieser Verse strich uns, wenn der lahme Küster die Orgel spielte, wie mit Vaterhänden über die Stirn, und unsere kindlichen Sorgen beschwichtigte das singende Geständnis, das unsere Lippen hauchten: Ich weiß, daß ein Erlöser lebt … Abends aber, wenn nach des Tages Arbeit wir mit Vater und Mutter und mit den Knechten und Mägden vor der Tür in der lauen Sommerluft saßen, eine Kuh verschlafen im Stalle muhte, die Hühner auf der Stange hockten, den Kopf im Gefieder, dann stimmte mein Großvater an, und wir fielen alle leise ein:

 
Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt' und Felder …
 

Von der lutherischen zur katholischen Kirche trat Angelus Silesius (aus Breslau, 1624–1677), der cherubinische Wandersmann, über. Er schrieb nach seiner Bekehrung jene mystischen Zweizeiler, in denen die »ägyptische Plage« des Dreißigjährigen Krieges einen so prägnanten, überaktuellen Ausdruck fand.

Um diese Zeit begann Magister Opitz (aus Bunzlau, 1597 bis 1639) seine lehrhafte Tätigkeit. Es ist heute leicht, sich über eine Menge seiner Unarten und Albernheiten lustig zu machen: sein Verdienst um die Hebung des allgemeinen Niveaus kann nicht bestritten werden. Ohne Opitz kein Gottsched, ohne Gottsched kein Herder, ohne Herder kein Goethe.

Paul Fleming (aus dem sächsischen Erzgebirge, 1609 bis 1640) wandelte als Planet im Gefolge der Opitzschen Sonne. Aber es sollte ihm gelingen, eigene Bahnen zu finden und sie zu überstrahlen. Seine zärtliche Liebe zu Elsabe schenkte der deutschen Dichtung einige ihrer schönsten Liebesgedichte. Fabrikanten von protestantischen Gesangbüchern haben es sich nicht nehmen lassen, ihre dogmatische Giftmischerkunst daran zu versuchen und umgekehrt, wie einst Christus, Wein in Wasser zu verwandeln. Sie setzten nämlich für Elsabe Jesus, und wenn im Liede Elsabe ihr Jawort gibt, so modeln sie das in: »Jesus gibt sein Ja auch drein«. Zu dieser Verballhornung hat Jesus sicher sein Ja nicht drein gegeben. Er wird im Himmel sanft gelächelt haben, denn er kennt seine Pfaffenheimer.

In der Lyrik der Schlesier Hofmann von Hofmannswaldau (1617–1679) und Daniel Caspar von Lohenstein (1635–1683) spielt Venus, prunkvoll aufgeputzt, eine triumphierende Rolle. Wenn sie, wie zuweilen bei Hofmannswaldau, vom Venuswagen steigt, ihr überladenes Geschmeide abtut und ein hübsches Breslauer Bürgermädchen wird, braunhaarig, braunäugig, rotwangig: da wird sie uns lieb und vertraut, wir setzen uns gern zu ihr ins Gras und lassen uns ein ihr zu Ehr und Preis verfertigtes Lied des Herrn von Hofmannswaldau mit leiser Stimme ins Ohr singen. Caspar von Lohenstein huldigte seinerseits neben der Venus den Göttern Mars und Mors. Er schrieb schwulstige Tragödien von schauerlicher Blutrünstigkeit. Der Entfaltung der Sitten und der Entwicklung der Tugend war die Zeit des Dreißigjährigen Krieges nicht gerade günstig. Im großen und im kleinen wurde geplündert, gemordet und vergewaltigt. Der Fürst vergewaltigte das Land, der Landsknecht die Bauernmagd. Zum Besten des Vaterlandes und zu höherer Ehre Gottes wurden die abscheulichsten Taten getan. Der Wiener Hofkapuziner Abraham a Santa Clara (1644–1709) wetterte in seinen Reden und Predigten mit Stentorstimme und einem gewaltigen Aufwand an schnurrigem Pathos gegen die Sittenlosigkeit, wobei er wenig genug ausrichtete. Der Elsässer Moscherosch (1601 bis 1669) malte in seinen »Gesichten Philanders von Sittewald« die Verrottung der Zeit, die ihre höchste dichterische Formung in Christoph von Grimmelshausens (aus Hessen, 1625–1676) »Abenteuerlichem Simplizissimus« fand. Neben dem Grübler Faust, dem weisen Narren Eulenspiegel kann man den reinen Toren Parsival als die dritte Verkörperung der deutschen Seele ansprechen. Parsival heißt bei Grimmelshausen Simplizissimus. Alle die vielfältigen Anfechtungen besiegt und überwindet die einfältige Seele, die groß und einfach in sich selber ruht, wie eine Perle in der Muschel. Der Hintergrund des Romans ist das zerrissene und zertretene Deutschland des Dreißigjährigen Krieges. Andreas Gryphius (aus Großglogau, 1616–1664) erlebte das allgemeine Elend seiner Zeit am eigenen Leibe und an eigener Seele nicht typisch wie Grimmelshausen, sondern individuell: und es gelang ihm, es bis zur reinsten lyrischen Gestaltung zu verklären. Das Leitmotiv seiner Gedichte ist das christliche Symbol von der Vergänglichkeit des Menschen und der Eitelkeit alles Irdischen. Dieses ursprünglich religiöse und fast kirchlich-dogmatische Gefühl vertieft sich in seinen Sonetten grandios künstlerisch zur Weltanschauung einer erschütternden Resignation und eines erhaben schmerzlichen Pessimismus. Die grauenvolle Zeit, die in dem Krieg und in dem Frieden, in dem wir heute gezwungen sind zu leben und zu sterben, eine Parallele findet, duldete keines fröhlichen Weltfreundes rosenroten Optimismus. Vanitas! Vanitatum vanitas! Es ist alles eitel. Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen – dies ist die bitterste Erfahrung, die uns auch der große Krieg von 1914 bis 1918 gelehrt hat. Lüge, Heuchelei, Mammonismus und Materialismus haben die Seelen regiert, und wo ist jemand, der da sprechen kann, daß die seine im Schwertertanz ums goldene Kalb ganz frei davon geblieben? Stoßt das goldene Kalb vom Sockel und setzt eine weiße Marmorstatue der Göttin der Liebe, der Welt- und Gott- und Menschenliebe an seiner statt und nehmt euch bei den Händen und schlingt um das Denkmal wie mit Rosenketten den Frühlingsreigen einer besseren Zeit. – Elegie und Ironie wohnen nahe beieinander. In Gryphius' Lustspiel »Horribilicribrifax« schwingt er spöttischen Mundes die Geißel über Halbbildung und Phrasentum, die sich als Folge der Überschätzung alles Militärischen besonders beim Offiziersstand bemerkbar machten. Der aufschneiderische Maulheld Horribilicribrifax ist eine köstliche Figur, die man heute noch leibhaftig herumlaufen sehen kann. – Einen bürgerlichen Maulhelden nahm sich Christian Reuter, ein Leipziger Student (geboren 1665), eine unstete Vagantennatur, die irgendwo im Elend verdarb und starb, zum Vorbild; es ist der Signor Eustachius Schelmuffski, dessen wahrhaftige, kuriose und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande auf das vollkommenste und akkurateste er an den Tag gab. Diese lügenhafte Reisegeschichte, die Schelmuffski über Schweden, die Bretagne, Rom bis nach Indien führt (sie ist dem hochgeborenen großen Mogul dem Älteren, weltberühmten Könige oder vielmehr Kaiser in Indien gewidmet …), ist einer der besten komischen Romane der Deutschen und nebenbei ein ergötzlicher Zeitspiegel. Auch Gryphius und Grimmelshausen spiegelten die Zeit. Sehen wir in ihren Zeitspiegel, steigt die Träne ins Lid.

Wie ein Sturmwind braust Johann Christian Günther (aus Striegau, 1695–1723), der Götterbote einer neuen Zeit, in die deutsche Dichtung. Er schmiedete ihr die Waffen, mit denen sie später unter Goethe den himmlischen Sieg erfechten sollte. Was wäre der Sturm und Drang ohne Günther? Was Goethe ohne Günther geworden? Er war sein Vorläufer, sein Johannes, der ihm die Wege bereitete. Wie in Frankreich der Vagant François Villon, so steht in Deutschland der ahasverische Wanderer Johann Christian Günther, Student und Vagabund, der Unstete, der Schweifende, am Anfang der neuen Dichtung. Nur wer den Mut zu Ab- und Seitenwegen hat, der wird auch neue Wege finden. Darum sind alle diese Pfadfinder von schwankender Menschlichkeit und durchweg, wenn auch nicht immoralisch, so doch amoralisch gerichtet. Sie sind verdammt, Lasten und Laster einer Generation vorweg zu nehmen und zu schleppen, die nach ihnen kommt. Diese hat ihre Freiheit der Unfreiheit, ihre schwebende Leichtigkeit der stampfenden Schwere jener zu danken. Jene sind wie Stiere, diese wie Sonnenadler. Der junge Goethe als Student in Leipzig: das ist eine wörtliche Neuauflage des jungen Günther. Der nie ein alter Günther werden sollte, denn er starb im 28. Jahre an einem Blutsturz. Diesen Blutsturz erlebte auch Goethe in Leipzig: aber er überstand ihn und ging gekräftigt aus der Krise hervor. Günther hatte sein Blut verströmt. Sein junges Leben und Dichten ist ein Verbrennen und Verbluten. Er ist der erste Dichter, der sich bewußt außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stellt, und der dadurch jenen latenten Konflikt mit seinem starrköpfigen Vater heraufbeschwor, der nicht wenig zu seiner Erbitterung und Verbitterung und zu seinem vorzeitigen Zusammenbruch beigetragen hat. Gar so leicht wurde es dem Kinde nicht, von selbst gehen zu lernen in einer Welt, die sich ihm feindlich gegenüberstellte, und die Ablösung von der Nabelschnur, die ihn in den Eltern mit dem Bürgertum verband, geschah nicht ohne Krämpfe und Schmerzen. Er hatte Feinde »ringsum«. Seine wilde Leier wünschten Tausende ins Feuer, »denn sie rasselt allzuscharf«. Wie ein von allen gemiedener räudiger Hund lief er durch Deutschlands Straßen. Da übermannte ihn die Verzweiflung, daß er zu sterben wünschte, weil Leonore selbst ihn verlassen. Aber er reißt sich wieder empor, die Tränen versiegen, die Faust ballt sich:

 
Ich will hoffen, Hoffnung siegt.
 

Und abends, auf der Dorfstraße, wenn er ein schönes Mädchen am Zaun stehen sah, konnte er wieder lächeln. Er lächelte und lachte ihr und sang ihr zu:

 
 
Schönen Kindern Liebe singen
Ist das Amt der Poesie,
 

und reichte ihr galant den Arm und spazierte mit ihr in den Wald oder auf den Kirchhof, und auf den Gräbern der Toten blühten die Küsse der Lebenden und Liebenden wie Jasmin und Tulipan.

Gelangt er bei seiner Wanderung in eine Universitätsstadt, versammelt er eine Genossenschaft junger trunkener Menschen um sich und singt ihnen das schönste deutsche Studentenlied:

 
Bruder, laßt uns lustig sein,
Weil der Frühling währet …
 

Sein Lorbeer grünt, wie er selber sang, auf die Nachwelt hin. Sein Name dringt durch Sturm und Wetter der Ewigkeit ins Heiligtum.

Mit Günther gleichaltrig ist der Ostpreuße Johann Christoph Gottsched (1700–1766), der der deutschen Literatur mit professoraler Weisheit und deutend erhobenem Zeigefinger: dies darfst du! und: dies darfst du nicht! auf die Beine helfen wollte. Ich weiß nicht, ob er Günther gekannt hat. Jedenfalls hätten ihn seine Wildheit und sein Feuer bestürzt und erschreckt. Er war für das Manierliche und Moralische. Bürgerlich-wohlanständig, klar, deutlich und nüchtern hatte die Poesie zu sein. In seinem »Versuch einer kritischen Dichtkunst für die Deutschen« stellte er eine enge und beschränkte Theorie auf und verlangte mit der Geste eines Diktators, daß sich jeder Dichter – immer mal wieder – strikt danach zu richten habe, ansonst der Herr Lehrer ihm eine Fünf ins Büchel schreibe. Das Wichtige an Gottscheds dramaturgischen Leistungen ist das Wagnis, das Experiment. Andere erst sollten aus seinen Erfahrungen lernen. Der Liebling des Lesepublikums wurde Christian Fürchtegott Gellert (aus Sachsen, 1715–1769). Denn er vereinigte die damaligen Richtungen harmonisch in sich: Gottscheds Steifheit, Bodmers »moralische« Phantasie, Hallers gebirgiges Barock und eine milde pietistische Frömmigkeit, die seit Gerhard und Gryphius aus der deutschen Dichtung nicht verschwunden war. Zu seiner Volkstümlichkeit trug nicht wenig ein ehrenfester, lauterer Charakter bei. In ihm durfte das Bürgertum sein Ideal sehen: selbst Friedrich der Große, der in seiner Schrift »Von der deutschen Literatur« vor der deutschen Dichtung absolut keinen Respekt zeigte, verneigte sich huldigend vor dem kleinen Leipziger Professor der Beredsamkeit und Moral. Seine Fabeln, Erzählungen und geistlichen Lieder plätschern sacht und sanft daher, hie und da mit einem Schuß gutmütiger Bosheit versehen, gerade so boshaft, daß es nicht weh tut. Weh tun wollte diese personifizierte Güte niemandem. Er war nicht nur ein Fürchtegott, sondern auch ein Fürchtemensch und Fürchtetier. Daß das Tier in ihm wie in jedem Menschen lebendig war, beweist eine in mancher Fabel durchbrechende Lüsternheit, die zu unterdrücken seine ganze moralische Kraft notwendig war. Denn er war zu krank, um einer animalischen Lust recht und wahrhaft leben zu können wie Friedrich von Hagedorn (aus Hamburg, 1708–1754), der Anführer einer ganzen Schar galanter Herren, die in erster Linie Kavaliere, in zweiter erst Dichter sein wollten und die Anbetung der Muse und der geliebten Frau höchst zweckmäßig vereinten.

Auf dem Wege über die Romanen waren Horaz und Anakreon zu den Deutschen gekommen. Bei dieser Wanderung hatten sie manches von ihren ursprünglichen Reizen verloren und manches an neuen Reizen hinzubekommen. Anakreon war in Frankreich ein leichtfertiger, eleganter Schürzenjäger, Horaz im Gefolge der päpstlichen Höfe ein überaus witziger, wohlbeleibter, immer leicht angetrunkener Domherr geworden, dem ein Kranz voll Weinlaub die Tonsur verdeckte, und bei dem die schönen Damen von Rom und Ravenna gern und willig beichteten, denn er sprach sie lächelnd von vornherein aller Sünden ledig. Anakreon und Horaz sind die Väter des französischen und des deutschen Rokoko: die griechischen Götter, nach französischer Mode aufgeputzt, Eros und Silen führten den trunkenen Reihen der Poeten, die sich griechische Namen gaben, wie Damon oder Bathyll, und ihrer liebreizenden Schäferinnen: Phyllis oder Chloe gerufen. Das ländliche Leben wurde Mode. Aber es war nur ein Aufputz. Die Damen frisierten sich als Bäuerinnen, ihr Herz war von der Natur recht weit entfernt, jede Berührung mit der wahren Natur und ihrer Derbheit erschreckte sie. Sie kleideten sich in Hirtenkleider, die ein Pariser Modekünstler entworfen hatte, und hüteten auf wohlgepflegten Wiesen kurz geschorene, weiß gewaschene, saubere Lämmchen, mit rosa Bändern am Hals und einer kleinen Glocke daran. Und die Hirtenstäbe der Herren waren mit Silber und Gold besetzt. Die anakreontische Lyrik beginnt, ungeschickt angeschlagen, schon bei den Pegnitzschäfern in Nürnberg um 1644 zu erklingen, einer der sogenannten Sprachgesellschaften, die im Anschluß an die Meistersingerschulen entstanden. Die Dichter dieser Gesellschaft, zu denen auch der gute Philipp Harsdörffer gehört, der Erfinder des »Nürnberger Trichters« (mit dem er den bedauernswerten Zeitgenossen die Poesie künstlich eintrichtern wollte), führten je einen Hirtennamen und als Symbol je eine Blume im Dichterwappen. Hagedorn und seine Kameraden sind begabter als ihre Vorläufer im 17. Jahrhundert. Die Hainbündler, die Stürmer und Dränger, der junge Goethe: sie konnten lange nicht von den hier angeschlagenen Tönen loskommen. Aber außer Goethe gelang es noch einem Lyriker, seiner im Walde der Anakreontik geschnitzten Flöte eigene Töne zu entlocken: Johann Georg Jacobi (aus Düsseldorf, 1740–1814). »Ihm war die Grazie (– übrigens das Lieblingswort der Epoche! –), die so mancher Anakreontiker sich mühsam anlernen mußte, angeboren« heißt es im Vorwort zu seinen »Sämtlichen Werken«. Verse wie die »An ein sterbendes Kind« gerichteten, sind rhythmisch so kühn und neu, daß sie von Goethe sein könnten.

Gottfried Keller hat in seiner Novelle »Der Landvogt von Greifensee« ein reizendes Bild von einem ländlichen Fest gemalt, das der Zürcherische Dichter Salomon Geßner (1730–1788) auf seinem Landhaus im Sihlwald seinen Freunden gibt. Dieser Salomon Geßner ist der Schöpfer der deutschen Idylle. Sein Talent ist begrenzt, aber innerhalb der Grenzen seines Talents bewegt er sich mit vollendeter Sicherheit und Anmut. Er gehört zu den allerliebenswürdigsten Erscheinungen der deutschen Dichtung. Geßner war einmal eine europäische Berühmtheit. Es wird nicht besser werden in der Welt, ehe es Geßner nicht wieder ist. Wir werden erst dann den ewigen Frieden haben, wenn arkadische Dichter wie er wahrhaft populär geworden sind.

Ist Opitz als Privatdozent, Gottsched als außerordentlicher Professor der deutschen Literatur anzusprechen, so darf man Gotthold Ephraim Lessing (geboren zu Kamenz, 1729) den Titel eines ordentlichen Professors und vortragenden Rates mit dem Prädikat Exzellenz nicht vorenthalten. Er ist nicht so langweilig wie die, die sich bei ihm langweilen. Aber er ist auch nicht der beschwingte Genius und Fackelträger, zu dem man ihn hat empordichten wollen. Ernst, behutsam und bedächtig suchte er mit seiner Laterne das Dunkel der deutschen Dichtung zu erhellen, und es gelang ihm, über viele dämmerige und nachtschwarze Stellen Licht und Erkenntnis zu verbreiten. Das besorgte er besonders mit seinen »Briefen, die neueste Literatur betreffend«. Da rief er Shakespeare, den Zauberer aus dem Wunderland der Wirklichkeit, zum Zeugen auf gegen Gottscheds Schablonenidealität. Da hob er den Mythos von Faust ans Licht, entdeckte entzückt das deutsche Volkslied und einen verschollenen Poeten wie Friedrich von Logau. Die Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie hat zu seiner Zeit alarmierender gewirkt als heute in den Primen der Gymnasien. Die klare Unterscheidung von den Möglichkeiten, von Harmonie und Differenz zwischen Malerei und Poesie tat dazumal bitter not. Denn die sogenannte beschreibende und malende Poesie, von Opitz eingeführt, von Haller, Matthisson und vielen minderen fortgeführt, drohte in ihren Auswüchsen die gerade nur erst hügeligen Ansätze einer neuen Dichtung völlig zu verflachen. Indem er die Plastik als räumlich, die Dichtung als zeitlich (nicht im historischen Sinne) bedingt definierte, eröffnete er auch Perspektiven auf Raum und Zeit, auf Traum und Ewigkeit schlechthin. Er rief den Dichtern zu: Nicht rasten! Nicht ruhen! Ruhe, Beharrung ist das Zeichen der bildenden Kunst. Ihr müßt, berlinisch gesprochen, Leben in die Bude bringen. En avant! Vorwärts! Attacke! Professor Lessing gerät hier in Feuer. Auch in der »Hamburgischen Dramaturgie« (1767 bis 1769) zeigt er sich reichlich temperamentvoll, wie er mit den französischen Klassikern herumfährt, daß ihnen nur so der Puder aus den Perücken fährt. Er restituiert Aristoteles und versetzt die wahre tragische Handlung in die Seele des Menschen. Den Regeln, die er in der Hamburgischen Dramaturgie aufgestellt, versucht er in einigen Dramen nachzuleben. In »Miß Sarah Sampson« wagt er schon 1755 das Drama von jeder Staatsaktion zu entkleiden und steigt ins gut, ins schlecht bürgerliche Milieu hinab. Er wollte beweisen, daß nicht bloß eine Prinzessin, sondern auch ein einfaches Bürgermädchen seine Tragödie erleben kann. Die französischen Klassiker reservierten prinzipiell das Tragische den Herren und Damen vom Hofe und den Göttern. In »Minna von Barnhelm« haben wir, trotz mancher Schwächen im einzelnen, eine wirkliche Dichtung. Professor Lessing lege seinen ersten Titel ab und sei Dichter Lessing genannt. Mit dem Prinzen von Homburg ist der Major von Tellheim einer der wenigen sympathischen preußischen Charaktere in der deutschen Literatur. In »Emilia Galotti« tritt Lessing unter der Maske des Odoardo als Richter den Fürsten seiner Zeit entgegen. Und sei hier nicht mehr Dichter, sondern Richter Lessing genannt. In »Nathan dem Weisen« faßt Lessing seine drei bisherigen Berufe noch einmal zusammen: hier ist er der Philosoph, der Dichter, der Richter. Hier predigt er die allgemeine Toleranz, die große Liebe. Der christliche Tempelherr, der Mohammedaner Saladin und der Jude Nathan feiern den Bruderbund der Menschheit. Die gute Idee ist nichts ohne die gute Tat. Gut denken heiße: gut sein. Zwei Jahre nach der Vollendung des Nathan vollendete sich Lessing selbst.

Das Größte an Klopstock (aus Quedlinburg, 1724 bis 1803) ist sein patriarchalisches Pathos. Es scheint, als hätte er schon Schulpforta mit neunzehn Jahren als Patriarch und Weltmeister verlassen. In seiner Abschiedsrede klingt das hohe Bewußtsein einer erlauchten Berufung. Ich will, so rief er, der Milton der Deutschen werden! – Und er ist es geworden. Alles, was er gewollt hat, hat er gekonnt. Wie ein Priester hat er seines Amtes gewaltet. Und wenn er, seine Bardengesänge, die Bardiete, singend, den deutschen Göttern opferte, war das Gotteshaus gefüllt mit andächtigen Jünglingen und Jungfrauen, die in ihm den Stellvertreter des deutschen Gottes auf Erden, den deutschen Papst, sahen. Er goß den deutschen Wein in griechische Pokale: in seinen »Oden«, die die fremde Form vergessen lassen, so deutsch sind sie. Er ist spröder als Hölderlin und unserem Empfinden schwerer zugänglich – aber die Bekanntschaft mit ihm wiegt Dutzende heutiger Lyriker auf. Seine zuchtvolle Strenge könnte der heutigen Auflösung gut tun. Die jungen Dichter könnten von ihm lernen, vorausgesetzt, daß sie überhaupt etwas lernen wollen. Der Meister Klopstock fühlte sich zeitlebens als »der Lehrling der Griechen«. Sein episches Hauptwerk ist der »Messias«, ein Gedicht von Sünde und Erlösung in zwanzig hexametrischen Gesängen. Es schildert den Weg des Gottessohnes vom Himmel durch die Hölle zur Erde und wieder zum Himmel: am schönsten in seinen hymnischen und lyrischen Stellen. Hin und wieder verleitet ihn das priesterliche Ornat zu zeremoniellen Gesten und oratorischen Phrasen.

Zwei seelische Richtungen suchten um die Mitte des 18. Jahrhunderts einander den Rang streitig zu machen: eine schwärmerische und eine rebellische. Die schwärmerische ging von Klopstock und seinem Gefolge: dem Hainbund (Hölty, Voß, Matthisson, dem Schweizer Salis-Seewis, Claudius) aus; die zweite blühte aus wilden Studentenkameradschaften empor, und ihr Meister hieß Johann Christian Günther. Sie selber aber nannten sich nach einem »Sturm und Drang« (1776) betitelten Drama eines der ihren, des Maximilian Klinger: Stürmer und Dränger. Klinger war ein Freund Goethes, und aus ihrem Kreise ist, betreut von Herders wachsamem Auge, der Stürmer und Dränger hervorgegangen, der sie alle überstürmen und zurückdrängen sollte: Goethe. Wie die Bruderbünde der heutigen jungen Dichter hatten sowohl die Hainbündler wie die Stürmer und Dränger die Brüderlichkeit, die Weltumarmung, die Menschlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben, und Freundschaft galt ihnen als ein heiliges Wort. Die bedeutendsten Mitglieder des Hainbundes waren Johann Heinrich Voß aus Mecklenburg (1751 bis 1826) und Ludwig Hölty, der 1776 im jugendlichen Alter von achtundzwanzig Jahren starb, der Apollo und Adonis des Bundes: gepriesen als der Liebling der Götter. Voß, der später die Redaktion des Bundesorganes, des Göttinger Musenalmanachs, übernahm, darf eigenen dichterischen Wert höchstens als Idylliker (Luise, Der siebzigste Geburtstag) beanspruchen. Zu den harmlosen, aber hübschen Hexametern war er angeregt worden durch Übersetzungen der Homerschen Odyssee (1781) und Ilias, die an Wert und Wirkung den Herderschen Stimmen der Völker in Liedern nicht nachstehen und den Blick der Deutschen auf das griechische Heldenepos lenkten. Wenn Achilles und Hektor in Deutschland so volkstümliche Figuren geworden sind wie Siegfried und Hagen, wenn Zeus und Hera in der Götterwelt Wodan und Freya den Rang streitig machen, so ist's das Verdienst von Voß, dem Ganymed, der lockige Schenke, im olympischen Saale dafür einen besonderen Humpen Nektar kredenzen möge!

 

Im Pantheon des Hainbundes standen die Hermen von Ossian, Klopstock und Herder, dagegen erscholl an die Adresse Wielands (1733–1813, aus Oberholzheim) in jeder Bundessitzung ein dreifach kräftiges Pereat. Dieser war in ihren Augen ein allzu ungezogener Liebling der Grazien. Seine charmanten Frivolitäten, sein graziöser, klingender Stil, spielend wie eine Wasserkunst im Schlosse irgendeines Rokokofürsten, fanden nicht Gnade vor ihren Augen. Sie ziehen ihn der Sittenlosigkeit, der Undeutschheit und traten seine Dichtungen mit Füßen oder verfertigten sich aus seinen reizenden Perioden Fidibusse, mit denen sie ihre Knasterpfeifen entzündeten, und Don Sylvio von Rosalva, der Jüngling Agathon und die zärtliche Musarion gingen wehklagend und seufzend in Flammen auf. Hatten die Hainbündler recht, dem armen Wieland so übel mitzuspielen? Doch wohl nicht. Im Grunde war er ihnen verwandter als sie ahnen oder fühlen konnten. Auch er war ein Schwärmer wie sie – aber er ging nicht wie sie durch eine, er ging durch tausend Schwärmereien hindurch und war vom Pietisten bis zum Wollüstling, vom Hetärenpriester bis zum Anbeter der mütterlichen Frau so ziemlich alles, was man sein kann. Was seine vielen Wandlungen verklärt: er war alles mit der gleichen Leidenschaft und Wahrhaftigkeit. Als Lyriker hatten die Hainbündler für Wielands Kunst der Erzählung kein Verständnis. Sein großer Roman »Agathon« (1766), die Entwicklung eines Menschen zu sich selbst, in einem stark stilisierten Altgriechenland sich begebend, wird immer ein Markstein in der Entwicklung der deutschen Prosadichtung sein, die auch durch den komischen Roman »Die Abderiten« (1780), eine Verspottung des Spießertums, Bereicherung empfing. Goethe weihte von allen Schriften Wielands dem Heldenepos »Oberon« (1780) den Lorbeer, und zwar im wörtlichsten Sinne: nach seinem Erscheinen sandte er ihm einen Lorbeerkranz. Der »Oberon« ist das erste Werk, das man neben Mahler Müllers »Genoveva« den Auftakt der Romantik noch mitten in der Klassik nennen könnte. Abendland und Morgenland gehe so phantastisch ineinander über wie die wirkliche und die Geisterwelt.

Unter den Hainbündlern waren einige, die zwar nominell ihm nahestanden, innerlich aber dem Sturm und Drang zugerechnet werden müssen. Unter ihnen ist vor allem Gottfried August Bürger (1747–1794, aus Ballenstedt) zu nennen, dessen titanischem Wollen (wie den meisten Stürmern und Drängern) nur ein sehr menschliches Gelingen beschieden war. Hin und her gerissen zwischen zwei Frauen schwebte er zwischen Himmel und Erde, bis ihn die Erde gnädig in ihren Schoß zurücknahm. Er war ihr einer ihrer liebsten, aber auch unglücklichsten Söhne. Seine Lieder an Molly sind von einer rasenden Leidenschaftlichkeit, der die Zügel durchgehen wie einem wildgewordenen Hengste. Vollkommen bewährte er sich in seinen Balladen. Auch die Legende von »Münchhausens wunderbaren Reisen« (1786) muß ihm herzlich gedankt werden, so wie wir dankbar bei dieser Gelegenheit des alten Musäus (1735–1787) gedenken müssen, der die Volksmärchen der Deutschen, darunter die Schnurren vom grobschlächtigen, schlesischen Waldgott Rübezahl damals grade sammelte und nacherzählte.

Waren die Hainbündler mehr besinnlich und lyrisch, so waren die Stürmer und Dränger mehr sinnlich und dramatisch, heute würde man sagen: mehr politisch, mehr aktivistisch gerichtet. Sie litten unter der sozialen und politischen Ungerechtigkeit des Zeitalters. Das Motto Schillers, das er über »Die Räuber« setzte: In tyrannos! kann man über die ganze Richtung setzen. Die Stürmer und Dränger waren die deutschen Vorläufer und Brüder der französischen Revolutionäre von 1789. Wie Wilhelm II. dem Erwachen der deutschen Dichtung aus dem patriotischen Winterschlaf nach dem siegreichen Krieg von 1870/71 zur Selbstbesinnung, zur Erhebung, zur Vergeistigung von seinem Standpunkt mit dem größten Recht mißtrauisch gegenüberstand – denn einer Revolution des Geistes pflegt eine solche der Tat auf dem Fuß zu folgen: so standen die damaligen Souveräne dem Ansturm der Stürmer ablehnend und erbittert gegenüber, denn es ging ums Gottesgnadentum, es ging um Autokratie oder Demokratie schon damals. Es handelte sich darum, ob die deutschen Fürsten ihre Untertanen als Schlachtenfutter nach Amerika verkaufen könnten wie ein Stück Vieh, um aus dem Erlös ihre fetten Huren und lasterhaften Gelage zu bestreiten, oder ob der Mensch ein Mensch wie sie, ob es nicht unvergängliche »Menschenrechte« gäbe, die niemand wagen dürfe anzutasten, der nicht ein Hundsfott oder Lump sein wolle. In den »Räubern« und in »Kabale und Liebe« zog Schiller gegen die Tyrannen vom Leder. Und es ist nicht zu verwundern, wenn Karl Eugen von Württemberg sich dieser Richtung gegenüber ähnlich äußerte wie später Wilhelm II.: »Die ganze Richtung paßt mir nicht!« Schiller wurde 1782 vierzehn Tage in »Schutzhaft« genommen; als der Fürst ihm wenig später überhaupt untersagte, weiterhin »Komödie« zu schreiben, machte Schiller dieser Komödie ein Ende und floh aus Württemberg ins Ausland. Sein Gesinnungsgenosse, der Schwabe Christian Schubart (1739 bis 1791), mußte die Auflehnung gegen die Tyrannei mit einer zehnjährigen Gefangenschaft auf dem Hohenasperg büßen. Er schleuderte den Fürsten die Verse der »Fürstengruft« wie Pfeile entgegen.

Jakob Reinhold Lenz (aus Seßwegen, 1751–1792) schrieb sein Drama »Die Soldaten«, in dem er die Immoralität des Soldatenlebens attackierte. Sein Leben wie sein Dichten zerrann ihm wie Wasser zwischen den Händen. Die Erscheinung Goethes blendete ihn, so daß er die Welt der Erscheinungen nicht mehr zu sehen vermochte und einer utopischen Welt verfiel, die halbe Wahrheit und ganze Dichtung nicht mehr auseinanderzuhalten verstand. Wäre er nur der Lenz geblieben, der er war! Vielleicht, daß er zu einem fruchtbaren Sommer gereift wäre! Aber er wollte ein Goethe werden.

Maximilian Klinger (aus Frankfurt, 1752–1831), dessen eines Drama der Bewegung den Namen gab, war eine bedächtigere Natur, obgleich seine Dramen selbst aus allen Fugen zu gehen scheinen. Im reiferen Alter resigniert er. In seinen »Betrachtungen« sind aus den Ungetümen und Unholden, die die Fürsten im Sturm und Drang waren, schwache Menschen geworden wie wir alle. In der Tendenz steht der Satiriker Georg Christoph Lichtenberg (aus Darmstadt, 1742–1799) den Stürmern nahe, besonders in seinen geistvollen politischen Bemerkungen.

Als der eigentliche Prosaiker der Richtung muß Wilhelm Heinse (1749–1803) betrachtet werden. Sein Renaissanceroman »Ardinghello und die glückseligen Inseln« predigt die Idee der Kraft, der Schönheit, der leiblichen und seelischen Nacktheit, der Scham- und Hüllenlosigkeit. Geschrieben in einem bezaubernden Stil, dessen Wohlklang nur noch von Geßner in seinen Idyllen und später von Jean Paul erreicht wird, bezaubert er auch durch die amoralische Anmut seiner Gestalten und durch die tropisch bunte Ausmalung des Schauplatzes. Der Starke hat Recht. Aber er siegt nicht durch seine Stärke, durch rohe Gewalt allein: sie muß sich mit Natürlichkeit, mit Geist, der Mut muß sich mit Anmut paaren. Heinses Genie war eine brünstige Flamme. Aber wer feuersicher ist (und nur der sollte sich ins Feuer wagen), der wird gestählt und gefestigt durch sie hindurchgehen.

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