Der Geschmack der Sehnsucht

Tekst
Autor:
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Der Geschmack der Sehnsucht
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kim Thúy

Der Geschmack der Sehnsucht


Aus dem Französischen von

Andrea Alvermann

und Brigitte Große

Verlag Antje Kunstmann

liegen, bei dir


ich liege bei dir. deine arme

halten mich. deine arme

halten mehr als ich bin.

deine arme halten, was ich bin

wenn ich bei dir liege und

deine arme mich halten.

ERNST JANDL, dingfest

mẹ Mütter

Mama und ich, wir ähneln einander nicht. Sie ist klein, ich bin groß. Sie hat dunkle Haut, ich habe den Teint französischer Puppen. Sie hat ein Loch in der Wade, ich habe ein Loch im Herzen.

Meine erste Mutter, die mich empfing und zur Welt brachte, hatte ein Loch im Hirn. Sie war jung, fast noch ein Kind vielleicht, denn keine vietnamesische Frau hätte es gewagt, ohne Ring am Finger ein Kind auszutragen.

Meine zweite Mutter, die mich in einem Gemüsegarten zwischen Okrapflanzen auflas, hatte ein Loch im Glauben. Sie glaubte nicht mehr an die Menschen, besonders, wenn sie sprachen. Also verkroch sie sich in einer Strohhütte fern der mächtigen Arme des Mekong, um Gebete auf Sanskrit zu rezitieren.

Meine dritte Mutter, die meine ersten zaghaften Schritte erlebte, wurde Mama, meine Mama. An jenem Morgen wollte sie wieder die Arme ausbreiten. Also öffnete sie die Fensterläden ihres Zimmers, die bis dahin verschlossen waren. Sie sah mich in der Ferne im warmen Licht, und ich wurde zu ihrer Tochter. Sie schenkte mir eine zweite Geburt, indem sie mich in einer großen Stadt aufzog, einem anonymen Anderswo, einem Schulhof, wo ich von Kindern umgeben war und um meine Mutter beneidet wurde, die Lehrerin war und geeiste Bananen verkaufte.

da Kokosnuss

Wir gingen jeden Morgen sehr früh einkaufen, bevor die Schule anfing. Zuerst zu der Marktfrau mit den reifen Kokosnüssen, die viel Fleisch und wenig Saft hatten. Die erste Hälfte der Nuss raspelte sie für uns mit einer Sprudelflaschenkapsel ab, die am Ende eines flachen Stabs befestigt war. Lange Streifen fielen in dekorativen Kringeln wie Bänder auf die Bananenblätter, die vor ihrem Stand ausgebreitet waren. Die Frau redete ununterbrochen und stellte Mama jedes Mal dieselbe Frage: »Was geben Sie dem Mädchen bloß zu essen, dass es so rote Lippen hat?« Um das zu vermeiden, hatte ich mir angewöhnt, die Lippen einzuziehen, doch die Geschwindigkeit, mit der sie die zweite Hälfte der Kokosnuss schabte, faszinierte mich so, dass ich sie stets mit offenem Mund dabei beobachtete. Sie stellte ihren Fuß auf einen langen Spatel aus schwarzem Blech, dessen Griff zum Teil auf einer kleinen Holzbank auflag, und rieb das restliche Fruchtfleisch von der Kokosnuss, schnell wie eine Maschine und ohne auf die spitzen Zähne am abgerundeten Ende des Spatels zu achten.

Wie die Raspel durch das Loch in der Mitte des Spatels rieseln, gleicht vielleicht dem Flug der Schneeflocken im Land des Weihnachtsmanns, sagte Mama immer und zitierte damit eigentlich ihre Mutter. Sie ließ ihre Mutter sprechen, um sie noch einmal zu hören. Und jedes Mal, wenn sie Jungen mit einer leeren Bierdose Fußball spielen sah, sagte sie zuverlässig leise londi, wie ihre Mutter.

th 2 Montag

th 3 Dienstag

th 4 Mittwoch

th 5 Donnerstag

th 6 Freitag

th 7 Samstag

chủ nhật Sonntag

Das war mein erstes französisches Wort: londi. Auf Vietnamesisch bedeutet lon »Dose« und di »weg«. Die beiden Klänge zusammen hören sich für die Ohren einer Vietnamesin an wie das französische lundi, Montag. Wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte, lehrte sie mich dieses Wort, indem sie mich aufforderte, auf die Dose zu zeigen, ihr dann einen Tritt zu versetzen und lon-di zu sagen, Montag. Dieser Wochentag ist der schönste von allen; ihre Mutter war nämlich gestorben, bevor sie ihr hatte beibringen können, wie man die anderen Tage ausspricht. So war nur der Montag mit einem klaren, unvergesslichen Bild verbunden. Die sechs anderen Tage waren einander ähnlich, weil ihnen die Bezüge fehlten. Deshalb verwechselte meine Mutter oft Dienstag mit Donnerstag und sagte statt Samstag Mittwoch.

t him gemeiner Chili

Immerhin lernte sie noch vor dem Verlust ihrer Mutter, Kokosmilch zu gewinnen, indem sie Kugeln aus geraspeltem, mit warmem Wasser getränktem Fruchtfleisch mit den Händen ausdrückte. Leise, flüsternd lehrten die Mütter ihre Töchter kochen, damit nicht Nachbarinnen die Rezepte stahlen und womöglich mit den gleichen Gerichten deren Männer verführten. Kulinarische Traditionen wurden heimlich weitergegeben, wie Zaubertricks vom Meister an den Lehrling, immer nur eine einzelne Fertigkeit im Rhythmus der alltäglichen Verrichtungen. Gemäß der natürlichen Ordnung lernten die Mädchen also, die Wassermenge für den Reis mit dem obersten Glied des Zeigefingers abzumessen, den »gemeinen Chili« (t him) mit der Messerspitze zu ritzen, um ihn in eine harmlose Blüte zu verwandeln, und Mangos von unten nach oben zu schälen, um nicht gegen den Faserlauf zu verstoßen …

chui Banane

So lernte ich von meiner Mutter, dass von den Dutzenden Bananensorten, die auf dem Markt verkauft werden, nur die chui xiêm-Bananen sich flachdrücken lassen, ohne zu brechen, und vereisen, ohne schwarz zu werden. Als ich in Montréal ankam, bereitete ich diese Köstlichkeit für meinen Mann zu, der sie seit gut zwanzig Jahren nicht mehr gegessen hatte. Er sollte wieder diese typische Vermählung von Erd- und Kokosnuss schmecken, zwei Zutaten, die in Südvietnam bei Desserts ebenso Verwendung finden wie beim Frühstück. Ich wollte meinen Mann bekochen und begleiten, ohne etwas aufzurühren, so wie die Nüsse fast unbemerkt bleiben, weil sie immer da sind.

chng Ehemann

Mama hatte mich diesem Mann aus Mutterliebe anvertraut, so wie die Nonne, meine zweite Mutter, mich Mama überlassen hatte, weil sie an meine Zukunft dachte. Als Mama sich auf ihren Tod vorbereitete, suchte sie für mich einen Mann, der die Eigenschaften eines Vaters haben sollte. Eine ihrer Freundinnen, die bei der Gelegenheit zur Kupplerin wurde, kam uns eines Nachmittags mit diesem Mann besuchen. Mama bat mich, den Tee zu servieren, sonst nichts. Ich sah ihm nicht ins Gesicht, auch nicht, als ich die Tasse vor ihn hinstellte. Mein Blick war nicht gefragt, nur seiner zählte.

thuyn nhân Boatpeople

Er kam von weit her und hatte wenig Zeit. Mehrere Familien erwarteten ihn, um ihm ihre Töchter vorzustellen. Er stammte aus Saigon, hatte Vietnam aber mit zwanzig Jahren per Schiff verlassen, als Boatpeople. Mehrere Jahre hatte er in einem Flüchtlingslager in Thailand verbracht, bevor er nach Montréal kam, wo er zwar Arbeit fand, aber keine richtige Heimat. Er war einer von denen, die zu lange in Vietnam gelebt hatten, um Kanadier werden zu können. Und die andererseits schon zu lange in Kanada lebten, um wieder Vietnamesen zu werden.

 

văn hóa Kultur

Als er von unserem Tisch aufstand, ging er unsicher zur Tür wie ein Mann, der sich zwischen zwei Welten verirrt hat. Er wusste nicht mehr, ob er vor oder nach den Frauen über die Schwelle treten sollte. Er wusste nicht mehr, ob er wie die Kupplerin sprechen sollte oder wie er selbst. Wir waren alle erschüttert, dass er jedes Mal stockte, wenn er sich an Mama wandte. Er nannte sie abwechselnd »große Schwester« (Chị), »Tante« (Cô) oder »Großtante« (Bác). Niemand nahm es ihm übel, weil er von weit her kam, wo Personalpronomina nur dazu dienen, unpersönlich zu bleiben. Die vietnamesische Sprache verlangt statt solcher Pronomina vom ersten Kontakt an eine bestimmte Haltung: Der Jüngere schuldet dem Älteren Respekt und Gehorsam, dieser wiederum schuldet dem Jüngeren Rat und Schutz. Wer ein Gespräch zwischen zwei Menschen mitanhört, könnte erraten, dass etwa der eine der Neffe eines der älteren Brüder der Mutter des anderen ist. Wenn die Gesprächspartner nicht miteinander verwandt sind, könnte man zumindest feststellen, ob der Ältere jünger ist als die Eltern des Jüngeren. Was meinen künftigen Gatten betraf, so hätte er ein gewisses Interesse an mir bekunden können, indem er Mama Bác genannt hätte, denn die Anrede als »Großtante« hätte Mama in eine Reihe mit seinen Eltern gestellt und ihre Position als Schwiegermutter angedeutet. Doch die Unsicherheit hatte ihn verwirrt.

quạt máy Ventilator

Zu unserer großen Überraschung kam er am nächsten Tag wieder mit einem Ventilator, einer Dose Ahornkekse und einer Flasche Shampoo als Geschenk. Diesmal war ich gezwungen, mich zwischen Mama und die Kupplerin zu setzen, gegenüber dem Mann und seinen Eltern, die Fotos von ihm auf den Tisch legten: er am Steuer seines Wagens, er vor einem Tulpenbeet, er in seinem Restaurant mit zwei großen Schalen in der Hand und dem Daumen in der heißen Suppe. Viele Fotos, alle von ihm allein.

hoa phưng Flammenbaum

Mama genehmigte einen dritten Besuch am übernächsten Tag. Er bat um ein Tête-à-tête mit mir. In Vietnam waren Cafés mit Stühlen an der Straße wie in Frankreich Männern vorbehalten. Frauen ohne Make-up und falsche Wimpern tranken keinen Kaffee, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Wir hätten Guanabana-, Sapoten- oder Papaya-Smoothies beim Nachbarn trinken können, doch dessen mit kleinen blauen Plastikhockern versehene Gartenecke schien eher für das scheue Lächeln von Schülerinnen und schüchterne Berührungen verliebter Hände gedacht zu sein. Wir aber waren bloß künftige Eheleute. Im ganzen Viertel blieb uns nur die rosa Granitbank vor den Wohnungen der Lehrer, wo auch wir wohnten, im Schulhof unter dem Flammenbaum, der die schwere Last seiner Blüten auf zarten, grazilen Ästen trug, die wie die Arme einer Tänzerin wirkten. Leuchtend rote Blütenblätter bedeckten die ganze Bank, bis er einen Teil wegwischte, um sich zu setzen. Ich blieb stehen, um ihn anzuschauen, und bedauerte, dass er sich nicht so sehen konnte, inmitten all dieser Blüten. In diesem Moment erkannte ich, dass ich immer stehen bleiben würde, dass er nie daran denken würde, mir neben sich Platz zu machen, weil er bloß ein einsamer, vereinsamter Mann war.

con sóc Eichhörnchen

Ich reichte ihm das Glas Limonade mit Salzlimette, das meine Mutter für ihn vorbereitet hatte. Er ähnelte diesen in Salz eingelegten, von der Sonne gedörrten und mit der Zeit vergällten braunen Limetten, denn sein Blick war nicht alt, aber gealtert, fast verschwommen, verwaschen.

»Hast du schon einmal ein Eichhörnchen gesehen?«

»Nur in Büchern.«

»Ich fahre morgen wieder.«

»…«

»Ich schicke dir die Papiere.«

»…«

»Wir werden Kinder haben.«

»Ja.«

Er gab mir seine Adresse, von Hand geschrieben, auf einem gefalteten Zettel. Dann ging er wieder, mit langsamen, zurückhaltenden Schritten, wie der Soldat, der für Mama das folgende Gedicht auf einen gefalteten Zettel geschrieben hatte:

Anh tặng em Cuộc đi anh không sng Gic mơ anh chỉ mơ Một tâm hn đ trng Nhng đêm trắng mong ch Anh tặng em Bài thơ anh không vit Ni đau anh đi tìm

Màu mây anh chưa bit Tha thit của lặng im Ich schenke dir Das Leben, das ich nicht lebte Den Traum, von dem ich nur träumen konnte Eine Seele, die ich leer ließ In den weißen Nächten des Wartens Zu dir trage ich als Geschenk Das Gedicht, das ich nicht schrieb Den Schmerz, zu dem ich strebe Die Farbe der Wolke, die ich nicht kannte Die Sehnsüchte des Schweigens*

áo dài Tunika

Er hieß Phuong. Mama kannte ihn, seit er mit Sandalen Boule gespielt hatte. Er war ihr aufgefallen, weil er seinen Wurf immer verfehlte, wenn sie auf dem Rückweg von der Schule an ihm vorbeikam. Seine Mitspieler meinten, Mama bringe ihm Unglück. Er wartete auf seine Chance, jeden Tag zur gleichen Uhrzeit, auch wenn er noch nicht wusste, worauf genau. Er konnte es erst benennen, als er Mama zum ersten Mal in ihrem weißen áo dài sah, der Uniform ihrer neuen Schule, deren Name blau gestickt auf einem Etikett zwischen ihrer Schulter und der linken Brust angebracht war.

Aus der Ferne verwandelten die vom Wind gebauschten Stoffbahnen sie in einen Schmetterling mit leichtem Flug und unbekanntem Ziel. Von diesem Moment an verpasste er sie kein einziges Mal, wenn sie vom Unterricht kam, und folgte ihr in großem Abstand bis nach Hause.

guc Holzsandalen mit Absätzen

Erst lange Zeit später sprach er sie zum ersten Mal an, als ihr ein Absatz abbrach, wie ihre Halbbrüder und -schwestern es vorausgesehen hatten. Spontan eilte er zu ihr hin, bot ihr seine eigenen Sandalen zum Tausch und ging mit dem abgebrochenen Absatz davon. Als er ihn bei einem Cousin, der Särge herstellte, reparieren wollte, wunderte er sich über die Sägespuren im Holz. Am nächsten Morgen erwartete er Mama vor der Bougainvillea, die die Strenge des Eisentors vor dem Haus des Richters milderte. Kaum hatte er Mama über die erste Steinplatte der Einfahrt schreiten sehen, bückte er sich und stellte die Schuhe richtig herum auf die Schwelle. Dann entfernte er sich ein paar Meter, um Mama nicht zu kompromittieren. Sie schlüpfte hinein und ließ in der Spur ihrer Füße Phuongs Sandalen stehen, die es ihr erlaubt hatten, ihren Heimweg fortzusetzen, ohne sich zu beschmutzen, ohne stehenzubleiben, ohne zu weinen.

mưa Regen

Seit Phuongs Schatten dem ihren folgte, weinte sie nicht mehr unter ihrem mit einer Nadel durchlöcherten Schirm, weil Phuongs Schirm immer da war, um sie zu schützen, bevor der erste Tropfen fiel, ja, bevor sie die erste graue Wolke aufziehen sah. So hatte sie zwei Schirme übereinander, und Phuong ging barhäuptig drei Schritte hinter ihr. Nie verspürte er den Wunsch, mit ihr unter demselben Schirm Schutz zu suchen, denn wären sie nebeneinander gegangen, hätte der Regen womöglich den Glanz ihrer makellos glatten schwarzen Haare getrübt.

Von außerhalb des Gartens mit den Longan-, Papaya- und Jackfruchtbäumen war es unmöglich, Mamas Schweigen zu hören. Niemand außer den Dienstboten konnte ahnen, dass ihre Halbgeschwister sich einen Spaß daraus machten, ihrem Kamm jeden zweiten Zahn auszubrechen und ihr im Schlaf Haarsträhnen abzuschneiden. Mama schaffte es, sich von der Unschuld dieser Taten zu überzeugen oder davon, dass diese Taten der Unschuld selbst entsprangen. Sie schwieg, um diese Unschuld und die ihres Vaters zu bewahren. Er sollte nicht sehen, wie seine eigenen Kinder sich gegenseitig in Stücke rissen, denn er war bereits Zeuge und Richter des Risses, der durch sein Land, seine Kultur, sein Volk ging.

Mẹ Ghẻ kalte Mutter

Mamas Vater hätte nach dem plötzlichen Tod seiner ersten Frau lieber keine Kinder mit einer zweiten bekommen, denn die neue Frau würde unvermeidlich eine Mẹ Ghẻ werden, eine »kalte Mutter«. Aber er hatte noch keinen Sohn, um den Fortbestand des Familiennamens seines Vaters und aller Ahnen zu sichern, die ihn überwachten und von der Höhe ihres Altars leiteten. Also spielte diese kalte Mutter ihre Rolle als Ehefrau, indem sie ihm Söhne schenkte, und die der Stiefmutter wie bei Schneewittchen, Aschenputtel und all den anderen Waisenprinzessinnen.

Man muss dazu sagen, dass ghẹ auch »Räude« bedeutet. Um also dem ihr auferlegten unschönen Titel gerecht zu werden, lehrte sie ihre Kinder, Mama und ihre großen Schwestern zu hassen, eine Trennlinie zu ziehen zwischen dem ersten und dem zweiten Wurf und sich von den anderen Mädchen abzuheben, auch wenn alle die gleiche Nase hatten. Ich frage mich, ob diese »räudige Mutter« weniger verbittert gewesen wäre, wenn sie, wie Stiefmütter auf Französisch, »Belle-Maman« geheißen hätte, »schöne Mama«. Hätte sie dann die Schönheit von Mamas großen Schwestern weniger gefürchtet? Und sie nicht so schnell verheiratet?

sạn Splitt

Als Jüngste musste Mama warten, bis sie an der Reihe war, verheiratet zu werden; bis dahin las sie Kies- und Splittreste aus dem Reis wie Gebetsperlen. Ihre kalte Mutter hatte den Köchinnen verboten, ihr zu helfen, um sie Gehorsam und Disziplin zu lehren. Mama lernte vor allem, biegsam zu sein, unauffällig, ja, unsichtbar. Beim Tod ihrer Mutter sagten die Leute, endlich habe sie ihre Schuld auf Erden beglichen, sodass sie gehen könne. Also suchte Mama die Steinchen aus dem Reis, als wären sie Teil ihrer Schuld, einer Last, die sie am Fortfliegen hinderte. Sie entfernte sie in der Hoffnung, den Zustand der Schwerelosigkeit zu erlangen. Sie freute sich, wenn ihr Topf sich mit den Verunreinigungen füllte, Mahlzeit für Mahlzeit, Tag für Tag. Sie begrub diesen Topf unter dem Mangobaum neben der blechernen Keksdose mit dem Roman Ein Leben von Guy de Maupassant, den sie aus der Bibliothek ihrer Mutter hatte retten können. Ihre kalte Mutter brauchte nämlich den Platz, damit die Luft um die Hängematte zirkulieren konnte. Vielleicht hatte sie recht, denn die an der Decke befestigte Stoffbahn, die als Fächer diente, bewegte nur die Luft, die sich direkt über dem schlafenden Körper ihres Gatten befand.

quạt Fächer

 

Es war Mamas Aufgabe, durch Ziehen der Kordel den Fächer in regelmäßigem Rhythmus von links nach rechts zu schwenken, um die Hitze zu vertreiben, ohne ihren Vater in seiner Mittagsruhe zu stören. Mama liebte diese privilegierten Momente mit ihm, war sie doch sicher, ihn durch die wiederholte sanfte Bewegung zu beruhigen und darin zu bestätigen, dass in der Familie Harmonie herrschte.

Manchmal, wenn ihm so viel durch den Kopf ging, dass er kein Auge zubekam, bat er sie, ihm Truyện Kiu vorzutragen, die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich opfert, um seine Familie zu retten. Manche sagen, solange dieses Gedicht von mehr als dreitausend Versen weiterlebt, wird kein Krieg Vietnam je auslöschen können. Deshalb vielleicht kann seit über einem Jahrhundert sogar jeder Analphabet ganze Strophen daraus rezitieren.

Mamas Vater verlangte von all seinen Kindern, dieses Gedicht auswendig zu lernen, denn der Autor schildert darin unter anderem Reinheit und Verzicht, zwei Grundtöne der vietnamesischen Seele. Mamas Mutter bestand vor allem auf den ersten Versen des Gedichts, die den Leser daran erinnern, dass alles sich verändern, alles augenblicklich kippen kann.

In hundert Jahren, die vielleicht ein Leben währt, in dieser Erdenspanne widersprechen oft sich Gabe und Geschick. So musste ich in Zeiten, da Gedanken sich und Menschen wandelten wie Meere – aus den Wogen wuchsen Mailbeerfelder –, Dinge schauen, die mein Herz zerrissen. Welch Gesetz, das nur den Überfluss begreift, wenn Mangel ihn begleitet! Muss der blaue Himmel stets mit rosenroten Wangen kämpfen, weil die Eifersucht ihn quält?**

nhân dạng Identität

Mamas Leben kippte mit dem Knall des ersten Schusses aus einem Hinterhalt zwischen zwei Ufern, zwischen Ost und West, zwischen dem Widerstand, der die Unabhängigkeit forderte, und dem herrschenden Regime, das Kinder mit Schlitzaugen lehrte, »unsere Ahnen, die Gallier« zu sagen, ohne den Widerspruch darin zu sehen. Sie war gerade auf einer Fähre über den Mekong, als die ersten Passagiere getroffen wurden. Alle duckten sich unwillkürlich, sie hob den Kopf in der ersten Stille vor dem zweiten Kugelhagel. Ihr Nachbar, ein zahnloser älterer Mann mit ledriger Haut und lebhaftem Blick, drückte ihren Kopf nach unten und befahl ihr, alle Papiere über Bord zu werfen: »Wenn du überleben willst, gibst du deine Identität auf.«

hai làng đạn zwei Schusslinien

Danach brach das Chaos aus. Kinder weinten und flehten ihre Eltern an aufzuwachen, gackernde Hühner flatterten in ihren Weidenkörben, Gegenstände fielen herunter, rutschten von links nach rechts und von rechts nach links, und all das vermischte sich zu der typischen misstönigen Melodie der Panik vor dem Unbekannten und vor allem dem Bekannten. Die Konflikte sickerten in die Lücken des Alltags ein. Sie atmeten dieselbe Luft wie Mädchen, die Seil sprangen und sich den Raum mit den Jungen teilten, die Kricketkämpfe austrugen. Die Einwohner lernten, tagsüber den Beamten Geld zu geben und abends den Widerstandskämpfern Reis. Sie gingen auf leisen Sohlen zwischen zwei Schusslinien hin und her und vermieden es, ihre Füße auf eines der beiden Territorien zu setzen, deren Grenzen unsichtbar waren und je nach Uhrzeit wechselten. Sie blieben neutral und umarmten beide, wie Eltern, die ihre beiden verfeindeten Söhne lieben.

Ohne ihren Ausweis konnte Mama neutral bleiben, als bewaffnete Männer sie aufforderten, aufzustehen und ihnen zu folgen. Nach drei Schritten wurde sie ohnmächtig, als sie die blutroten Flecken auf ihrer weißen Tunika sah. Sie glaubte, sie wäre getroffen, doch es war das Blut anderer Passagiere, darunter das ihres Nachbarn, der sich von Befehlen aus Gewehrläufen und Kolbenhieben nicht hatte beeindrucken lassen.

kiên nhn Geduld

Mama erwachte in der Ecke einer Strohhütte, umgeben von vertrauten Geräuschen. Ganz in der Nähe hörte sie das Knistern von Kohlen, das Rauschen von Wasserpalmenwedeln und leise Gespräche, unterbrochen von Hundegekläff und dem regelmäßigen Klacken eines Messers auf einem Holzbrett. Der Duft von gehacktem Zitronengras streichelte ihre Nase wie eine mütterliche Hand die Wange. Ihre Angst verging. Doch als sie ihre Augen öffnete, sah sie eine Welt, die ihr fremd und unbekannt war. In diesem Dorf gab es keine »Frau« und keinen »Mann« mehr, nicht »Tante« noch »Großonkel«, nur Genossen. So wurde sie zu Genossin Nhn, ein Name, den sie sich gegeben hatte, bevor sie die Augen zum ersten Mal aufschlug, ein Name ohne Gepäck und Familie. Er war ihr fast von selbst gekommen, weil sie sich dieses Wort schon hunderte Male gesagt hatte, vor den Schüsseln mit der Schmutzwäsche ihrer Halbgeschwister. Bei jedem Fleck und jeder Spur, die sie absichtlich hineingemacht hatten, um das Weiß der Baumwolle zu brechen und die 72-prozentige Seife, die wie Marseiller Seife war, zu testen, flüsterte sie ganz leise »kiên nh Geduld –, ihr persönliches Mantra oder besser ihre Erfüllung, denn am Ende wurde ihr das Reiben der feuchten, eingeseiften Stoffe zu einer sanft verzaubernden Melodie.

Fünf Jahre lebte sie in dem Dorf als Nhn, ein Name mit einer Botschaft wie viele andere. Einige hatten »Entschlossenheit« (Chí) gewählt. Andere hatten »Land« (Quc) vorgezogen und manche sich an »Mut« (Dũng) oder »Frieden« (Bình) getraut. »Orchidee« (Lan), »Wohlstand« (Lộc) oder »Schnee« (Tuyt) hatten alle aufgegeben.

Vielleicht hätte sie weglaufen und nach Hause zurückkehren können, denn es gab weder Mauern noch Stacheldraht um das Dorf. Niemand hatte sie gefoltert. Niemand hatte sie festgebunden. Niemand hatte sie verhört. Von ihr wurden nur Aufsätze und Vorträge über Patriotismus, Mut, Unabhängigkeit, Kolonialismus, Opfer verlangt. Nie wurde sie nach dem Namen ihrer Eltern, der Anzahl ihrer Geschwister oder gar ihrem wahren Namen gefragt, denn die Mitglieder des Widerstands hatten ihre Familie für einen kollektiven Zweck verlassen, der ihr persönliches Leben auslöschte. Im Gegensatz zu ihr waren die meisten freiwillig in den Widerstand gegangen. Sie schämte sich, nie dieselbe bedingungslose Liebe zu diesem Land empfunden zu haben, das auch ihres war. Sie schämte sich auch, dass sie lieber innerhalb dieser unsichtbaren Grenzen blieb, um ihrer Familie Verdächtigungen und Verratsvorwürfe zu ersparen, wenn sie zurückkehrte, um mit ihnen zu leben, nachdem sie auf der anderen Seite gelebt hatte, beim Feind. Und sie blieb auch um ihrer selbst willen, um nicht leben zu müssen. In diesem Dorf musste sie nur folgen.

mìn Mine

Anfangs folgte sie der Routine der Küchenverantwortlichen und Krankenpfleger. Als später Hornhaut und verhärtete Narben ihre Füße schützten, folgte sie wochenlang einer Gruppe, die mitten im Tropenwald Minen herstellte, und übersetzte Chemiehandbücher aus dem Französischen ins Vietnamesische. Einmal erhielt sie den Befehl, einer Genossin in einem braunen vietnamesischen Hemd zu folgen. Die nahm sie mit zum Markt, wo eine Frau in einer verblichenen lavendelfarbenen Bluse ihr ein Tragejoch übergab. Der Korb auf der einen Seite enthielt Wasserspinat, der auf der anderen Yams. Als sie sich den Bambusstab auf die Schulter legte, zogen die riesigen Wurzeln das Joch nach hinten. Mama verlor das Gleichgewicht, bis sie es nach ein paar Sekunden schaffte, das Schwanken der beiden Gewichte mit ihren Schritten zu synchronisieren. Sie passierte den Kontrollpunkt auf der Brücke, indem sie sich unter die Menge mischte. Ein paar Straßen hinter der Brücke verlor sie die Frau mit der lavendelfarbenen Bluse aus den Augen. Kurz darauf packte eine andere sie am Arm und sprach sie an:

»Sind Ihre Yamswurzeln heute auch schön nahrhaft, kleine Schwester? Sie sehen gut aus. Meinem Sohn ist ein Zahn gezogen worden. Ich möchte ihm einen Yamsbrei machen, als Abwechslung zur Reissuppe. Er ist nämlich heikel. Aber ein guter Sohn. Ich reibe nicht gern Yamswurzeln. Das piekst mir zu sehr in den Händen. Könnten Sie mir helfen? Könnten Sie mit mir nach Hause kommen und sie für mich reiben? Kommen Sie! Kommen Sie mit!«

Als sie dieser Frau folgte, begann, ohne dass sie es wusste, ihre Arbeit als Spionin für den Widerstand.

cha Vater

Ein paar Wochen lang schlief sie in der Küche dieser Frau, bevor sie wieder in ein anderes Haus gebracht wurde, wo ihre Anwesenheit von Nutzen sein könnte. Auf dem Weg dorthin, der durch eine Durianplantage führte, inmitten dieser schweren, stachligen Früchte, die glücklicherweise nur nachts herunterfallen, sah sie ihren Vater im Gespräch mit zwei Männern. Unwillkürlich wollte sie zu ihm hinlaufen wie als kleines Mädchen. Dabei rutschte ihr Spitzhut nach hinten und enthüllte einen Blick, der ihren Impuls verriet. Noch bevor sie den Körper in dieselbe Richtung wenden konnte wie ihre Augen, sagte ihre Begleiterin: »Đng.« Nicht »Nein«, »Halt« oder »Lauf«, sondern »Halt dich zurück«. Und Mama gab nach. Ihr Vater war sehr gealtert in den fünf Jahren. Er hatte zwar noch die beeindruckende Haltung eines ehemals hohen Beamten, doch seine Wangen waren eingefallen, als seien ihm die Lachmuskeln abhandengekommen. Sie fürchtete, dass er sie sehen könnte, dann hätte er eine weitere Last zu tragen, eine weitere Situation zu lösen und vor allem hunderte von Antworten an die Behörden zu geben gehabt.

Das war das letzte Mal, dass Mama ihren Vater sah: zwischen den Durianbäumen, die die Vietnamesen su riêng nennen. Bis zu diesem Tag hatte sie nie daran gedacht, dass dieser Name aus zwei Worten gebildet wird, die wörtlich übersetzt »persönliche Traurigkeiten« bedeuten. Vielleicht vergisst man das, weil die Traurigkeiten wie das Fleisch der Durianfrüchte in fest verschlossenen Kammern unter einem stachligen Panzer stecken.

trắng weiß

Ich habe nie erfahren, wer mein Erzeuger war. Böse Zungen mutmaßten, dass er weiß, groß und Kolonialist war, weil ich eine schmale Nase und durchscheinende Haut habe. Mama sagte mir oft, sie hätte sich dieses Weiß für mich gewünscht, das Weiß der bánh cun. Sie nahm mich zu einer Straßenhändlerin mit, die diese vietnamesischen Crêpes machte, und wir sahen zu, wie sie die Reismehlmischung auf ein Baumwolltuch über einem riesigen Kessel mit kochendem Wasser goss und mit ihrer Kelle darauf verstrich, bis es zur Gänze davon bedeckt war. Binnen Sekunden verwandelte sich der Teig in eine feine, durchsichtige Haut, die die Frau mit ihrem zu einem langen, dünnen Spatel angespitzten Bambusstab abnahm. Mama behauptete, sie sei die einzige Mutter, die ihre Tochter während des Mittagsschlafs so damit zu umhüllen wisse, dass deren Haut schimmere wie Schnee und leuchte wie Porzellan. Und wie die Lotusblüten ihren Duft trotz des Gestanks der Sümpfe bewahrten, dürfe ich niemals zulassen, dass Frechheit diese Reinheit beflecke.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?