Der falsche Feldhase (eBook)

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Samo

Samo Krasniqi, 34, aus Saranda im Süden Albaniens, wartet im Tiergärtnertor, das zum Tiergärtnerplatz in Nürnberg führt. Es regnet, aber hier steht er im Trockenen und kann den ganzen Platz überblicken, vor allem den Eingang zum Dürer-Haus. Er tippt in sein Smartphone, aber nur zur Tarnung. Er ist ganz unauffällig angezogen, auf den ersten Blick, aber teuer auf den zweiten. Am liebsten kleidet er sich mit Klamotten, die deutlich sagen, wie sie heißen, damit es auch der Letzte kapiert. Heute trägt er ein schwarzes Burberry-Sweatshirt, Dsquared2-Jeans, Sneakers von Dolce & Gabbana und eine Prada-Baseballkappe, nach hinten gedreht. Überall steht das Logo drauf; alles Originalware, nichts Gefaktes, das ist ihm wichtig. Samo hat die gedrungene Figur, den rasierten Schädel, das kartoffelige Gesicht, die krumme Nase und die Schultern des Mittelgewichtsboxers, der er in seiner Freizeit ist. Boxen betrachtet er aber als reinen Sport, in seinem Tagesgeschäft ist es ineffizient, ein Luxus, eine unnötige Großtuerei. Das Messer, das er in der Gesäßtasche trägt, ist viel sinnvoller und schneller.

»Mensch, Ambro, tu mal langsam«, keucht Dorothea Ambrosius hinterher. »Es nützt ja nichts, wenn du vor mir da bist. Wir gehen zu zweit rein, hab ich gedacht.«

Ambrosius hastet weiter die Albrecht-Dürer-Straße hi­nauf. Die beiden haben die Ente im Parkhaus in der Schustergasse geparkt und schieben sich bergauf in Richtung Albrecht-Dürer-Haus.

»Bleib mal stehen, Herrschaftszeiten«, ruft Dorothea.

Ambrosius bleibt stehen. »Du könntest schon etwas mehr für deine Kondition tun«, sagt er. »Andere Frauen in deinem Alter …«

»Ein Wort noch, und du kannst deinen beschissenen Hasen selber holen und ins Klo spülen.«

»Nicht so laut, Doro. Wir sind gleich da.«

»Außerdem bringt es gar nichts, wenn nur ich nicht auffalle.«

Wie sie nach Nürnberg hineingefahren sind, hat es noch geregnet; jetzt hört es langsam auf, und die Sonne kommt heraus. Dorothea hat ihre Kopfbedeckung im Auto gelassen, aber Ambrosius hat nicht nur seinen Bushwacker-Hut noch auf, er hat auch eine Wrap-Around-Sonnenbrille aufgesetzt.

»Weißt du, Doro, wegen dem Bild heute in der Zeitung.«

»Also. Wir gehen ins Haus. Und dann?«

»Die Exponate der Diehl-Stiftung sind im vierten Stock. Im dritten ist eine Druckerstube eingerichtet, und darüber, im Dachgeschoss, ist die Ausstellung. Auf dem Tisch liegt eine Mappe, die kann man durchblättern, und in der ist irgendwo der Hase.«

»Woher weißt du das so genau?«

»Das hat mir der Typ alles am Telefon erzählt.«

»Und was ist, wenn ich den echten Hasen von Dürer erwische und ins Klo spüle? Das wäre schon ein ziemlich spektakulärer Fehler, oder? Da würden wir dann auch berühmt werden.«

»Doro, bleib ernsthaft. Du kannst den echten Hasen von Dürer gar nicht erwischen, weil er in Wien ist, in der Albertina. Mensch. Das weiß man doch.«

»Ja, tut mir leid. Und sind die Bilder nicht irgendwie gesichert? Mit Alarm und so? Ich will mich nicht wie in dem Film da von der Decke abseilen müssen.«

»Ach ja«, Ambrosius lacht kurz auf. »Topkapi. Der war gut. Der Tom Cruise hat das nachgemacht im ersten Mission Impossible. Nee, das brauchst du nicht.« Er schaut sie an. Dann bricht er in ein noch größeres Gelächter aus. »Mensch, Doro. Das ginge auch gar nicht.«

»Vorsicht.«

Er zieht sie zu sich, immer noch lachend, und ihre Stirnen berühren sich. Wie zwei tapsige Bären stehen sie da, bereit zum Tanz, mitten auf der Albrecht-Dürer-Straße.

»Mensch, Doro, ich stell mir das vor«, sagt er. »Wie ich dich abseile. Das wäre doch ein Bild.« Er rubbelt an ihren Armen.

»Sehr lustig.« In der Umarmung riecht Ambro genau wie früher; nach Farbe, Holz, Tabak und Schweiß. Wann haben sie das letzte Mal miteinander geschlafen?

Sie treten auseinander.

»Also, die Bilder an der Wand sind gesichert, aber die in der Mappe nicht«, sagt er. »Wie gesagt, das sind Studien. Du musst halt schauen, dass du allein im Zimmer bist.«

»Gut, dass du das sagst. Ich hätte sonst vor irgendwelchen Schulklassen oder Kreuzfahrtgruppen das Bild in meine Unterhose gesteckt. Sind da keine Kameras?«

»Das weiß ich nicht.«

»Das weißt du nicht. Aha.« Dorothea stemmt die Fäuste in die Hüften. »Du schickst mich da rein, um für dich die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen, und weißt nicht, ob ich in Handschellen wieder rauskomme und für ein paar Jahre hinter Gittern verschwinde.«

»Jetzt mach mal nicht so auf dramatisch. Weißt du was, ich geh jetzt vor, schaue mir die Lage direkt bei der Kasse an, und komme dann wieder.«

Samo ist ein kleiner Fisch, aber er will ein Hai werden. Vor fünf Jahren ist er nach Deutschland gekommen, nach Lörrach. Sein Clan hat ihn dahin geschickt. Das Dreiländereck liegt strategisch günstig, um die Schweiz, Frankreich und Deutschland mit Heroin zu versorgen, das von Afghanistan über die Türkei und dann über die Balkanroute von Samos Clan begleitet wird. Er ist ein Läufer, also am Ende der Kette, er streckt das Heroin mit Paracetamol-Pulver und bringt die Ware von Lörrach zu den Dealern in den größeren Städten, unter anderem nach Nürnberg. Zwischen den Drogenlieferungen, die alle zwei, drei Wochen ankommen, hat er Zeit, anderweitig Geld zu verdienen. Sein Clan mischt auch bei gefakter Markenkleidung mit, deswegen weiß er, wie man zwischen echter Markenware und Fälscherware an den Nähten unterscheidet. Bei Kunstfälschungen ist der Clan auch im Geschäft, bevorzugt solchen aus der russischen Avantgarde-Szene. Von daher kennt er den von Rottberg. Der hat ihm ein Handy gegeben, extra für ihre Anrufe. Samo darf das Handy nicht für andere Gespräche benutzen.

Eigentlich heißt Samo inzwischen Isuf, er muss seinen Namen alle drei Monate ändern, weil seine Aufenthaltsgenehmigung dann immer wieder ausläuft. Ein neuer Name kostet in Albanien 50 Euro, das übernimmt der Clan. Samo muss sich nur merken, wie er jeweils heißt, damit er die richtige Antwort gibt, wenn die Polizei ihn kontrolliert. Tarik, Luan und Kushtrim hat er schon durch.

Ah, da kommt er schon, das muss er sein, der Typ, den er abpassen soll. Ein Riesenkerl mit einem Pferdeschwanz erscheint vor dem Dürer-Haus und geht hinein. Samo wird ihm ein paar Minuten geben und ihm dann folgen.

Drei Schüler aus dem Johannes-Scharrer-Gymnasium schlendern über den Tiergärtnerplatz, dessen Pflastersteine vom letzten Regen glänzen. Sie biegen in das Tiergärtnertor ab. Zwischen zwei kleineren Jungs, die Samos Größe haben, ragt ein hochgewachsener, schlaksiger Kerl empor, mit Rucksack in der rechten Hand und einer lässigen, über die linke Augenbraue hängenden Haartolle. Er trägt ebenfalls eine Baseballkappe, aber mit dem Schirm nach vorne, irgendwas Billiges, wahrscheinlich von Aldi. Die Jungs schubsen sich und kichern. »Ey Mann!«, ruft der Lange mit blökender Stimme Samo zu. »Du hast deine Kappe verkehrt rum auf!«

Die anderen zwei lachen.

Zwei Seelen kämpfen in Samos Brust. Die eine Seele sagt: Du sollst hier nicht auffallen. Kein Ärger mit der Polizei. Du hast einen Auftrag zu erfüllen. Ju duhet të jetoni në Gjermani si një inxhinier në montim, haben sie ihm beigebracht. Du sollst in Deutschland leben wie ein Ingenieur auf Montage.

Die andere Seele sagt: Wenn du dir das gefallen lässt, spricht es sich herum, dann kannst du gleich mit deinem eingekniffenen Schwanz und deinen Zwergeneiern nach Saranda zurückkehren. So haben sie es ihm ebenfalls beigebracht. Es ist ein ganz kurzer Kampf zwischen den beiden Seelen, den die zweite gewinnt. Samo schiebt die Jungs zur Seite, die ihn vom schlaksigen Typen trennen, stoppt mit seinem Schädel knapp einen Zentimeter vor dessen Nase und fragt: »Was hast du gesagt, du Wichser?«

Das Lachen auf dem Gesicht des Jungen will sich in irgendeine Ecke verkrümeln, und der Junge versucht, es aufzuhalten. »Deine Kappe. Die ist verkehrt rum«, sagt er mit einer Stimme, die nun zwischen zwei Oktaven oszilliert.

Samo schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht und rammt ihm das Knie in die Eier. Dadurch sackt sein Kopf auf Samos Höhe herunter. Er nimmt die Kappe des Jungen ab und setzt sie ihm verkehrt herum auf. Dann dreht er ihn mit beiden Händen ein paarmal um die eigene Achse und versetzt ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern, sodass er einige Schritte torkelt und schließlich mitsamt seinem Rucksack kopfüber auf den Boden fällt. Die anderen Jungs helfen ihm schweigend aufzustehen und stützen ihn beim Weitergehen.

»Arschloch«, ruft ihm Samo hinterher. »Ta quifsha nonen«, fick deine Mutter, und wendet sich wieder dem Geschehen auf dem Dürer-Platz zu. Er ist mit sich ganz zufrieden. Das war doch fast gewaltfrei. Ingenieur auf Montage, genau.

Ambrosius ist wieder da, in der Albrecht-Dürer-Straße. Er trägt eine Jutetasche. Darauf steht: Du willst dürr sein? Albrecht war Dürer. »Also, Doro, es ist so«, beginnt er atemlos. »Da sind im Raum hinter der Kasse Monitore, auf denen zu sehen ist, was los ist in jedem Zimmer, aber es ist nur ein Mann da, und wenn der an der Kasse ist, kann er nicht gleichzeitig die Monitore überwachen.«

»Und weiter?«

»Wir müssen eine Zeit ausmachen, gib mal dein Smartphone.« Ambrosius hält das Handy neben seine Armbanduhr. »Ja genau, die zeigen beide dieselbe Zeit an, also 11.54 Uhr. Du gehst jetzt rein, ich warte hier draußen, und um sagen wir 12.30 Uhr bist du im vierten Stock. Da bin ich parallel unten an der Kasse. Um 12.32 Uhr verwickle ich den an der Kasse in ein Gespräch, und du fängst an, die Mappe auf dem Tisch zu durchsuchen.«

»Wie lange habe ich Zeit?«

»Wie lange kann ich jemanden in ein Gespräch verwickeln?«

 

»Lange.«

»Sagen wir fünf Minuten. Bis 12.37 Uhr musst du das Bild aus der Mappe genommen und da drin versteckt haben.« Er reicht ihr die Tasche. Die ist so schwer, dass sie Dorotheas Hand nach unten zieht.

»Was ist denn da drin?«, fragt sie.

»Irgendein Katalog«, sagt Ambrosius. »Hat nichts gekostet. Du steckst das Bild da rein, gehst aufs Klo, zerreißt es, und spülst es runter. Fertig.«

»Schmarrn«, sagt Dorothea. »Man darf bestimmt keine Taschen da rumtragen. Die muss man sicher abgeben.«

Ambrosius rubbelt an seiner Nase. »Ach so. Dann gibst sie halt ab und holst sie nachher wieder.«

»Aha. Und das Bild? Wo tue ich das hin?«

»Steckst es irgendwo ein. Platz hast ja.«

»Das ist also der Plan.«

Ambrosius nickt.

»Da kann so viel schiefgehen, Ambro. Es braucht bloß eine Schlange an der Kasse zu sein oder oben im vierten Stock schon jemand an der Mappe stehen.«

»Freilich kann was schiefgehen. Es wird aber gut gehen. Vertrau mir.«

»Und wenn ich es in den fünf Minuten nicht schaffe?«

»Dann, dann, dann ist alles im Eimer. Dann bin ich verratzt und verloren. Dann ist das mein persönliches Tschernobyl, Fukushima, mein Tsunami und meine Götterdämmerung.«

»Ach, Ambro, meinst du nicht, wir sollten … du solltest einfach alles zugeben? Noch haben wir nichts verbrochen. Also nicht direkt, um es in deinen Worten auszudrücken. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass alles anders wird, wenn ich die Schwelle übertrete.«

Ambrosius seufzt. »Mag sein, ja. Aber wenn du die Schwelle nicht übertrittst, wird auf jeden Fall alles anders.«

»Dann probieren wir es wohl.«

»Ja.«

»Was ich dir heute früh sagen wollte, Ambro …«

»Was?«

»Kann warten.«

Wie lange hat der Wichser Samo abgelenkt? Zwei, drei Minuten höchstens. Der komische Vogel mit dem Pferdeschwanz wird noch länger im Museum sein. Samo überquert den Platz in Richtung Dürer-Haus. Eine große dicke Frau kommt um die Ecke. Sie trägt eine schwere Tasche, und ihre bunten Kleider flattern im Wind wie ein Segelschiff. Er folgt ihr ins Museum.

12.02 Uhr. Dorothea hat die Tasche an der Kasse abgegeben, die Karte gekauft und schwebt im Museum immer höher, wie ein bunter Ballon, den es weiter und weiter nach oben zieht. Für sie, in ihrem Körper, fühlt es sich aber eher so an, als wäre sie ein schwer beladener Zeppelin, der nur mühsam aufsteigt. Sie will nicht schnurstracks in den vierten Stock gehen, also täuscht sie Interesse an verschiedenen Ausstellungsstücken vor: der Küche, den Möbeln, dem Studio. Es ist nicht viel los im Haus; außer ihr ist nur noch ein Mann unterwegs, der überhaupt kein Interesse an irgendwelchen Exponaten zeigt, sondern die Treppen rauf und runter geht und in alle Ecken schaut, als ob er etwas sucht. Oder jemanden.

Wo ist der Kerl bloß?, fragt sich Samo. Der von Rottberg hat gesagt, Samo soll auf ihn aufpassen, er wird bestimmt versuchen, im vierten Stock ein Bild zu klauen. Samo soll ihn, wenn möglich, dabei fotografieren und ihm draußen dann das geklaute Bild abnehmen. Wie, das überlässt er Samo. Das dürfte kein Problem sein. Der Kerl ist groß, aber uralt, schlaff und völlig aus der Form. Die Großen sind sowieso leichte Beute, weil sie überhaupt nicht daran gewöhnt sind, sich körperlich durchzusetzen. Stufe 1 wird reichen. Ingenieur auf Montage. Außerdem sind die Deutschen es gewöhnt, Dinge ohne Weiteres zu bekommen. Drum stellen sie sich auch immer schön hinten an und gehen ganz ruhig und sorglos ohne Schmiergeld auf die Ämter, weil auch der Letzte in der Reihe etwas abkriegen wird. Bei Samo ist das anders. Die meisten Dinge, die er braucht, bekommt er nicht einfach so, die muss er sich nehmen. Das Leben, der Staat oder die Gesellschaft hat ihm noch nie etwas geschenkt. Die Familie schon. Nur auf die Familie kann man zählen, nur die Familie zählt.

Aber der Kerl ist nicht hier. Das gibt’s doch nicht! Samo hat schon überall gesucht. Kann der schon wieder weg sein? Ach, natürlich. Auf dem Klo muss er sein. Samo saust die Treppe hinunter, die Frau kommt ihm entgegen, als sie keuchend zum vierten Stock hinaufsteigt.

12.26 Uhr. Dorothea erreicht das Dachgeschoss. Sie ist außer Atem und muss sich kurz an die Wand lehnen. Hier oben ist sonst niemand. Perfekt. Sie schaut sich um. Da muss es sein, im Erker drüben steht ein Tisch mit einer Mappe drauf. Sie schleppt sich dorthin. Die Mappe ist aufgeklappt. Lose Blätter liegen darin, gut ausgeleuchtet vom Licht, das durch die Erkerfenster ins Zimmer fällt. Sie dreht sich nach hinten. Ja, da oben an der Decke ist eine Kamera angebracht. Dorothea geht vor zum Erkerfenster und schaut hinunter. Ambrosius ist kurz davor, das Museum zu betreten. Er schaut hoch zu ihr und winkt, Dorothea schaut zu ihm hinunter. Sie will die Hand zum Gruß heben und macht es doch nicht. Die Kamera.

Dorothea läuft im Uhrzeigersinn durch den Raum und schaut die Bilder an den Wänden an. Sie schaut sie an, nimmt sie aber nicht wahr. Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, fasst sie als Farbzusammenstellungen auf, als abstrakte Kunst, obwohl sie gegenständlicher nicht sein könnten. Sie denkt schon an die Mappe. Von unten kommen keine Geräusche, es ist immer noch niemand sonst im Haus. Ein unfassbares Glück! Das Schicksal meint es gut mit ihnen, Ambro und Doro. Ja, bitte, nur weiter so, liebes Schicksal. Dieses eine Mal.

12.32 Uhr. Dorothea beginnt die Mappe durchzublättern. Sie wundert sich, dass ihre Hände nicht zittern. Aquarelle, Zeichnungen, Drucke. Alles in riesigen Klarsichtfolien, davon wusste Ambrosius anscheinend nichts. Ritter auf Pferden, Tiere, nackte Menschen, Landschaften, biblische Szenen, Kinder. Wieso konnte Dürer keine Kinder malen? Schauen aus wie Greise. Hunde, Vögel, Affen, Hase, Hund. Halt, zurück. Hase.

Da ist es ja. Schwarz-weiß. Dorothea atmet durch. Das war ja einfach. Genau, knuffiges Fell. Das Papier ist sogar mit braunen Flecken pigmentiert. Aber da ist überhaupt kein Monogramm zu sehen. Die untere Papierseite ist unregelmäßig, wirkt jedoch nicht angerissen. Dorothea blättert weiter. Rehbock, Käuzchen, wieder überproportionierte Kinderköpfe, Hase. Hase. Ein zweiter Hase. Mein Gott, Ambro, du Trottel. Dorothea blättert schnell weiter durch. Kein Hase mehr. Zwei Hasen, das ist schon ein Hase zu viel. Sie blättert zurück. Welcher Hase ist der Richtige? Oder sind beide richtig? Hat Ambro zwei Fälschungen gemacht? Wie ein scheinbar einfacher Auftrag sich auf einmal zur komplizierten Entscheidung auswachsen kann! Einmal ist Dorothea als sechsjähriges Kind von ihrer Mutter zum Metzger geschickt worden. Sie sollte 500 Gramm Aufschnitt kaufen, und hat 1 DM mitbekommen. »Ist das genug?«, hat sie gefragt. »Mehr als genug«, sagte ihre Mutter. »Und dass du mir das Wechselgeld heimbringst.«

Beim Metzger brachte Doro ihren Wunsch vor.

Er lehnte sich über die Theke zu ihr herunter und fragte: »Einfacher Aufschnitt oder mit Bierschinken oder mit Bierschinken und Salami?«

Panik brach in Doro aus, und Tränen schossen in ihre Augen. »Weiß ich nicht«, sagte sie.

»Dann machen wir mit Bierschinken, aber ohne Salami, gell?« Und etwas später sagte er: »Das macht eine Mark und neun Pfennige.«

Jetzt heulte Doro tatsächlich.

»Wie viel hast denn dabei?«, fragte der Metzger.

Doro zeigte ihm die Mark.

»Dann nehmen wir halt die«, sagte er und nahm sie.

Zu Hause wurde Doro von ihrer Mutter dann fürchterlich geschimpft, weil sie den teuren Aufschnitt genommen und kein Wechselgeld zurückgebracht hatte, sodass sie drei Jahre lang nicht mehr zum Metzger gegangen ist.

So fühlt es sich jetzt an. Nein, es fühlt sich jetzt tausendmal schlimmer an.

Also, welcher Hase?

12.32 Uhr. Auch hier unten ist nichts los. Ambrosius ist der einzige Kunde im Laden. Er geht zur Kasse. »Entschuldigen Sie«, ruft er dem Mann zu, der im abgetrennten Teil vor den Monitoren sitzt.

Der Mann steht von seinem Platz auf und kommt nach vorne. Er wird ein paar Jahre jünger als Ambrosius sein. Seine dunklen, langen Haare liegen nostalgisch gekämmt und von Haarcreme glänzend über seiner Glatze wie ein nasses Kleidungsstück aus der Waschmaschine, das trocknen soll, und sein Rautenpulli ist ebenfalls aus den Siebzigerjahren.

»Welches Buch über Dürer können Sie empfehlen?«, fragt Ambrosius.

»Das kommt ganz darauf an«, sagt der Kassierer. »Was Sie wollen.«

Bingo. Ambrosius muss ein breites Lächeln unterdrücken. Das ist genau die Antwort, die Ambrosius braucht. Und genau der Typ.

»Wie meinen Sie das, was ich will?«, fragt er, stützt sich mit beiden Ellbogen auf die Theke und fixiert den Mann mit seinem Blick.

»Wollen Sie nur eine Biografie, wollen Sie ein Werksverzeichnis, wollen Sie beides, wollen Sie viel Geld ausgeben oder wenig?«

Perfekt. »So genau habe ich mir das nicht überlegt.«

»Na, dann überlegen Sie genau und dann kommen Sie wieder.« Der Mann dreht sich weg.

Scheiße. Jetzt hat Ambrosius den Bogen überspannt. »Warten Sie mal«, sagt er. »Wenn ich schon so einen Experten wie Sie zur Hand habe, dann muss ich das doch ausnutzen. Also, ich will eine Biografie, mit Bildern drin, und Geld spielt keine Rolle.«

Der Mann dreht sich wieder um. »Na also. Da sind wir doch schon einen großen Schritt weiter. Da gab es zum Beispiel zur großen Dürer-Ausstellung in der Albertina ein Begleitbuch von Christof Metzger.«

»Aha. Haben Sie es da?«

12.35 Uhr zeigt Dorotheas Smartphone. Zwei Minuten noch. Welcher Hase? Oder beide? Oder keiner davon? Moment, das Monogramm von Dürer. Unten, auf dem zweiten Bild, da ist die rechte Ecke angerissen, genauso wie Ambrosius es beschrieben hat. Nur ist die Ecke ganz herausgerissen, vom Monogramm ist gar nichts zu sehen. Schnell blättert sie zurück zum ersten Hasen. Da ist nichts herausgerissen, die Seite ist nur unten unregelmäßig. Und der Strich ist irgendwie heller als auf der späteren Seite, mehr grau als schwarz. Eine Tuschzeichnung oder sowas. Auf jeden Fall keine Kohlezeichnung.

Also muss es der zweite Hase sein.

12.38 Uhr. »Sie müssen wissen, Dürer war der Scheidepunkt. Vor ihm galten Maler in Deutschland als Handwerker und nicht als Künstler«, erklärt der Kassierer.

»So? Da hat sich nicht viel daran geändert«, sagt Am­brosius.

Er hört Schritte auf der Treppe, dreht sich um und schaut direkt in die blassblauen Augen eines kleinen, kahlköpfigen Kerls. Er starrt Ambrosius mit einem intensiven, verstörenden Blick an, als ob er ihn kennt. Dann tauchen auf der Treppe hinter ihm zwei verschiedenfarbige Stiefeletten auf, eine grün, eine rot. Ganz vorsichtig, etwas wackelig steigen sie die Stufen hinab. Dorothea. Immer mehr von ihr kommt ins Blickfeld, rot-braune, grün-blaue, gelb-orange Felder. Es ist wie ein Patchwork-Vorhang, der auf eine Theaterbühne fällt. Ambrosius meint, ein Knistern zu vernehmen, wie von Plastik. Zum Schluss kommt Doros Kopf, der Ambrosius unmerklich zunickt.

»Sind Sie wohl aus der Branche?«, fragt der Kassierer.

»Was?«, entgegnet Ambrosius.

»Weil Sie gesagt haben, da hat sich nicht viel geändert.«

Scheiße. Zu viel verraten. »Nee. Ich bin Maler. Also, ich streiche Flächen an. Wände und so. Halt immer nur in einer Farbe. In Blau, Rot, was die Leute wollen.«

»Aha. Interessant. Monochromie. Kasimir Malewitsch. Ad Reinhardt.«

»Nee, nee. Nicht so. Ich bin einfacher Anstreicher. Wohnzimmer, Küchen, Schlafzimmer.«

»Ach so.«

Aus dem Augenwinkel sieht Ambrosius, wie Dorothea sich in Richtung Toiletten bewegt, begleitet von diesem merkwürdigen Knistern und mit einem eigenartigen Gang, als ob sie gleich Durchfall bekommt oder etwas zwischen ihre Beine gesteckt hat. Das ist gut. Dann hat sie etwas zwischen ihre Beine gesteckt. Und Ambrosius muss vor ihr hier raus.

»Also, wollen Sie das Buch kaufen?«, fragt der Kassierer.

»Danke, wollt mich nur informieren.«

»Bei amazon ist es auch nicht billiger. Und die Versandwege und die Umwelt.«

»Ja, nee. Danke.« Ambrosius muss weg, und er muss einen überzeugenden Schluss für das Gespräch finden. Es fällt ihm aber keiner ein. Also dreht er sich um und geht.

»Ihnen auch einen schönen Tag«, ruft der Kassierer ihm hinterher und brummelt dann, als er sich wieder zu seinen Monitoren begibt, vor sich hin: »Komischer Kerl. Monochromie. Ha.«

In der Damentoilette holt Dorothea das Bild zwischen ihren Schenkeln hervor. Sie zieht es aus der Plastikhülle, legt es auf die Kloschüssel, holt ihr Smartphone heraus und fotografiert es. Die Klarsichthülle schiebt sie unter ihren Mantel. Dann verstaut sie das Handy, nimmt das Blatt und reißt es in zwei Stücke. Es ist unglaublich laut, ein Nilpferdfurz, der alle anderen Geräusche verdrängt, sodass Dorothea ein paar Sekunden wartet, bis sie es wagt weiterzumachen. Hoffentlich ist inzwischen nicht noch jemand in die Toilette gekommen? Nein, offenbar nicht. Ob man das im Kassierraum hört? Es hilft nichts, sie kann das Bild jetzt nicht mehr zusammenkleben. Augen zu und durch. Oder vielmehr Ohren zu und durch. Als sie das Blatt in der akustischen Enge der Kabine nach und nach in kleine Stücke reißt, hört sich das gefühlt noch lauter an als vorhin. Wie wenn das Nilpferd lange unter Darmverschluss litt und jetzt endlich Erlösung findet. Alle Schnipsel in die Schüssel und spülen. Das aufgeschwemmte Papier verstopft den Abfluss, und das aufgestaute Wasser droht über den Rand zu fließen und Hasenschnitzel im gesamten Raum zu verteilen. Dann gibt etwas nach, und das Wasser verschwindet. Aber nicht alle Papierfetzen. Noch mal spülen. Und noch mal. Ein tropfnasses Hasenohr schwimmt als letztes Zeugnis in der Schüssel. Dorothea muss warten, bis der Spülkasten wieder voll ist. So. Und weg. Ambrosius, ich bin gespannt, wie du das jemals wiedergutmachen willst.

 

Hände waschen und raus.

Der Vorraum ist leer, nur der Mann an der Kasse sitzt an seinen Monitoren. Er schaut zu ihr her, als sie den Raum durchschreitet, und sie schaut weg. Jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie hat die Türklinke in der Hand, als er ruft: »Entschuldigen Sie!«

Weitergehen, sie ist fast draußen. Hinter ihr knarzt ein Stuhl, der Mann steht auf. Jetzt nicht umdrehen. »Entschuldigen Sie!« Schnelle Schritte hinter ihr. Eine Hand an der Schulter. Sie dreht sich um. Du willst dürr sein? Al­brecht war Dürer, steht vor ihren Augen. »Ihre Tasche.«

»Ach so, ja, vielen Dank.« Dorothea nimmt die Tasche, die ihren Arm sofort wieder nach unten zieht.

»Uff«, sagt sie. »Bisschen schwer.«

»Kann doch Ihr Mann tragen. Das ist doch Ihr Mann, der gerade vorhin hinausgegangen ist?« »Danke Ihnen.«

»Schönen Tag noch.«

»Ihnen auch.«

Dann ist sie draußen. Jetzt aber schnell zum Auto zurück. Doch wo ist Ambro? Sie lässt ihren Blick über den Tiergärtnerplatz wandern. Von der Töpferei am Dürerhaus über die dahinter liegende Stadtmauer, das Tiergärtnertor, die Café Bar Wanderer, die Burg, das Gasthaus Zum Albrecht Dürer Haus, das Augustiner Zur Schranke, das früher das Schlenkerla war. Ein Panorama aus Sandstein und Fachwerk, das sich seit Dürers Lebzeiten kaum verändert hat. Könnte eine Stadtansicht des Künstlers sein. Fehlt bloß das Monogramm. Aber irgendeine Spur von Ambrosius war doch im Gesamtbild. Ihr Unterbewusstsein spült etwas nach oben. Ein Zitat von ihm. Sein Monogramm. Genau. Ambrosius signiert seine Bilder seit Jahren mit einem Logo aus zwei Stiefelsohlen, deren Spitzen oben aneinanderlehnen und somit ein A bilden. Das ist auch das, was Dorothea von Ambrosius sieht, nach dem Frühstück, wenn er die Füße auf den Esstisch legt und die Zeitung liest. Und das hat Doro irgendwo gerade gesehen. Sie lässt ihren Blick noch mal über den Platz wandern, auf der Suche nach den Stiefeln. Da sind sie, drüben im Tiergärtnertor! Liegend, mit den Spitzen nach oben. Wie Dorothea hinschaut, bewegen sich die Spitzen zueinander und dann wieder voneinander weg. Und über seinen Stiefeln bewegt sich diesmal keine gräulich-weiße Zeitung, sondern etwas Schwarzes. Mit einem kahl rasierten Schädel und einer Kappe drauf. Etwas, das definitiv nicht zu Ambro gehört. Dorothea läuft hin, die Jutetasche schwingend, und das Bild enträtselt sich. Ambrosius liegt am Boden, auf dem Rücken, und der Mann, der vorhin im Dürer-Haus war, hockt auf ihm. Er hat sich nach vorne über Ambros Gesicht gebeugt, und er flüstert eindringlich. Als Dorothea die beiden erreicht, dreht sich der Mann zur Seite und sagt: »Kumpel von mir. Alles in Ordnung. Ist wieder besoffen. Ist schlimm. Immer besoffen.« Er patscht Am­brosius mit der rechten Hand ins Gesicht. Die linke hält er geballt an Ambros Hals, aber Dorothea sieht etwas silbrig Glänzendes aus seiner Faust hervorblitzen. Ein Messer.

Sie holt mit der schweren Jutetasche in einem weiten Bogen aus und trifft den Mann mit einer solchen Wucht an der rechten Schläfe, dass es ihn von Ambrosius’ Oberkörper schleudert und er mit der linken Seite seines Kopfes und einem stumpfen Laut gegen die Steinwand knallt. Der Mann stöhnt und sinkt bewusstlos auf dem Boden zusammen.

Ambrosius rappelt sich hoch, steht mühsam auf. Seine Haare haben sich aus dem Pferdeschwanz befreit und fallen über seine Schulter, wie damals in den Siebzigerjahren, sein Gesicht ist an den Wangen aufgeschürft, und der Schreck sitzt in seinen Augen.

»Glaubstes«, sagt er und schnauft tief. »Der Zwerg da hat mich tatsächlich von hinten angegriffen. Glaubstes, früher hätt so einer keine Chance bei mir gehabt.«

»Willst ihn anzeigen?«, fragt Dorothea.

»Geht nicht«, sagt er. »Den hat der Anrufer von heut früh geschickt. Komm, wir müssen hier weg.«

»Sollen wir nicht einen Krankenwagen rufen?«

»Der wird schon wieder. Vielleicht früher, als uns lieb ist.«

»Dann will ich nicht mehr unbedingt hier sein.«

»Eben. Also los.«

Sie laufen über den Tiergärtnertorplatz.

»Was hätte der Typ mit dir gemacht, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre?«, fragt Dorothea.

»Abgestochen. Vielleicht.«

»Um Gottes willen. Und den hat der Typ von heute früh auf dich angesetzt?«

»Hat er gesagt, ja.«

»Was wollte er denn überhaupt?«

Ambrosius fährt mit der Hand über den Mund. Inzwischen sind sie wieder auf der Höhe des Albrecht-Dürer-Hauses. »Eins nach dem anderen«, sagt er. »Jetzt schauen wir, dass wir an dem Museum vorbeikommen, ohne dass der Typ da drinnen rauskommt und uns eine Szene macht.«

»Mensch, Ambrosius, was hast du uns da bloß eingebrockt!«

»Schau nicht hin. Ganz normal vorbeilaufen. Wir sind zwei Touristen. Ach, schön ist es hier, guck mal da oben. Siehst du, schon vorbei. Hast du das Bild zerstört?«

»Ich habe auf jeden Fall eins davon zerstört.«

Ambrosius schaut sie konsterniert an. »Irgendeins?«

»Nicht irgendeins. Eins mit einem Hasen, natürlich. Da waren aber zwei drin.«

»Scheiße.«

»Genau.«

Samo fährt mit der Hand über seinen Kopf. Punë muti, Scheiße! Er bekommt eine Riesenbeule. Die fette Schlampe in dem Orientteppich! Dass die zu dem Mann gehört, hat er nicht gewusst. Er holt sein Handy heraus und tippt.

»Ja?«

»Ich bin’s. Samo.«

»Natürlich bist du’s, Samo. Wer sonst, über diese Handynummer? Hast du es?«

»Nein. Klein Problem.«

»Was denn?«

»Frau war dabei. Hab ich nicht gewusst. Hat mich von hinten geschlagen. Die Schlampe.«

»Eine Frau.«

»Große Frau.«

»Aha.«

»Nix aha. Ich krieg den. Und die Schlampe auch. Aber du hast gesagt, der hat noch andere falsche Bilder gemacht. Das stimmt, hat er unter Messer zugegeben.«

»Hast du ihn verletzt?«

»Nur ein bisschen. Stufe 1.«

»Aha. Und wo sind die anderen Bilder?«

»Weiß ich nicht, er hat nur die Maler gesagt, und dann kam die fette Schlampe. Du hast mir nicht gesagt, dass so eine fette Schlampe ist auch dabei.«

»Hab ich auch nicht gewusst. Also, welche Maler?«

»Alte Maler. Keine Ahnung. Zwei Maler.«

»Ja, ja, aber welche?«

»Sag Namen. Dann fällt mir ein.«

»Jetzt sprich endlich. Ist es das Bild?« Dorothea hält Am­brosius ihr Smartphone mit dem Foto des Hasen hin, und er mustert es schon seit einer Ewigkeit mit einem entgeisterten Gesichtsausdruck, ohne sich zu äußern. Sie laufen zügig und sind schon fast am Parkhaus.

»Mein Gott«, sagt er. »Das gibt es doch nicht.«