Czytaj książkę: «Leere Hand»

Czcionka:

Leere Hand

Kenei Mabuni

In Zusammenarbeit mit Masahiko Yokoyama

Leere Hand

Vom Wesen des Budō-Karate

Herausgegeben von Carlos Molina

Aus dem Japanischen

von Bernd Winter

Palisander

Zur Schreibweise der japanischen Personennamen: Auf dem Titelblatt wird der Name des Autors gemäß den Gepflogenheiten im deutschen Sprachraum in der Reihenfolge Vor- und Familienname geschrieben. Im Text folgt die Schreibung der japanischen Namen generell der in Japan üblichen Reihenfolge, nach der zuerst der Familienname und dann der Vorname geschrieben wird.

Der Verlag dankt Janett Kühnert und Norbert Wölfel vom Chemnitzer Karateverein für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion und dem Übersetzer, Bernd Winter, Berlin, für die gute Zusammenarbeit. Des weiteren dankt der Verlag Patrick McCarthy, Brisbane (Australien), für die Zurverfügungstellung des Fotos von Itosu Ankō.

Deutsche Erstausgabe

2. Auflage 2010

1. Digitale Auflage

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

Titel der Originalausgabe:

武道空手への招待(»Einladung zum Budō-Karate«)

© 2001 by Sanko-sha Ltd.

Deutsch von Bernd Winter

© 2007-2010 by Palisander Verlag, Chemnitz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Anja Elstner, unter Verwendung einer Zeichnung von Matthias Stein

sowie des Shitō-ryū-Wappens

Lektorat: Frank Elstner

Redaktion & Layout: Viola Börner und Frank Elstner

ISBN 9783938305232

www.palisander-verlag.de

Sōke Mabuni Kenei (2001)


Union Shitō ryū Europe

Internet: www.shitoryu-europe.org


Der Autor

Mabuni Kenei, Träger des 10. Dan, wurde 1918 auf Okinawa, dem Ursprungsort des Karatedō, geboren. Als Sohn von Mabuni Kenwa, Gründer des Shitō ryū und einer der bedeutendsten Karateexperten in der Geschichte der Kampfkünste, kam er von Kindheit an mit dem Karate und einigen seiner größten Meister in Berührung. Im Alter von 34 Jahren übernahm er den Vorsitz des Shitō ryū. Noch heute, im hohen Alter, hält er regelmäßig Lehrgänge in verschiedenen Teilen der Welt, in denen er authentisches Karatedō vermittelt.

Der Herausgeber

Der Herausgeber, Carlos Molina, 7. Dan, geb. 1947 in Quetzaltenango, Guatemala, war einer der ersten Schüler von Mabuni Kenei in Lateinamerika, führte seit 1976 das Shitō-Karate in der BRD ein und repräsentiert es heute in Deutschland.

Sōke Mabuni Kenei und Shihan Carlos Molina (2007)

Danksagung

Der Herausgeber dankt seiner Schülerin, Frau Silvia Pellegrini, für ihre außerordentlichen Bemühungen zur Realisierung des Projektes.

Illustrationen

Das Copyright für das Foto auf S. 4 sowie für Fotos 5-10, 12-15, 20, 22, 24-80, 82-87 und 94 liegt beim Autor. Das Copyright für das Foto auf S. 6 und Foto 21 liegt bei Carlos Molina. Alle anderen Fotografien und Abbildungen sind lizenzfrei. Auf zahlreichen Fotos ist – teilweise gemeinsam mit dem Autor – Mizuguchi Hirofumi bei der Demonstration von Techniken zu sehen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

Sōke Mabuni Kenei

Über den Autor

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

Eine Kampfkunst für jedermann

Karate für die physische, kämpferische und geistige Entwicklung

Die Herausbildung des modernen Karate

Die gesundheitsfördernde Wirkung des Karate

Die Wirkung des Karate-Trainings auf den Körper

Karate in gefährlichen Situationen

Karate als spirituelle Kampfkunst

Die Atemtechniken im Karate

Der Zustand der vollkommenen inneren Ruhe

I Das Budō Karate

1 Entstehung und Entwicklung des Karate

1.1 Karate als Kampftechnik

Formen des waffenlosen Kampfes in alter Zeit

Der Shaolin-Faustkampf als Kampftechnik der Mönche

Der Einfluß des chinesischen Kempō auf die japanischen und okinawanischen Kampftechniken

Karate als Grundlage aller Budō-Kampftechniken

1.2 Das Karate von Okinawa

Das ursprüngliche Okinawa-te

Die Kata des Shuri-te

Die Jigen-Schwerttechnik und das Shuri-te

Die Entwicklung des Naha-te

Mit einer geraden Linie einen Kreis beschreiben

Der Ursprung des Tomari-te

Shitō-Karate als Erbe des Okinawa-te

2 Shitō-Karate die Lehren des Mabuni Kenwa

2.1 »Gefangen« in der Welt des Budō

Das Streben nach einem gesunden Körper

Ein Leben frei von Habsucht

Kanō Jigorōs Lob

Funakoshi Gichin lernte Kata von meinem Vater

Die Entstehung des Shitō ryū

Auf den Spuren meines Vaters

Die Ziele meines Vaters

Shitō-Karate ist Budō-Karate

2.2 Die Freude am Lernen und Lehren des Karate

Über das Lehren des Karate

Karate für Kinder

Der Reichtum der traditionellen Kata

Karate in Europa

Ein Mangel an Führungspersönlichkeiten

3 Das Überwinden der eigenen Grenzen

3.1 Karate mehr als Stöße und Tritte

Yagyū Sekishūsai und die Technik des mutō dori

Karate macht den Körper zur Waffe

Wie kann man den Körper abhärten?

Stöße mit muchimi

Karate als Unterstützung für jeden Budōka

3.2 Block ist Angriff ohne Taktschlag

Mit einem Block beginnen

Den Angriff des Gegners mit einem mächtigeren Gegenangriff blocken

Rhythmus und Geschwindigkeit

Die fünf Prinzipien des Blockens

3.3 Die Aneignung der Techniken

Die Formenvielfalt der in den Kata enthaltenen Techniken

Drei Regeln des Bujutsu

Der Grundsatz des hikite

Das Verständnis der Kata Heian sandan als Kampftechnik

Die Kata Gojūshiho und Maßnahmen gegen einen unerwarteten Angriff

Die Kata Niipaipo und Haufā

4 Kritik am Budō unserer Zeit

4.1 Die Verwandlung des Budō in Sport

Sport oder Kampftechnik

Sportlicher Wettkampf und zeremonielles Spiel

Hagoita Zeremoniell und Spiel

Sport oder Budō, was ist »ernster«?

Trennung von Sport und Budō

Sundome und »Vollkontakt«

4.2 Moderner Wettkampf und Budō

Die Bewertung von Wettkampfkata

Ist das moderne Karate wirklich ein Fortschritt?

Fließende Techniken vorausgehendes Bewußtsein

Lernen im Fluß des Trainings

Der Reduktionismus des Sports

Die Wiederkehr der Antike im Wettkampfkarate

4.3 Die These von der Einheit von Seele, Körper und Technik

Wie prüfte man in Zeiten ohne kumite?

Harmonie statt Wettkampf

»Im Karate gibt es keinen ersten Angriff«

II Der Geist des Budō

1 Das Wesen des Budō

1.1 Der Unterschied zwischen Budō und Gewalttätigkeit

Leben nehmen und Leben geben

Karate und der Geist des Respekts (shurei)

Der Sinn der Karate-Techniken

Die »übermenschlichen Techniken« des Ueshiba Morihei

Wichtigster Grundsatz des Karate: »Der Körper folgt dem Geist«

1.2 Jenseits der gewohnten Körperbewegungen

Auf natürliche Veränderungen reagieren

»Göttliche« Techniken und der »fallende Tautropfen«

Der magische Moment der Manipulation des Schwerpunkts

Paßgang und Parallelstoß

Das Freisetzen der Kraft in Budō und Sport

Der Krabbengang und das »Herausnehmen der Knie«

2 Sieg oder Niederlage

2.1 So trugen sie die berühmten Kämpfe aus

Ōyama Masutatsus Bericht

Ein Mangel an Heldengeschichten

Matsumuras Kampf mit seiner Braut

Matsumura und der Stier, den sie »Mörder« nannten

Ein Schlag gegen den rasenden Stier

2.2 Nicht zu verlieren, heißt siegen

Ein kampfloser Sieg

Sieg durch Flucht

Matsumura Sōkon und der Riesenkerl

Der »Miyamoto Musashi der Ryūkyū-Inseln«

2.3 Der unbedingte Siegeswille im Yagyū ryū

Schwertkampf und »geistige Reinigung«

Das »lebensbewahrende Schwert«

Mutō dori und der Ausgangspunkt des Karate

Yamaoka Tesshū und das mutō dori

Karate und das Yagyū-rūy

2.4 Die »lautlose kamae«

Die Erleuchtung des Yamaoka Tesshū

»Im Karate gibt es keine kamae«

Der »gegenseitige Rückzug« (ainuke)

Die höchste Ebene des bu übertrifft Zen

Ein Schwert mit stumpfer Klinge

3 Karate als »Zen in Bewegung«

3.1 Die Sphäre der Leere (kū) im Karate

Karate die »Faust der Edlen«

Die Kata Sūpārinpai und die Leiden schaffenden Wünsche

Karate Hand, die in die Sphäre der Leere reicht

Die Erleuchtung des Romanschreibers

Die Buddha-Natur in der Tiefe des Herzens

3.2 »Zen in Bewegung« und Atemtechnik

»Zen in Bewegung« die Einheit von Seele, Körper und Technik

Das Ordnen der Seele

Die Regulierung von Körper und Atmung

Arten und Formen der Atmung

Yin und Yang in der Atmung

3.3 Der Unordnung vorbeugen

Techniken zur Vermeidung der Unordnung

Die Geschichte von der »hohen Kunst der Katzen«

Theorie und Erfahrung

Der Geist der Todesverachtung

Der Unordnung vorbeugen

Bu ewig unvollkommen

Nachwort des Herausgebers der japanischen Fassung

Fußnoten

Vorwort des Herausgebers

Im November 1965 kam Sensei Mabuni Kenei zum ersten Mal in meine Heimatstadt Quetzaltenango, die zweitgrößte Stadt Guatemalas und bereits im Altertum eine Maya-Stadt. Ich war damals 18 Jahre alt und konnte Sensei Mabuni im Rahmen einer Vorführung durch verschiedene Karateka aus der Hauptstadt Guatemala City erleben. Sensei Mabuni weilte bereits seit 1964 in Zentralamerika. Zunächst war er auf Einladung von Sensei Murata Nobuyoshi nach Mexiko gereist und kam anschließend nach Guatemala, wo es in jener Zeit ca. tausend Shitō-ryū-Mitglieder gab. Ich selbst praktizierte damals noch kein Karate, war aber von den Vorführungen tief beeindruckt, wobei ich einen großen Unterschied zwischen den Bewegungen von Sensei Mabuni und denen der anderen Karateka, die ihre jeweiligen Schulen repräsentierten, empfand. So beschloß ich nach dieser Vorführung, Karate zu lernen und schrieb mich in meiner Heimatstadt in die Schule des Shitō ryū ein. Meine ersten Lehrer waren Jorge Sosa und Nobuyoshi Murata – letzterer führte mich sowohl in die Grundlagen des Shitō ryū als auch in die Geschichte der Familie Mabuni ein.

Im Jahre 1969, als ich den 1. Kyū erhalten hatte, bekam ich die Gelegenheit, an einer Unterrichtseinheit bei Sensei Mabuni, der damals in Guatemala City lebte, teilzunehmen, was mir eine große Ehre war. Etwa 20 Schüler, die allesamt den 1. Kyū besaßen, nahmen daran teil. Wir alle hatten bereits jahrelang verschiedene Karatetechniken trainiert, aber Sensei Mabuni übte mit uns ausschließlich Atemtechniken. Nach zwei Stunden solcher Übungen waren von den 20 Teilnehmern nur ein Freund von mir und ich bereit weiterzumachen. Alle anderen verließen den Unterricht, da sie die Spannungen, die bei diesen Atemübungen auftraten, nicht aushielten. Als wir beide allein dastanden, sagte Sensei Mabuni zu uns: »Jetzt könnt ihr anfangen, Karatedō zu lernen.«

Sensei Mabuni blieb noch ein ganzes Jahr in der Hauptstadt. In jener Zeit legten wir Woche für Woche die 200 Kilometer von Quetzaltenango nach Guatemala City zurück, um Unterricht bei unserem Lehrer zu nehmen. 1974 bereiste Sensei Mabuni zum letzten Mal Guatemala. Zu jener Zeit trug ich den 2. Dan. Ich beschloß, mich auf den Weg zu machen, um meinen Sensei in seiner japanischen Heimat zu besuchen. Zunächst jedoch gelangte ich 1976 auf dem Weg dorthin nach Europa, und zwar nach Berlin. Dort ergab es sich, daß viele Interessierte bei mir Karate lernen wollten, so daß ich in Berlin blieb. Erst 1984 traf ich Sensei Mabuni zum ersten Mal nach langer Zeit wieder – auf Korsika. Sensei Nakahashi Hidetoshi, der in Frankreich lebt, hatte ihn eingeladen. Zunächst wurde dieser auch zu meinem Lehrer, bis Sensei Mabuni höchstpersönlich mich als seinen uchi deshi1 anerkannte. Seitdem widme ich mich der Vertiefung meines Wissens über das Shitō ryū unter der Leitung von Sensei Mabuni und unterstützt durch Sensei Nakahashi und Sensei Hatano. Durch Sensei Mabuni habe ich erfahren, was Budō-Karate ist. All die Jahre betonte er, daß Karate kein Sport, sondern eine Lebenskunst sei, die einem in jeder Lebenslage behilflich sein könne.

Ich bin sehr froh darüber, daß sich Sensei Mabuni entschlossen hat, dieses Buch zu verfassen, da es nicht nur eine Quelle des Shitō ryū ist, sondern auch die Geschichte der Ursprünge des Karate als Kampf- und Lebenskunst darstellt. Blicke ich zurück auf meine Anfänge im Karatedō und betrachte meinen heutigen Entwicklungsstand, erkenne ich große Unterschiede. Wenn ich dieses Buch lese, finde ich einen Teil meiner Entwicklung in den Worten von Sensei Mabuni wieder, und erst jetzt begreife ich langsam, was er seit damals unaufhörlich gelehrt hat. Sensei Mabuni betonte stets die Werte der Höflichkeit, der Nächstenliebe, des Respekts und der Gnade, und er hat uns immer vor der Gefahr des Mißtrauens, der Faulheit, des Neides und des Stolzes gewarnt. Obwohl es mir nicht zu jeder Zeit gelingt, dies in meinem eigenen Leben zu verwirklichen, beginne ich zu verstehen, daß diese Werte die Grundlagen des sozialen und menschlichen Zusammenseins bilden. Ein Motto, an das er uns stets erinnert, hat in meinem Herzen einen festen Platz gefunden: »Heute ein besserer Mensch sein als gestern, und morgen ein besserer Mensch werden als heute.«

An dieser Stelle möchte ich Sensei Mabuni herzlich dafür danken, daß er dieses Buch geschrieben hat. Es ist eine Schatzkammer, der wir viel Wertvolles entnehmen können!

Shihan Carlos Molina, Korsika, 1. August 2007

Einleitung
Eine Kampfkunst für jedermann

Ich wurde im Jahre 1918 geboren und hatte das Glück, mein ganzes Leben mit Karate verbringen zu können. Mein Vater, Mabuni Kenwa (1889-1952), der das Shitō-Karate gründete, vertrat den Standpunkt: »Alte und Junge, Männer und Frauen, jeder kann Karate üben.« Karate kann Menschen für verschiedenartigste Zwecke dienlich sein. Es kräftigt die Gesundheit und erhält das gute Aussehen. Zudem kann Karate zur Selbstverteidigung oder im realen Kampf genutzt werden. Aber Karate vermag noch mehr. Vor allem das Budō-Karate2 ist nicht nur ein System von Körpertechniken (taijutsu), sondern es ist auch reich an psychischen Techniken (shinjutsu). Einmal habe ich während der Katavorführung eines erfahrenen Karateka gehört, wie ein Zuschauer beeindruckt bemerkte: »Schon wegen dieser geistigen Energie ist Karate etwas sehr Kostbares.«

Andere lieben Karate als Mittel des künstlerischen Ausdrucks. So erregte die österreichische Mannschaft im Synchronschwimmen während der Olympischen Spiele 2000 in Sydney einiges Aufsehen, weil sie eine Karate-Kata, die Heian yondan, in ihre Darbietung integriert hatte. Als im August 2001 im Nihon Budōkan das 3. Welttreffen des Shitō-Karate eröffnet wurde, begrüßte mich ein bekannter japanischer Tänzer mit der Bemerkung: »Ich erkenne im Karate einen Bezug zum Tanz.«

Man kann sich Karate als ein gigantisches Bergmassiv vorstellen, das einem immer anders erscheint, je nachdem, wo man sich befindet oder welche Jahreszeit gerade herrscht. Weder die Ziele noch die Wege sind festgelegt. Manche werden langsam emporsteigen und in den Bergen wandern, um ihre physische Kraft zu stärken. Andere wiederum, ehrgeizige Bergsteiger, werden um jeden Preis versuchen, die höchsten und steilsten Gipfel zu erklimmen.

Karate für die physische, kämpferische und geistige Entwicklung

Karate wirkt auf Körper und Geist des Menschen. Es verhilft dem Praktizierenden zu einer besseren Gesundheit und sichert ein langes und gesundes Leben. Durch seine Praxis bilden sich Kampffähigkeiten aus. Darüber hinaus kann Karate die Vitalität und die psychische Energie entwickeln und festigen. All diese Aspekte lassen sich jedoch kaum voneinander trennen, sie bedingen und fördern einander. Welche dieser Funktionen in den Vordergrund tritt, hängt von den Motiven und Zielen des Praktizierenden ab.

Hinsichtlich der Ausbildung kämpferischer Fähigkeiten gibt es häufig Mißverständnisse. Mancher bekommt sicher etwas Angst, wenn er Begriffe hört wie »Realkampf-Karate« oder »Straßenkampf-Karate«. In Situationen realen Kampfes gerät man im normalen Alltagsleben allerdings relativ selten, es sei denn, man provoziert oder sucht sie. Dennoch, die Gewalttätigkeit hat in jüngerer Vergangenheit wieder zugenommen. Selbst in Japan, einer der sichersten und diszipliniertesten Gesellschaften der Welt, kam es in den letzten Jahren zunehmend in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf Straßen zu völlig unprovozierten Angriffen oder zur Eskalation von Konflikten. Man sollte sich demzufolge darauf einstellen, daß man selbst in gewaltsame Auseinandersetzungen einbezogen oder zum Kämpfen gezwungen wird, um Familienmitglieder oder Freunde zu schützen. Der beste Weg, mit solchen Situationen fertig zu werden, war schon immer, dem Angriff des Gegners auszuweichen und ihn daraufhin an empfindlichen Stellen zu treffen, um damit Zeit zu gewinnen und weglaufen zu können.

Normale Leute werden heutzutage mit realem Kampf nur dann konfrontiert, wenn sie sich verteidigen müssen. Für die Samurai in den Zeiten der Feudalkriege oder für die Soldaten in den Weltkriegen bedeutete realer Kampf hingegen, sich gegenseitig zu töten. An dieser Stelle muß ich einräumen, daß Meister des Karate, wie ich sich selbst einer bin, sich Tag für Tag in einem Bujutsu-Karate3 schulen, das die Grenzen der Selbstverteidigung überschreitet. Und Kampftechniken, die die Grenzen der Selbstverteidigung überschreiten sind, geradeheraus gesagt, Techniken zum Töten von Menschen (satsuhō). Es mag gewagt klingen, das zu sagen, aber genau dies ist der Ausgangspunkt des Karate als Budō, als Weg des Kampfes oder des Kriegers. Aber man möge dabei bedenken, daß man, wenn man solche Techniken übt, grundsätzlich nichts anderes tut als Soldaten, die sich Tötungstechniken zur Verteidigung ihres Vaterlandes, des Landes ihrer Vorfahren, aneignen.

Die Techniken zur »minimalen« Selbstverteidigung, also jene Techniken, die nicht den Tod des Gegners bezwecken, wurden demzufolge aus Techniken zum Töten von Menschen entwickelt.

Die Herausbildung des modernen Karate

Der Mann, den man später den »Ahnherren der Erneuerung des Karate« nannte, war Itosu Ankō (1830-1916), auch Yasutsune genannt. Er war der größte Meister des Shuri-te, das die ursprünglichen okinawanischen Kampftechniken mit der bloßen Hand, die te, repräsentiert.4 Meister Itosu reorganisierte das Karate, als es in der Meiji-Zeit offiziell Eingang in die reguläre Mittelschulbildung fand.

Meister Itosu wählte traditionelle Techniken aus und gestaltete sie um. Orientiert an den Idealen der modernen Körpererziehung wurden lebensgefährliche Techniken ersetzt durch technische Abläufe, die bewegungsreich und hinsichtlich der Körpererziehung effektiv waren. So war die Sequenz vom Querfeger (yoko barai) zum Tritt (keri) in der Kata Passai dai ursprünglich eine Bewegungsfolge von einem Stich in die Augen mit den Fingern der offenen Hand (kaishu metsubishi) zu einem Tritt in die Genitalien (kinteki). Von Itosu Ankō stammt beispielsweise die Gruppe der fünf Kata Heian, die noch heute sehr beliebt sind. Entsprechend der Bedeutung des Begriffs Heian (Frieden und Ruhe) enthalten diese Kata keine Angriffe auf sogenannte »goldene Ziele«, d. h., auf Genitalien oder auf andere Vitalpunkte, oder gefährliche Techniken wie den »Augenzerquetscher« (metsubishi).

Auf ähnliche Weise ist Kanō Jigorō (1860-1938) vorgegangen, als er aus dem überlieferten Jūjutsu alle Würfe (nage waza) und Schläge (atemi) eliminierte, mit denen man töten konnte, und so das Kōdōkan-Jūdō entwickelte. Dies waren Ergebnisse, wie sie die Bewegung zur kulturellen Reform (bunmei kaika) im Prozeß der Modernisierung Japans angestrebt hatte.

Allerdings blieben im Shitō-Karate viele alte Kata erhalten. Und auch in den von Meister Itosu reformierten Kata waren etliche Techniken verborgen, die nur mündlich als Geheimwissen überliefert worden waren, darunter einige recht grausame Tötungstechniken. Einer meiner engagiertesten Schüler, Terada, leitete manchmal das Training im Schul-Karateverein, dem auch sein Sohn angehörte. Er erzählte mir einmal lachend, daß sein Sohn sich beschwert habe: »Papa, dein Karate ist immer gegen die Regeln!« Das berührt die Frage, ob man solche gefährlichen Techniken wirklich lernen muß, ob also eine kampftechnische Ausbildung sinnvoll ist, die die Grenzen der Selbstverteidigung überschreitet. Wie bereits erwähnt, gehört der Angriff im Rahmen der Verteidigung zum Wesen des Karate. Tatsächlich gibt es einen Grenzbereich beim Studium des Karate, in dem es darum geht, Kampftechniken beherrschen zu lernen, mit denen man auf sehr effektive Weise töten kann. Damit begibt man sich in die Welt des Budō. Dieses Problem ist der wichtigste Gegenstand dieses Buches. Zunächst möchte ich mich aber zu heutigen Werten und zur allgemeinen Funktion des Karate äußern.

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