Kieler Courage

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Vor einem Jahr saßen sie in ihrem Büro in der Blume – so nannten die Kieler ihr Polizeipräsidium, weil es in der Blumenstraße lag – und studierten gemeinsam eine Akte.

»Chef?«, sagte Hedi.

»Hedi?«, antwortete Rosenbaum, ohne seinen Blick von dem Vernehmungsprotokoll abzuwenden, das er gerade las.

»Ich bin schwanger, Chef.«

Er schaute weiter auf das Protokoll, nicht mehr auf die Wörter, nur noch auf das Papier.

»Ich muss aufhören zu arbeiten.«

Er konnte nicht sagen, dass er das geahnt hatte, auch nicht, dass er es geahnt hätte, wenn er es für möglich gehalten hätte. Aber er hatte bereits Veränderungen an ihr beobachtet, ein Stück gereizter, ein Stück rundlicher, und seit einigen Wochen lehnte sie jedes Mal ab, wenn er ihr eine Zigarette reichen wollte.

»Wann?«, fragte er, sein Blick blieb am Protokoll kleben.

Hedi antwortete nicht, schaute ihn nur eine Zeit lang stumm an. Dann stand sie auf, schleuderte den Stift, den sie in der Hand hielt, auf den Schreibtisch und rannte wortlos aus dem Raum.

In den folgenden Wochen verloren sie kein einziges Wort über dieses Thema. Rosenbaum taxierte täglich mit heimlichen Blicken den Umfang ihres Bauches, er horchte auf, wenn sie stöhnte oder seufzte oder sich ins Kreuz fasste, und er machte sich Sorgen, wenn sie – was zwei- oder dreimal vorkam – morgens nicht zur Arbeit erschien. Doch nach außen ließ er keine Anteilnahme erkennen. Es ging ihn nichts an, zumindest wollte er sich nicht einmischen, und er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er das wollte oder dass es ihn sonderlich beschäftigte. Nachts lag er oft wach und dachte an Hedi und machte sich Sorgen. Sie hatte keinen Mann, lebte noch bei ihren Eltern, sie war auf dem Weg zur alten Jungfer und dann ins Ungewisse abgebogen.

Als der Bauch so dick war, dass Hedi kaum noch die Treppe zum Büro schaffte, sprachen sie wieder darüber.

»Ab Morgen habe ich Urlaub«, sagte sie. »Bis zur Geburt. Und dann ins Wochenbett.«

Rosenbaum nickte. Was sollte er antworten? Oder tun? Er könnte sie heiraten. Doch er war bereits verheiratet, wenn auch nur in einer Konvenienzehe. Charlotte, seine Frau, lebte in Berlin, sie sahen sich nur selten, ein- oder zweimal im Jahr, wenn er sie besuchte. Er schätzte sie, in gewisser Weise liebte er sie, er hatte zwei Kinder mit ihr großgezogen, eines davon lebte noch, sie war ihm wichtig. Er würde sich nicht scheiden lassen, auch nicht für Hedi.

Als Hedi Urlaub hatte und die Niederkunft immer näher rückte, besuchte er sie mehrmals in der Woche. Aus der Spielzeugabteilung von Schmielau am Markt brachte er Märchenbücher und Blechkarussells mit, und von der Drogerie Wagner Reformwaren. Manchmal streifte Hedi ihren Bauch frei und er legte seine Hand darauf. Es war ein riesiger Bauch, einer, in dem Zwillinge oder Drillinge verschwenderischen Platz gehabt hätten.

»Vielleicht sind es Zwillinge«, sagte er.

»Ach Chef, Sie Quatschkopf«, lautete Hedis Antwort. »Das hätte der Arzt gehört. Die Herztöne, er hätte gehört, wenn es mehrere wären.«

Der errechnete Geburtstermin kam. Und er verging. Hedi sagte, die Hebamme habe gesagt, das sei bei Erstgeburten ganz normal, und ihre Mutter habe das auch gesagt. Weitere Tage vergingen. Plötzlich war Hedi im Krankenhaus, eine Woche lang. Rosenbaum durfte nicht zu ihr und er erfuhr nichts, auch nicht, warum er nicht zu ihr durfte und warum er nichts erfahren durfte. Er sorgte sich grenzenlos. Als Hedi wieder zu Hause war, hatte sie tatsächlich nur ein Kind, und das hieß David.

»Wieso soll er David heißen?«, fragte Rosenbaum. »Er ist doch kein Jude.«

»David ist ein schöner Name«, sagte Hedi.

Rosenbaum war Jude und sein zweiter Vorname lautete David. Er fühlte sich aufgefordert, die Patenschaft für das Kind zu übernehmen. Doch er war nun mal Jude, und David sollte evangelisch getauft werden.

»Wieso geht das nicht?«, fragte Rosenbaum den Pastor.

»Weil Pate einer evangelischen Taufe nur sein kann, wer die Zulassung zum Abendmahl besitzt«, antwortete der Pastor.

»Und euer Christus? Hatte der eine Zulassung? Und Johannes der Täufer? Petrus?«

Mit diesen Fragen wurde das Gespräch einvernehmlich beendet.

Jedem, der Familie, den Nachbarn, dem Bekanntenkreis, den Kollegen, den Vorgesetzten, auch dem Pastor, einfach jedem war von nun an absolut klar, dass Rosenbaum auch der Erzeuger sein musste, und jeder reagierte auf seine Weise: der Pastor mit einem angewiderten Kopfschütteln, die Nachbarn mit Tuscheln, einige Kollegen mit anerkennendem Schulterklopfen, Hedis Eltern mit der Diskussion, ob das Kind eine Hakennase bekommen werde. Hedi störte sich nicht daran, jedenfalls sagte sie, dass es sie nicht störe, und vielleicht gefiel es ihr sogar ein wenig. Auch Rosenbaum störte es nicht, nur Charlottes Meinung war ihm wichtig. Er hatte ihr versichert, dass er mit der Zeugung des Kindes nichts zu tun hatte, und sie hatte ihm geglaubt, jedenfalls hatte sie gesagt, dass sie ihm glaube – und wenn sie es vielleicht doch nicht tat, dann hatte sie ihm verziehen.

»Seit der Geburt heult Hedi viel«, sagte neulich die Mutter zu Rosenbaum. Wenn er zu Besuch war, heulte sie nicht. Die Mutter nahm es als Zeichen, dass er ihr und dem Kind guttue. Das sagte sie ihm auch. Rosenbaum hatte von solchen Eigenartigkeiten gelesen und er hatte es damals auch bei Charlotte bemerkt. Während der Schwangerschaft benahmen sich Frauen oft eigenartig, nach der Schwangerschaft waren sie unberechenbar. Doch ein paar Wochen später würde das vorbei sein. Seit Davids Geburt waren inzwischen etliche Wochen vergangen.

Als die Eltern die Tür hinter sich zugezogen und Hedi mit David ausreichend unartikulierte Laute ausgetauscht hatten, knöpfte sie ihre Bluse auf und David strampelte vor lauter Vorfreude auf die nächste Mahlzeit. Sie gab sich vollständig ungeniert, weder hielt sie das Kind so, dass Rosenbaum von ihren Brüsten möglichst wenig sehen könnte, noch stellte sie sie zur Schau, sie bewegte sich, als wäre sie mit dem Kind allein. Rosenbaum versuchte, nicht unverschämt hinzusehen und nicht verschämt wegzusehen, doch im Grunde tat er beides.

»Wieso haben ihre Eltern sie mitten im Schuljahr auf eine neue Schule geschickt?« Hedi unterbrach die Frage mehrmals, um mit den Lippen zu schürzen.

Rosenbaum brauchte etwas Zeit, um sich darüber klar zu werden, dass Hedi nicht von David oder ihren Brüsten sprach. »Würde mich auch interessieren«, sagte er schließlich.

»War sie denn vorher schon in Kiel?«

»In Schwerin. Wo die Eltern leben.«

Jetzt schürzte auch Rosenbaum seine Lippen. Er beugte sich vor, strich mit dem Zeigefinger über Davids Wange, der sich darum nicht scherte, sondern nur an seiner Nahrung interessiert war. Fast hätte Rosenbaum Hedis Brust berührt, verlegen zog er die Hand zurück.

»Aber wie kann man sich das vorstellen: ein Raubmord am Kleinen Kiel, am helllichten Tag? Hat der Täter ihr die Handtasche weggerissen, durchstöbert, den Umschlag mit dem Geld herausgenommen, das Portemonnaie aber drin gelassen, die Tasche sorgfältig wieder verschlossen, ihr umgehängt und sie dann ins Wasser gestoßen?«

»Eigenartig, nicht? Sie muss ihn gekannt haben. Ein Streit? Um Geld?«

David wechselte die Seite.

»Gerlach hat ein Rezept in ihrem Nachttisch gefunden, das sie noch nicht eingelöst hat.« Rosenbaum zog es aus der Tasche, fast hätte er es dort vergessen. »Von einem Dr. Max Stapelhöhe, praktischer Arzt, Dahlmannstraße.«

»Max Stapelhöhe – würde eher zu einem Lagerarbeiter passen, nicht?« Hedi nahm das Rezept und schaute es sich an. »Onopordum-Extrakt, das kenne ich. Das habe ich auch mal genommen. Wegen meiner Kreislaufprobleme in der Schwangerschaft. Hat nicht geholfen. Homöopathie. Alles Hokuspokus. Au!«

David hatte seine Sättigungsgrenze erreicht, was er im Allgemeinen dadurch kundzutun pflegte, dass er seiner Mutter in die Brustwarze biss. Hedi reichte das hinterhältige Verdauungspaket Rosenbaum herüber, der es sich mit ein paar Leinentüchern bewaffnet über die Schulter legte. Die drei waren ein eingespieltes Team.

»Die Zimmergenossin verhält sich eigenartig. Sie verheimlicht irgendetwas«, sagte Rosenbaum und klopfte David auf den Rücken. »Vielleicht könnten Sie mal mit ihr sprechen?«

»Klar, Chef. Mache ich, wenn Sie wollen.«

Dass die beiden sich trotz all der Vertrautheit noch immer siezten, wirkte auf jeden, der es mitbekam, einigermaßen befremdlich. Nicht nur die Eingeweihten, die Familie, die Nachbarn oder der Pastor wunderten sich, auch Fremde, man spürte ein persönliches Band zwischen ihnen, das zu dieser förmlichen Anrede partout nicht passte. Aber beide wollten es so, Hedi, weil sie die feste Absicht hatte, wieder als seine Assistentin zur Polizei zurückzukehren, Rosenbaum, weil er hoffte, auf diese Weise eine zu große Nähe verhindern zu können.

Nach ein paar Rülpsern war David bereit für den Verdauungsschlaf, und für Rosenbaum war es Zeit zum Aufbruch. Im Flur streifte er seinen Mantel über, zog einen Zwanzigmarkschein aus seinem Portemonnaie und legte ihn beiläufig auf die Kommode. Hedi beachtete es nicht. Nachher würde sie den Schein in einen Briefumschlag legen, zu den anderen Scheinen, die Rosenbaum auf der Kommode hinterlassen hatte, bei seinem letzten Besuch und dem vorletzten und allen Besuchen seit sieben Monaten, seit Davids Geburt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie kein Geld von ihm haben wolle, und sie hatte angekündigt, dass sie das Geld, das er ihr trotzdem geben würde, sammeln und ihm zurückgeben werde. Auf sein Verhalten hatte das keine Auswirkung. Denn David hatte keinen Vater, der Alimente zahlen würde. Rosenbaum hatte nie danach gefragt, er wusste nicht, wer der Erzeuger war, und Hedi hatte es ihm nie erzählt. Doch es stand für Rosenbaum fest: Einen anderen Vater als ihn gab es nicht, brauchte es auch nicht. Und wenn Hedi ihm das Geld tatsächlich eines Tages zurückgeben würde, dann würde er damit ein mündelsicheres Sparbuch für David anlegen.

 

III

»Was heißt ›verschwunden‹?«

»Also … nicht mehr da.«

»Sie veralbern mich gerade.«

»Nein.«

»Sie ist weg?«

»Ja … verschwunden eben.«

Es war Freitagvormittag, der 12. März 1920. Es war nicht etwa Freitag, der 13., auch nicht der 1. April, sondern nur irgendein Freitagvormittag in der Blume. Rosenbaum setzte sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Eigentlich sank er eher auf den zufällig hinter ihm stehenden Stuhl und wirkte dabei wie ein Schlachtschiff, das einen schweren Treffer abbekommen hatte, dann sank und auf einer Sandbank aufsetzte, bevor es auseinanderbrach und vollständig unterging. Schon einmal war Rosenbaum in dieser Weise auf seinen Stuhl gesunken, als vor elf Jahren ein Polizeibote verschwunden war. Doch jetzt überbrachte Gerlach keine Information über einen verschwundenen Lebenden, sondern über eine abhandengekommene Tote, eine ganz bestimmte auch noch: Der Leichnam von Katharina von Lettow-Vorbeck war verschwunden.

Gerlach schloss die Tür und setzte sich vor Rosenbaums Schreibtisch. Er war erkennbar aufgebracht gewesen, hatte sich allerdings wieder ein wenig beruhigt.

»Ich habe in der Gerichtsmedizin angerufen, um zu fragen, wann wir den Obduktionsbericht bekommen können. Professor Ziemke sagte, er sei gerade erst in die Klinik gekommen, habe sich vorgenommen, mit der Obduktion zu beginnen, und der Bericht würde gegen Mittag fertig sein. Fünf Minuten später rief er an und sagte, die Leiche sei weg, sein Sektionshelfer habe sie schon am frühen Morgen dem Militär übergeben.«

»Wie? ›Dem Militär übergeben?‹«

»Er sagt, vor der Tür stand plötzlich ein Sanitätswagen des Heeres und die Fahrer hatten eine Übernahmeanordnung der Reichswehr-Brigade 9 dabei. Der Sektionshelfer soll sich noch aufgeregt haben, weil eine Leiche nicht in einen Sanitätswagen gehöre. Aber er fügte sich, als der Fahrer sagte, dass in seinem Wagen schon fast so viele Tote wie Verletzte transportiert worden seien und dass darin auch oft ein Verletzter erst zu einem Toten wurde.«

Rosenbaum schaute in seine Kaffeetasse, die noch vom Vortag halb leer auf seinem Schreibtisch gestanden hatte. Wäre Hedi noch da gewesen, wäre das nicht passiert.

»Ich habe nachgeschaut«, fuhr Gerlach fort. »Die Reichswehr-Brigade 9 des Übergangsheeres ist in Schwerin stationiert. Der Kommandant ist zugleich der Militärgouverneur von Mecklenburg und Holstein: Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck.«

Das ergab Sinn. Der Kommissar klopfte die Taschen seines Sakkos und der Hose nach Zigaretten ab, wurde bei der Brusttasche fündig und steckte sich eine an. Er war zu Massary Delft gewechselt, die gute Massary, edel wie der Name, ein stilvoller Ersatz für die Zigarren, die er früher geraucht hatte, und derzeit das Einzige, was man ohne größere Mühe bekommen konnte. Dann griff er zum Telefonhörer, ließ sich eine Verbindung mit der Reichswehr-Brigade 9 herstellen, und nach einer Minute hatte sich ein temperamentvoller Gedankenaustausch mit dem Adjutanten des Brigadekommandanten entwickelt.

»Sie stellen mich jetzt sofort zu Herrn Lettow-Vorbeck durch!«

»Generalmajor von«, rhetorische Pause, »Lettow-Vorbeck ist nicht zu sprechen.«

»Wenn Sie mich nicht augenblicklich verbinden, lasse ich Herrn Lettow-Vorbeck zur Vernehmung vorführen!«

»Ja, machen Sie das.«

Rosenbaum war kurz davor, Wörter zu benutzen, für die er durchaus belangt werden könnte. Natürlich hatte er nicht die Befugnis, den Militärbefehlshaber von Mecklenburg und Holstein vorführen zu lassen, aber die Chuzpe dieses Vorzimmer-Leutnants brachte ihn aus der Fassung. Um zu vermeiden, was er später bereuen würde, reichte er den Hörer an Gerlach weiter, dessen Bemühungen zwar wesentlich diplomatischer, aber genauso erfolglos waren. Seine Versuche zu erklären, dass die Leiche dringend untersucht werden müsse – das liege doch auch im Interesse des Herrn Generalmajor – und dann so schnell wie möglich zur Bestattung freigegeben werde – Ehrenwort –, halfen nicht weiter als der Hinweis, dass sich die Leiche im Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörden befunden habe, als sie bei der Gerichtsmedizin gelegen hatte, und ihr Abtransport einen rechtswidrigen Gewahrsamsbruch darstelle. All das führte nicht weiter als zu der Empfehlung, eine schriftliche Eingabe zu verfassen, man werde sich zu gegebener Zeit damit befassen.

Im Hintergrund tobte der Kommissar und presste Wörter, die er nicht benutzen sollte, durch gefletschte, zusammengebissene Zähne. Gerlach zog es vor, das Telefonat zu beenden.

»Der hängt noch in seinem preußischen Militärstaat fest«, schimpfte Rosenbaum, ohne sich zügeln zu müssen. »Wir sind jetzt Bürger und keine Untertanen mehr, das hätten Sie diesem Betonkopf mal sagen sollen!«

Seine Zigarette war unbeachtet im Aschenbecher runtergebrannt, der halb voll noch vom Vortag auf dem Schreibtisch stand. Das wäre früher auch nicht passiert.

»Ich fahr da jetzt hin und sage dem das – und hol die Leiche zurück.«

»Ne, besser ich fahre, Chef. Sie würden nur eine Schlägerei auslösen.«

Rosenbaum ließ Gerlach fahren, zuerst widerwillig, sich der Einsicht in das Erforderliche fügend, dann war er ganz zufrieden mit dieser Entscheidung. Er besorgte sich eine Tasse Kaffee, schwarz und ohne Zucker, den er sich mühsam aus der Kantine im Souterrain holen musste, seit er mit Hedis Abgang nicht mehr frisch im Vorzimmer gebrüht wurde. Eine neue Packung Zigaretten nahm er gleich mit und wechselte mit dem Kollegen Dumrath am Tresen einige belanglose Worte über das Wetter und dass es jetzt in Deutschland bestimmt bald wieder aufwärtsgehen werde; mit Dumrath konnte man sowieso nur Belanglosigkeiten austauschen. In seinem Vorzimmer schaute er sich die Eingangspost an, ein paar Berichte und Protokolle, neue Akten von der blauen Polizei mit Strafanzeigen, alte Akten von der Staatsanwaltschaft mit Einstellungsverfügungen und Vernehmungsanordnungen, nichts Dringliches. Er schob alles zur Seite, für die kommende Woche war eine neue Sekretärin angekündigt.

Zurück in seinem Büro setzte er sich in den Schreibtischsessel, lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee. An der Wand gegenüber hing eine Schiefertafel. Sie hatte dort vor einiger Zeit ein Porträt des Kaisers abgelöst. Seit Unterzeichnung des Friedensvertrages war Wilhelm II. offiziell ein Kriegsverbrecher, gesiegelt und gestempelt, anerkannt von der Reichsregierung, nach Rosenbaums Überzeugung ein schwerer strategischer Fehler. Seither gab es in deutschen Amtsstuben kein Porträt des Kaisers mehr, sie hingen jetzt nur noch in Wohnzimmern. Rosenbaum hatte den Kaiser freilich schon Jahre zuvor abgehängt. Einige Zeit hing allein die Schiefertafel an der Wand. Dann kam ein Porträt vom Reichspräsidenten Ebert hinzu, aber nur kurz. Jetzt war die Tafel wieder allein, und Ebert stand in der Ecke, mit dem Gesicht zur Wand, er musste sich schämen.

Auf die Tafel hatte Rosenbaum mit weißer Kreide »Katharina« geschrieben und rechts daneben »Mona«. Er stand auf, fügte »PvLV« hinzu und setzte sich wieder.

»Ach, Sie sind da?« Die Stimme von Iago Schulz ertönte im selben Moment, in dem sich die Tür öffnete.

»Ja, natürlich.«

»Hm.«

Wie Rosenbaum war Schulz einer von derzeit sechs Kommissaren der Kieler Blume. Ein Kollege, aber kein Freund. Und er würde auch niemals ein Freund werden. Zu deutlich hatte Schulz von Anfang an klargemacht, dass er Rosenbaum für einen jüdischen Kommunisten, also einen Volksschädling hielt. Und zu eindeutig war es für Rosenbaum, dass er Menschen verachtete, die in solchen Kategorien überhaupt dachten. Schulz hatte sich zur PP, der Politischen Polizei, gemeldet, einer größtenteils geheim agierenden Sondereinheit der Berliner Polizei, deren hiesiger Ableger zunächst nur organisatorisch dem Kieler Polizeipräsidenten, im Übrigen aber Berlin unterstellt war. Nach dem Krieg waren die Kompetenzen der Berliner Polizei beschnitten worden, und seither unterstand die Kieler PP dem Kieler Polizeichef. Doch ob das eine endgültige Regelung war, durfte bezweifelt werden, in diesen Zeiten war kaum etwas endgültig. Der Ruf der PP ließ das Schlimmste vermuten, entsprach aber nach Rosenbaums Überzeugung der Realität, auch wenn niemand es wegen deren Geheimniskrämerei so genau wissen konnte. Für Rosenbaum war klar, dass Schulz mit seiner völkischen Gesinnung und seinem intriganten, miesen Charakter bestens in diese Truppe hineinpasste. Sie waren anfangs erbitterte Feinde gewesen, und doch waren sie Kollegen. Ein wenig hatte sich ihr Verhältnis gebessert, als Schulz Rosenbaum einmal das Leben gerettet hatte. Aber Freunde würden sie nie werden. Und Rosenbaum würde Schulz nie über den Weg trauen. Und dass er ihm das Leben gerettet hatte, war kein Akt des Mitgefühls gewesen, sondern hatte mit Sicherheit einen eigennützigen Beweggrund gehabt. Rosenbaum wusste nur noch nicht, welchen.

Letztmalig waren sie aneinandergeraten, als vor einem halben Jahr Kriminaldirektor Freibier in den Ruhestand gegangen war. Schulz hatte sich als dessen Nachfolger beworben, und Rosenbaum hatte dasselbe getan, allein damit Schulz nicht sein Vorgesetzter werden würde. Natürlich hatte Rosenbaum als SPD-Mitglied hervorragende Aussichten gehabt, während Schulz als bekanntermaßen rechtskonservativer Revanchist – und mutmaßlich Schlimmeres – kaum eine Chance besaß, zum Direktor befördert zu werden. Bekommen hatten sie den Posten am Ende beide nicht. Er war von auswärts besetzt worden. Ihr neuer Chef war jetzt Kriminaldirektor Friedrich Klemp aus Lübeck, natürlich SPD-Mann. Mehr hatte Rosenbaum im Grunde nicht gewollt.

»Ich habe ein Vernehmungsprotokoll für Sie«, sagte er und legte einige sauber in Maschinenschrift getippte Blätter vor ihm auf den Tisch.

»Was für ein Vernehmungsprotokoll?«

»Ein Zeuge hat sich gemeldet. In Ihrem Mordfall. Peter Harald Bäcker heißt der Mann«, erklärte Schulz, während Rosenbaum durch das Protokoll blätterte. »Er hat heute Morgen in der Zeitung von dem Mord gelesen und sich sofort bei uns gemeldet. Er sagt, er habe am Tattag gegen vier Uhr nachmittags ein Fräulein mit einem jungen Mann vor dem Holzsteg am Kleinen Kiel gesehen. Sie hätten gestritten. Der Zeuge habe sich aber nichts weiter dabei gedacht und sei seines Weges gegangen.«

»›Ohrfeige gegeben‹, ›an den Armen gefasst und geschüttelt‹, ›Hurensohn gerufen‹«, zitierte Rosenbaum aus dem Protokoll. »Und dabei hat er sich nichts gedacht?«

»Tja«, kommentierte Schulz.

Das letzte Blatt des Protokolls enthielt eine Phantomzeichnung.

»Was ist denn das?«, fragte Rosenbaum.

Auf der Zeichnung war die rechte Gesichtshälfte eingefallen – es schien, als fehlte der Wangenknochen –, Narben zogen sich vom Auge bis zum Unterkiefer und klebten Hautfetzen aneinander.

»Eine Kriegsverletzung, würde ich sagen«, antwortete Schulz in einem Tonfall, der sagte: Das sieht man doch.

Rosenbaum legte die Blätter auf den Tisch und schaute Schulz mit einem Blick an, der verriet, dass ihm das alles nicht passte. »Wieso haben Sie ihn nicht an mich verwiesen?«

»Sie waren nicht da. Hätte ich den Mann wieder gehen lassen sollen?«

»Natürlich war ich da.« Natürlich war er da, er war nur eine halbe Stunde in der Kantine gewesen. »Ich war nur ein paar Minuten in der Kantine.«

Schulz nickte.

Rosenbaum bedankte sich in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht dankbar war, sondern Schulz auffordern wollte zu gehen.

Die Zeichnung musste in die Zeitungen. Mit der Kriegsverletzung war sie charakteristisch genug, um auf zweckdienliche Hinweise hoffen zu lassen. Rosenbaum setzte sich an die Schreibmaschine im Vorzimmer, eine Adler No. 7, ein Gerät, mit dem er sich nie anfreunden würde. Es gab fünf Tageszeitungen in Kiel, er konnte sich aber auf die drei größten beschränken, die konservativen Kieler Neuesten Nachrichten, die liberale Kieler Zeitung und die linksgerichtete Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, mehr als zwei Durchschriften mit Kohlepapier wären sowieso kaum zu entziffern gewesen. Als das Papier eingespannt war und Rosenbaum seine schwarzen Fingerspitzen in seinem Taschentuch wieder einigermaßen sauber bekommen hatte, musste er sich mit den vollkommen sinnlos angeordneten Tasten auseinandersetzen, mit dem Q oben links, dem H in der Mitte und dem M unten rechts. Er wollte es demütig als gegeben hinnehmen und darüber nicht nachdenken, er wollte einen Wutausbruch vermeiden. Schon bei »An die Schriftleitungen der Kieler Neuesten« hat er sich zweimal verschrieben. Beim zweiten Papiersatz kam er etwas weiter, beim dritten beschloss er, bis zu drei Tippfehler hinzunehmen und handschriftlich zu korrigieren, beim vierten Tippfehler beschloss er, vier hinzunehmen. Der Papiervorrat war fast aufgebraucht, als er nach einer Stunde das Anschreiben fertiggestellt hatte, versehen mit etlichen handschriftlichen Korrekturen. Seine Ansprüche waren immer weiter gesunken. Wäre nur Hedi da gewesen.

 

Er unterzeichnete, übergab die Schreiben in der Wachtmeisterei dem Polizeiboten und zog sich wieder in sein Zimmer zurück, wo er staunend feststellte, dass er eine Stunde nicht geraucht hatte. Dann steckte er sich eine an. Auf seinem Schreibtisch rückte er die Fotografie von Albert, seinem Sohn, zurecht. Aus den letzten Jahren besaß er von ihm nur zwei Porträts. Eines, das ihn als stolzen Notabiturienten zeigte, und eines, auf dem er kurz danach eine Infanterieuniform trug. Das als Abiturient stand auf dem Schreibtisch. Es war ursprünglich koloriert gewesen, Rosenbaum hatte sich aber ein neues Exemplar in schwarz-weiß anfertigen lassen. Das mit der Uniform war in der Schublade verschwunden, neben dem Foto von Alberts Grab.

*

Auch wenn man es kaum glauben mochte, Mecklenburg-Schwerin war ein selbstständiger deutscher Bundesstaat, zuerst Herzogtum, seit einem Jahr Freistaat, doch stets widerstand es wie ein kleines gallisches Dorf wacker fremden Annexionsbestrebungen. Die Schleswig-Holsteiner hätten es nie zugegeben, aber es schwang eine bedeutende Portion Neid mit, wenn sie auf Mecklenburg schauten. Nach dem gewonnenen Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 hatten sie auf eine Schleswig-Holsteinische Selbstständigkeit gehofft, waren aber zwei Jahre später von Preußen geschluckt und zu einer bloßen Provinz degradiert worden, während Mecklenburg-Schwerin selbstständig geblieben war.

Und das hatte Auswirkungen, wenn man von Kiel nach Schwerin reisen wollte. Hier herrschte die Preußische Staatsbahn, dort noch immer die Mecklenburgische Landeseisenbahn; die von der neuen Staatsverfassung vorgeschriebene Gründung der Reichsbahn, die alle Landesbahnen in sich vereinigen sollte, war erst für den 1. April vorgesehen. Also gab es noch keine direkte Zugverbindung, nicht einmal aufeinander abgestimmte Fahrpläne. Im Kieler Hauptbahnhof wartete eine Preußische S5 mit modernen Durchgangs­waggons, um die Reisenden mit hundert Stundenkilometern zum Grenzbahnhof in Lübeck zu bringen, wo sie – manchmal unabsehbar lange – auf eine Mecklenburgische T4 warten mussten, um in alten Abteilwagen mit fünfzig Stundenkilometern nach einem weiteren Umstieg in Bad Kleinen irgendwann Schwerin zu erreichen.

Und genau diese Strapaze musste Klaus Gerlach jetzt auf sich nehmen. Den längsten Aufenthalt hatte er in Bad Kleinen, wo das Empfangsgebäude unbeheizt und die Bahnhofsgaststätte geschlossen waren. Darüber hinaus hatte der Kiosk keine belegten Brote mehr anzubieten. Der Kriminalassistent wartete auf einer Bank, schaute in kurzen Abständen auf seine Uhr und hatte nicht einmal mehr die Ablenkung einer am Fenster vorbeiziehenden Vorfrühlings-Landschaft. Erst diese Zeit der Muße brachte ihn auf die Frage, wie er eigentlich die Leiche nach Kiel zurückbringen sollte, falls ihm diese mitgegeben werden würde.

Als er endlich Schwerin erreichte, war es bereits dunkel. Gegenüber vom Bahnhof betrat er ein Hotel, wo er sich ein Zimmer nahm und eine Kleinigkeit essen konnte. Dann wurde er vom Portier mit einer Wegbeschreibung ausgestattet und eilte zu Fuß zum Arsenal am Pfaffenteich, in dem die Reichswehr-Brigade 9 Quartier bezogen hatte. Der Portier hatte ihn telefonisch angekündigt, so wurde er bereits erwartet und ohne größere Umstände ins Vorzimmer des Kommandanten geführt. Dort allerdings musste er wieder warten, dieser Raum war allerdings geheizt und der Ausblick auf den Pfaffenteich war idyllisch. Doch gleich würde er dem »Löwen von Afrika« gegenüberstehen, dem Mann, der zu wichtig oder zu beschäftigt war, um mit der Polizei über die Leiche seiner Tochter zu telefonieren. Gerlach würde ihn nicht nur um Rückführung bitten, sondern auch sachdienliche Fragen klären wollen. Ob dieser Generalmajor sich dazu bewegen lassen würde, die Leiche zurückzugeben, war für den Kriminalassistenten kaum abzuschätzen, aber die Chance, an einige aufschlussreiche Informationen zu gelangen, sollte groß sein. Natürlich gehörte es zur Taktik des Kommandeurs, Gerlach warten zu lassen, er sollte nervös werden. Das war ihm bewusst, aber darauf würde er nicht hereinfallen. Im Krieg war er Meldegänger, später Meldeoffizier gewesen, er war den Umgang mit Generälen gewohnt, deren Taktik war ihm bekannt. Aber blümerant wurde ihm trotzdem.

Nach einer halben Stunde ließ man ihn vor. Er betrat ein üppiges, barockes Arbeitszimmer. Schreibtisch, Bücherschrank, eine kleine und eine große Kommode waren aufeinander abgestimmt in Kirsche und Wurzelnuss gefertigt und aufwendig mit matt goldenen und schwarzen Applikationen und verspielten Bronzebeschlägen versehen. In der einen Zimmerecke thronten stolze Regimentsfahnen, in der anderen hing die alte Reichskriegsflagge an einer Fahnenstange und verdeckte die neue schwarz-rot-goldene Nationalflagge. Dazwischen hing ein Porträt von Friedrich Ebert, dem Reichspräsidenten, nicht sehr groß und im Stil der neuen Zeit in einem schlichten, schmalen, fast schäbigen Rahmen. – Ebert war Handwerkersohn, ein solcher Rahmen musste nach überwiegender Ansicht bürgerlicher Kreise für ihn reichen. – Ein heller Streifen in der Holzvertäfelung hinter dem Bild bezeugte, dass bis vor Kurzem noch ein größeres, sicherlich prunkvolleres Porträt des Kaisers oder Bismarcks, vielleicht Hindenburgs hier gehangen haben mag. Darunter saß Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck hinter seinem Schreibtisch in einer Uniform, die nicht wagte, Falten zu werfen. Der Schädel war glatt rasiert, der Bartwuchs zu einem dichten Schnurrbart vereint. Sein Gesicht brachte es fertig, zugleich rundlich zu sein und asketisch zu wirken. Seine strengen Augen verrieten, dass er sich die Einrichtung seines Zimmers nicht ausgesucht hatte und mit einem Schreibtisch aus Sperrholz zufrieden gewesen wäre.

Gerlach stellte sich vor. Lettow-Vorbeck gab seinem Bedauern Ausdruck, dass, wie ihm zu Ohren gekommen sei, Gerlach telefonisch nicht zu ihm habe durchdringen können. Dann bot er ihm den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch an, und der Kriminalassistent kam gleich zur Sache.

»Mord?« Ein verblüffter Ausdruck legte sich über das Gesicht des Generalmajors. Es war, als hätte Gerlach einen Kollegen mit einer gewagten These konfrontiert, als sei vielleicht nicht undenkbar, aber ziemlich weit hergeholt, was gerade erklärt worden war. »Nach meiner Kenntnis ist sie ins Wasser gefallen und ertrunken.«

»Es gibt da ein paar Ungereimtheiten, die die Annahme eines Fremdverschuldens nahelegen.«

»Nämlich?«

Gerlach zögerte kurz. Die Polizei teilte Zeugen ihren Ermittlungsstand normalerweise nicht mit. Doch die Situation war besonders. Also schilderte er schließlich im Detail, was die Polizei von dem Vorfall wusste.

»Haben Sie Ihrer Tochter kürzlich hundert Mark geschickt?«, fragte er.

»Meine Frau vielleicht. Ich kümmere mich um so etwas nicht.«

»Sie oder Ihre Frau sollen Katharina regelmäßig jeden Monat hundert Mark Taschengeld zugeschickt haben.«

»Das ist möglich. Wenn man von einer Regelmäßigkeit überhaupt sprechen kann, immerhin ist sie erst vor ein paar Wochen von zu Hause ausgezogen.«