Meditation heilt

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Schmerzpunkt II

Unbestritten ist, dass sich sowohl die Ursachenfindung als auch die Diagnostik von Dauerschmerz komplexer gestaltet, als es allen Beteiligten gefällt. Die einzigen Maßgaben, die gesichert zu sein scheinen, sind: Unregelmäßigkeit, Wildheit und Spontanität. Es liegt nahe, dass Schmerztherapie vor diesem Hintergrund eine Herausforderung ist.

Schmerztherapie

Symptombekämpfung

Vorausgesetzt, eine Behandlungsstrategie zielt auf Nachhaltigkeit, kann sie erst dann erfolgreich sein, wenn sie die Quelle des Schmerzes berührt. Das leuchtet so gut wie jedem Schmerzerfahrenen ein. Bleibt diese aber unerreicht, stellt sich automatisch die Frage, was es dann ist, das konkret behandelt wird.

Dieses Thema stand im Mittelpunkt mehrerer Schmerzkongresse, die ich in den letzten Jahren besucht habe. Schmerzexperten aus Medizin und Psychosomatik rangen auf verschiedensten Podien um neue Zugänge zum nervenaufreibenden Thema Schmerz. Was sich am Ende als nahezu deckungsgleich herausstellte, war zwar wenig ermutigend, dafür aber ehrlich und klar: Von einem Modell zum Heilen von Schmerzen ist die Schulmedizin meilenweit entfernt. Das Einzige, was tatsächlich bleibt, ist die übliche Versuch-Irrtum-Strategie: Wenn’s glückt, fein; wenn nicht, Pech gehabt.

Die Quelle dieser Herangehensweise sehe ich darin, dass immer noch am forcierten Bekämpfen des Symptoms festgehalten wird, am Feldzug gegen den Gegner Schmerz, und der Fokus an dessen schnellstmöglicher Vernichtung klebt. Dieses Vorgehen entspricht natürlich dem dringenden Bedürfnis Betroffener, umgehend schmerzfrei zu sein, anstatt sich auf die Suche nach inneren Zusammenhängen zu begeben.

Doch gerade darin sehe ich die Achillessehne der allgemeinen Schmerztherapie. Wenn die Grundlage des Schmerzes im Dunkeln bleibt, mögen Behandlungen und Medikamente zeitweilige Erfolge bringen, doch diese werden genauso schnell verpuffen wie die Zuversicht Betroffener, dass ein schmerzfreier Zustand im Bereich des Möglichen liegt.

Schmerzverschiebung

Bezwungener Schmerz bedeutet keineswegs automatisch Erfolg. Schmerz kann auch lediglich verlagert werden, ein Tatbestand, der in der konventionellen Medizin gar nicht existiert. Das heißt, dass Beschwerden, wenn sie über längere Zeiträume hinweg betäubt, bespritzt und fokussiert behandelt werden, durchaus von einem Körperbereich in einen anderen wandern können. Thematisiert wird dieser Umstand schon deshalb nicht, weil ein Zusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen weder offensichtlich und schon gar nicht nachweisbar ist. Wahrgenommen wird einzig, dass ein Schmerzherd abklingt, doch kurze Zeit später ein neuer entsteht.

Beispiel Gelenkbeschwerden: Wenn in die arthrotische Hüfte ein neues Gelenk eingebaut wird, kann das Hüftgelenk als solches nicht mehr weh tun. Da aber die Hüftmuskulatur im organischen Zusammenspiel mit den anderen Strukturen des Körpers keine Veränderung erfahren hat, ist der ursprüngliche Zustand genau derselbe, abgesehen davon, dass die schmerzende Struktur in Form einer Endoprothese zunächst keinen Schmerz mehr melden kann. Infolgedessen ist der Körper funktionell gezwungen, einen anderen Ausdrucksort zu finden, der mitunter in Schulter und Nacken, zumeist aber in den benachbarten Strukturen wie im Lumbalbereich oder den Kniegelenken liegt.

Oder Nackenschmerz: Wenn man an den Nackenmuskeln beharrlich zieht und dehnt, an den Wirbeln manipuliert und renkt, kann es passieren, dass der Nackenschmerz vergeht. Oft stellen sich einige Zeit später Symptomkomplexe wie Schultersteifen, Impingement-Syndrom, Tennisellenbogen, Karpaltunnelprobleme oder Lumbal- oder Kniebeschwerden ein und die Betroffenen sind nur erstaunt. O-Ton einer Klientin: „Kaum hatte ich den Nacken im Griff, da fing der Ellenbogen zu meutern an.“

Das kann nicht wirklich überraschen. Wo auch immer der Körper seine Dysfunktion ausdrückt, in den wenigsten Fällen handelt es sich dabei um die Lokalisation des primären Problems. Schmerzvertreibung ist ein Vorgang, der jegliche Form der Therapie massiv erschwert und unnötigerweise in die Länge zieht.

Kompensationsmechanismen

Darüber hinaus ist es eine Tatsache, dass zahlreiche Schmerzzustände aus einer kompensatorischen Situation heraus entstehen. Bleiben wir noch beim störanfälligen Nacken: Mit welchem Tonus unsere Nackenmuskeln arbeiten, hängt maßgeblich von der Flexibilität der gesamten Wirbelsäule sowie vom Becken als Bewegungszentrum des Körpers ab, im weiteren Sinne sogar von der Hüft-, Knie- und Fußfunktion. Wenn es zu Einschränkungen in diesen „unteren“ Bereichen kommt, zwingt man die Schulter- und Nackenmuskeln automatisch in eine Kompensationssituation hinein. Wird dann vor diesem Hintergrund an den Halswirbeln manipuliert, gerenkt oder operiert, behandelt man den verkehrten Teil des Systems – genau genommen denjenigen, der aus funktioneller Sicht gar nicht für Veränderung sorgen kann. Er gleicht ja nur aus, was andere Teile verhindern. Er kompensiert, was anderswo aus der Funktion gefallen ist.

Der Körper ist ein System, in welchem alle Teile miteinander verbunden sind und als Team agieren. Ist nur ein winziges Glied im System verändert, ist jedes Teammitglied in diese Veränderung involviert. Wenn infolgedessen Beschwerden auftreten oder Schmerz entsteht, ist das zwar alarmierend, aber tatsächlich zweitrangig und nicht primär ausschlaggebend für die Intervention.

Schmerztherapeutisches

Ob ursachenfokussiert oder symptombezogen, nichtmedikamentöse Schmerztherapie konzentriert sich in der gängigen Praxis zumeist auf ein relativ ähnliches Vorgehen, wenn auch die Betonung dem Heilansatz entsprechend unterschiedlich ist: Physikalische Therapie, Krankengymnastik, Entspannungsverfahren, Schmerzkuren, Psychotherapie, Alternativmedizin oder OP. Schmerzkliniken und Praxen profilieren sich oft mit einer Mischung aus diesen Ansätzen. Der Trend liegt im Therapiekanon, was bedeutet, dass man dem Schmerz auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig zu begegnen versucht. Dieses multimodale Schmerzkonzept beruft sich darauf, Schmerz von der körperlichen und seelischen Seite her in Angriff zu nehmen, und immer mehr kommt auch der mentale Aspekt hinzu.

Doch ob die gewählte Strategie letztendlich greift, ist und bleibt ein Experiment, und zwar deshalb, weil identisch lokalisierte Schmerzen, selbst mit ähnlich gelagerten Ursachen eben nicht homogen auf denselben Impuls reagieren, weder als Einzelmaßnahme noch in der Powerkombination.

Schauen wir auf zwei Rückenschmerzpatienten, denen mit einer herausgedrückten Bandscheibe im gleichen Segment ein bewegungsbasiertes Schmerzprogramm verordnet wird. Während einer der Betroffenen ausstrahlenden Schmerz bis in die Zehen hinein spürt, der bei Aktivität und Bewegung nachlässt, kann ein anderer nicht einmal durchatmen oder husten, wenn er sich rührt. Lust auf Bewegung? Anstatt sich nach Mobilisation zu sehnen, bleibt er lieber im Bett.

Während ein Schmerzgeplagter im Moorbad inmitten einer Ischialgie entspannen kann und sich für den Rest des Tages ausgewogener fühlt, löst dieselbe Anwendung bei einem anderen eine Schmerzattacke höchsten Grades aus, die ihn für Stunden handlungsunfähig macht und ihm die Laune verdirbt. „Nie wieder …“, schwor einer meiner Klienten nach der Rehakur, „nie wieder steige ich in eine Moorwanne rein.“

Nicht anders verhält es sich in der Psycho- oder Verhaltenstherapie, die bei Rückenschmerz immer häufiger hinzuaddiert wird. Während der eine Patient diese als willkommene Ergänzung begrüßt, begibt sich ein nächster in Abwehrstellung, weil er sich nicht ernst genommen fühlt und mehr Spannung aufbaut als je zuvor.

Dass bei Bandscheibenvorfällen mit Lähmungserscheinungen als einziger Ausweg der operative Eingriff bleibt, stimmt ebenso wenig. Für manche ist er die Rettung, für andere ein ziemlich böser Witz. FBSS nennt man die schmerzenden Probleme nach erfolglosen Wirbelsäulen-OPs oder: „Failed-Back-Surgery-Syndrome.“

Pauschalantworten taugen nicht

Dass es in der Schmerztherapie alles gibt, nur kein allgemeingültiges Konzept, ist eine Tatsache, an der sich so gut wie jeder Involvierte reibt. Denkt ein Physiotherapeut beispielsweise bei der Behandlung muskuloskelettaler Schmerzen darüber nach, wohin diese denn eigentlich steuert, fällt eine eindeutige Antwort schwer. Wäre es nämlich ein durchtrainierter, starker Körper, der das Abklingen oder Ausbleiben von Muskel- oder Gelenkschmerzen garantiert, dürften weder Sportler noch Bodybuilder oder Trainierte solche haben. Das ist aber ein Trugschluss. Gerade unter ihnen finden sich zahlreiche über Schmerzen Klagende, die ihre Trainingseinheiten, Auftritte oder Wettkämpfe nur mit Schmerzmitteln, Wärmepflastern oder zusammengebissenen Zähnen schaffen.

Wären fehlende Beweglichkeit und mangelnde Elastizität des Körpers die Ursache für Schmerzen und stretchwillige Muskeln die Alternative, dürften Tänzer, Leistungsgymnasten, Yogis oder Akrobaten ebenfalls davon verschont bleiben. Das sind sie aber nicht. Ich habe mit zahlreichen Sportlern, Ballettvirtuosen, Yogis und Yoginis gearbeitet. Viele von ihnen führen einen unerbittlichen Kampf gegen den Schmerz, der bei chronischer Überdehnung der Muskelfasern nur schwer zu gewinnen ist.

Wäre ein entspannter Körper der Schlüssel für das Ausbleiben von Schmerz, müssten gelassene Menschen oder solche ohne herausfordernden Lebensstil frei von Schmerz sein. Auch das trifft nicht immer zu, denn einige meiner Klienten mit Dauerbeschwerden sind Spezialisten in Entspannungstechniken wie Autogenem Training oder PMR.

Was uns zum letzten Beispiel bringt: Dass Menschen mit einer gesunden Lebensweise, oder zumindest dem, was im herkömmlichen Sinne darunter verstanden wird, vom Schmerz verschont bleiben, trifft leider auch nicht zu. Viele meiner Klienten kümmern sich ausgesprochen penibel um ihren Körper, ihren Lebensstil und ihr Befinden. Sie vermeiden ungesunde Speisen, Alkohol und Zigaretten, achten auf ausreichend Schlaf, ein optimales Körpergewicht, investieren in Privatbehandlungen und vermeiden so viel wie möglich von allem, was im Allgemeinen als Krankheitsrisiko gilt. Und dennoch bleiben sie vom Schmerz nicht verschont.

 

Alternativ oder klassisch

Allopathische oder Alternativmedizin wäre dann noch die Frage. Für die Vertreter der Alternativmedizin spricht, dass sie den ganzen Menschen in seiner Einheit sehen und nicht als Knie, Knorpel oder Eierstock. Unabhängig davon, ob aus energetischer, reflektorischer oder funktioneller Sicht, alternative Behandlungsmethoden nehmen den Schmerz als Anlass, Störungen im „System Mensch“ aufzuspüren und dann auch „system-atisch“ zu kurieren. Und das ist ausgesprochen klug.

Schmerz konkret

Marlen

war ein Leben lang gesund und brach dann inmitten einer Unterrichtsstunde zusammen. Nachdem die Ärzte keine physische Ursache finden konnten, schickten sie Marlen durch den gesamten diagnostischen Marathon, den das örtliche Krankenhaus zu bieten hatte. Schlimm waren nicht die Untersuchungen an sich, so Marlen, sondern das Zusammentreffen mit Medizinern, die sich mehr für die dokumentierten Ergebnisse interessierten als für sie als Mensch. „Ich bin mir in meinem Leben noch nie so überflüssig vorgekommen“, berichtet sie. „Es war manchmal, als wäre ich gar nicht da, nur mein Röntgenbild, meine Blutwerte, mein EKG.“

Udo

war auf Drängen seiner Frau zur Alternativmedizin verdonnert und begab sich wegen anhaltender Magenschmerzen in homöopathische Behandlung. Schlimm war nicht nur, dass er Angst hatte, wie er später gestand, er misstraute dem Praktiker auch und verstand nicht, warum sich dieser mehr für seine Familiengeschichte und den frühen Tod seines Vaters interessierte als für seine akute Situation. Dass die Behandlung mit homöopathischen Kügelchen fehlschlug, leuchtet ein, denn Udos Widerstand wuchs mit jeder Konsultation.

Schmerzpunkt III

Ob schulmedizinisch oder alternativ, ob mit oder ohne Bewegung, psychischer Begleitung, physiotherapeutischer oder mentaler, in jedem dieser Denkansätze steckt ein Fünkchen Wahrheit. Doch wenn wir einen der Wege verallgemeinern wollen, ist sein Scheitern vorprogrammiert. Weil es keine Konsistenz gibt, existiert auch keine Generalisierung, wie Schmerzbehandlung allgemeingültig strukturiert werden soll.

Schmerz, das Lieblingskind der Pharmazie

Analgetika und Co

Kommen wir schließlich zum letzten Aspekt, dem größten Zankapfel auf dem Schmerzsektor, zu den Medikamenten. Unabhängig davon, ob chemisch, pflanzlich oder homöopathisch, wer Schmerzen hat, fragt zumeist schnell nach der Powerpille, die seiner Tortur ein sofortiges Ende setzt. Und da geht es gleich weiter im Kanon der Anomalien. Während ein Analgetikum bei einem Patienten Wunder wirkt, lässt dasselbe den nächsten mit gleicher Diagnose kalt. Es ist längst kein Geheimnis mehr: Schmerzmittelverschreibung ist so etwas wie eine Schneeballschlacht. Entweder man trifft oder man trifft nicht.

Was uns unmittelbar zu den Nebenwirkungen bringt, die ihren Namen bei Dauermedikation zu Unrecht verdienen. Denn bei vielen Konsumenten kristallisieren sich gerade diese als das Hauptproblem heraus. Während mancher Schmerzgeplagte glücklich mit seinem Medikament ist, sich gut eingestellt fühlt und sein Leben lebt, steht ein nächster mit derselben Substanz enorme Torturen durch, weil der Körper massive Symptome erzeugt und sich gegen die chemische Keule wehrt. Funktionelle Dysregulation, Immunabwehrschwäche bis hin zu handfesten Folgeerkrankungen schlagen zu Buche, die Abhängigkeit führt nicht selten zum psychischen Eklat.

Opioide beispielsweise, die bei neuropathischem Schmerz oder Rückenbeschwerden relativ salopp verabreicht werden, stehen in der Liste der Nebeneffekte ganz oben: Verstopfung, Durchfall, Erbrechen, Müdigkeit, Schwindel, Hautprobleme und – man staune! – auch Kopfschmerzen gehören dazu. Und, nein, es ist kein Witz: „Medikamenteninduzierter Schmerz“ heißt dann tatsächlich jener, der durch den Dauerkonsum von Schmerzmitteln entsteht und gar nicht so selten mit weiteren Analgetika behandelt wird. Unter den Kopfschmerzen wird er von Medizinern auf immerhin vierzig Prozent geschätzt.

Doch auch hier kann man noch eins draufsetzen: Erschreckenderweise mehren sich Studien darüber, dass die Dauereinnahme von Opioiden und deren Überdosierung langfristig sogar zu Todesfällen führen kann.

Gesenkte Schmerzschwelle

Da Dauermedikation zu einer Erhöhung der Schmerzempfindlichkeit führt, addiert sich diese der Liste der Nebenwirkungen in führender Position hinzu. Obwohl bekannt ist, dass Betroffene durch die Einnahme von Schmerzmitteln schmerzempfindlicher werden, antwortet man vielerorts dennoch mit einer gesteigerten Dosierung darauf. Ein Teufelskreis wird manifestiert: Wenn Schmerzsignale bereits gewohnheitsmäßig von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben werden, die Schmerzsensitivierung in Rückenmark und Gehirn sowieso schon hoch ist und zu noch intensiverem Schmerzempfinden führt, setzt das ständige Höherdosieren von Schmerzmitteln dem Ganzen noch eins drauf: Auf Dauer tut die schmerzmeldende Region nämlich nicht nur heftiger, sondern auch immer früher weh. Therapieversuche gestalten sich infolgedessen als noch komplizierter. Selbst wenn sie intelligent sind, reduziert sich ihre Chance auf Erfolg.

Darüber hinaus drosselt die Dauergabe von Medikamenten die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, in der ich eine der Hauptressourcen für eine neurophysiologisch sinnvolle Schmerzbehandlung sehe. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich der betreffende Mensch fühlen und wahrnehmen kann und sich sein Körper infolgedessen von selbst wieder reguliert.

Schmerzmittelsucht

Im Zuge der Dauermedikation beobachte ich noch eine weitere Konsequenz. Dass die Abhängigkeit von Schmerzmitteln keine Lappalie ist, weiß ich von zahlreichen Klienten, für die der Entzug nahezu unvorstellbar war.

Schmerz konkret

Anita

hat sich als Fachärztin für Innere Medizin aufgrund jahrelanger Rückenschmerzen selbst medikamentiert. Anfangs gab es noch Spielraum, doch mit der Trennung von ihrem Partner schlug der Schmerz stärkere Töne an und parallel dazu stieg die selbstverordnete Dosis des Opiats. Als ich Anita traf, war es für sie undenkbar, je wieder ohne Schmerzmittel zu leben. Selbst als der Schmerz nachließ, bestand sie auf der unveränderten Einnahme ihres Cocktails. Schmerzfreiheit war in ihrer Vorstellung etwas, das einzig durch Medikamente herstellbar sei.

Jacob

brachte es mit dem Ziel, seine Schmerzmittel so schnell wie möglich loszuwerden, auf den Punkt: „Ich kann es allein nicht schaffen … Ich fürchte, dass ohne Mittel alles sofort wieder beim Alten ist.“ Schließlich staunte er, als er nach ganzen sechs Wochen wieder „nüchtern“ war.

Die Schmerzmittelsucht ist aber längst nicht alles, was die Abhängigkeit von Medikamenten betrifft. Bei vielen Schmerzerfahrenen kommen mit der Zeit auch Psychopharmaka hinzu, deren Einnahme ebenso zu einer unumkehrbaren Gewohnheit werden kann. Und, ja, es ist nachvollziehbar: Schmerzen im Akkord gehen natürlich ans Gemüt. Es ist, als grüben sie sich tief in die Seele hinein, als zerstörten sie jegliche innere Stärke und legten die Nervenstränge blank. Für manchen Schmerzerfahrenen ist schwer zu differenzieren, welcher Teil mehr weh tut, die Bandscheibe, das arthroskopierte Knie, der Kopf oder die Seele.

Doch den Körper mit Schmerzmitteln und Psychopharmaka zu betäuben, halte ich nicht nur für riskant, sondern auch für kontraproduktiv, weil jede Form der Therapie unter diesen Bedingungen im Nebel der verschwommenen Wahrnehmung stattfinden muss und dies den Zugang zu den Ressourcen des Nervensystems versperrt.

Placebo-Effekte

Aufhorchen lässt hingegen, dass Schmerz mitunter auf Mittel ohne schmerzstillende Inhaltsstoffe reagiert. Bei manchen Betroffenen schlagen Schlafmittel an, wenn der Schmerzschub aufzieht, bei anderen wirken Muskelrelaxantien oder Antikonvulsiva als Mittel zur Krampflösung, während ein Antidepressivum bei der Behandlung von Muskel-, Nerven- oder Arthritisschmerz Wunder wirken kann. Es überrascht auch nicht, dass sich Schmerz mitunter vom Faltenkiller Botox in die Flucht schlagen lässt. Allesamt paradoxe Wirkungen, was die Gabe von Placeboprodukten ins Spiel bringt. Von leeren Pillen bis zu gehaltlosen Injektionen, es ist mit gängiger Logik nicht zu erklären, welcher innere Mechanismus hier wirksam wird.

Betroffene begehren bei dieser These gewöhnlich auf: „Bilde ich mir das alles etwa ein?“, so der Tenor des Widerstandes. Nein, das tun sie nicht, das Gehirn macht die Verringerung des Schmerzes tatsächlich fühlbar. Nur scheint der ganze Mensch, der die Signale verarbeitet, über weitere Mechanismen zu verfügen, die für einen schmerzlindernden Effekt verantwortlich sind.

Nocebo

Immer öfter liest man vom Nocebo-Effekt, dem umgekehrten Placebo, was bedeutet, dass Schmerz aufgrund einer bewussten oder unbewussten SchmerzErwartungshaltung entsteht. Die „Self-fulfilling Prophecy“, eine sich erfüllende Voraussage, stellt sich tatsächlich ein, wenn mit Schmerz oder dessen Verstärkung gerechnet wird.

Und damit berühren wir einen der größten blinden Flecken moderner Medizin, denn genau solche im Unterbewusstsein ablaufenden Vorgänge, wie sie dem Nocebo-Effekt zugrunde liegen, werden flächendeckend ignoriert. Denken wir nur an Sätze, die von Arzt- oder Therapeutenseite durchaus gängig sind: „Jetzt versuchen wir erst einmal das … Und wenn das nicht anschlägt, weiß ich auch nicht mehr weiter …“ oder: „Wenn das so weitergeht, wird der Schmerz chronisch, und dann haben wir ein wirkliches Problem …“ oder: „Wenn das so weitergeht, kommen wir um einen operativen Eingriff nicht herum“.

Es macht einen Riesenunterschied, ob man einem Rückenschmerzgeplagten die Operation als „Worst-Case-Szenario“ in Aussicht stellt oder ihm vermittelt, welche Ressourcen es gibt, die für ihn sofort nutzbar sind.

Doch der Nocebo-Effekt kann auch subtiler initiiert werden. Zum Beispiel, wenn es um „Vor-Sorge“ und Präventionsuntersuchungen geht. Ohne Zweifel ist es wichtig, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Dennoch halte ich es für krankheitsfördernd, den Fokus auf mögliche Störungen zu richten. Untersuchungen im Sinne der Früherkennung säen oftmals erst die Vorstellung eines Problems. Wer sowieso schon vorbelastet, schmerzerfahren, übermäßig hellhörig oder ängstlich ist, öffnet sowohl Beschwerden als auch der Schmerzentwicklung Tür und Tor.

„Therapieresistenz“

Der Nocebo erreicht dann seinen Gipfelpunkt, wenn Ärzte oder Therapeuten aufgeben. Ich bin einigen Betroffenen begegnet, die von ihrem Arzt irgendwann einmal beiseitegenommen worden waren mit der Botschaft, die Wahl der Heilmittel sei ausgeschöpft. „Therapieresistent“ heißt das, oder schmuckloser: Weitere Versuche sind zwecklos. Dass das eine innere Katastrophe ist, muss man nicht erklären, weil eine solche Prophezeiung jegliche Zuversicht, jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer auf Besserung begräbt.

Glücklicherweise schält sich diese Prognose zumeist als unhaltbar heraus. Ich habe mit zahlreichen „therapieresistenten“ Menschen gearbeitet, die sich entgegen aller Voraussagen regenerierten und in ein schmerzfreies Leben zurückgekehrt sind.

Schmerz konkret

Anna

litt an diffusen Schmerzen im ganzen Körper und hatte bereits mit zweiundvierzig das Gefühl, steinalt zu sein. Zu machen sei da nichts mehr, hatte man ihr gesagt, sie sei „vollständig austherapiert“.

Anna ist inzwischen beschwerdefrei. Die Biss-Schiene für den Kiefer hat sie in den Müll geworfen, sie lacht wieder und ist ihrem Naturell entsprechend ein bewegungsaktiver Mensch.

Geert

stellte mir seinen eingegipsten Arm mit einem Tennisellenbogen vor, der seit einem Jahr auf keinerlei therapeutische Intervention reagiert hatte. Die Palette der Mittel sei ausgereizt, so sein Arzt, und in seinem Alter (gerade fünfzig geworden) sei es einfach Verschleiß, der für seine Beschwerden verantwortlich war. Für Geert kam das einer Katastrophe gleich, denn mit einem Computerarbeitsplatz und einer leitenden Position, die Schonzeiten ausschloss, hatte er keine Alternative parat. Und einen Plan B gab es nicht.

Mit einem auf ihn zugeschnittenen Intensivprogramm für Körperbewusstheit brauchte Geert kein Vierteljahr, bis er schmerzfrei und bald auch wieder frei beweglich war.

 

Elisa

stand kurz vor einer geplanten Bandscheiben-OP, aber sie wollte doch noch einen letzten Versuch unternehmen, um ihre bis in die Zehen ausstrahlenden Schmerzen loszuwerden. Längeres Sitzen, Stehen und Liegen waren längst unmöglich und die Lust am Leben fehlte ihr auch. Elisa habe zu lange gewartet, so ihr Orthopäde. „Kaputt ist kaputt“, kommentierte dieser den Röntgenbefund. Selbst eine OP werde nur partiellen Erfolg bringen.

Nach einem knappen Jahr begann Elisa wieder Sport zu treiben. Sie joggt, reitet, tanzt, fährt Ski und reist. Sie lebt das aktive Leben, das sie mit vierunddreißig Jahren begraben hatte.

Katharina

suchte nach drei Jahren Kopfschmerz eine sogenannte Koryphäe im Bereich der Schmerzmedizin auf. Als der Spezialist ihre Geschichte mit mehreren Unfällen und ebenso vielen Therapieversuchen hörte, empfahl er Katharina, sich mit dem Schmerz zu arrangieren. Es gebe nun einmal Menschen, bei denen nichts helfe, und mit fast sechzig sei es normal, dass der Körper weniger ansprechbar sei.

Nach nur sechs Sitzungen, in denen wir einfache Bewusstheitstechniken anwendeten, reduzierte Katharina ihren Schmerz um gefühlte fünfzig Prozent. Mit Meditation kam dann die Wende. Die vernichtenden Worte des Arztes zu vergessen war der schwierigste Teil der Intervention.

Schmerzpunkt IV

Unangefochten ist die Tatsache, dass Schmerz zu den heiklen, weil hochkomplexen Themen im therapeutischen Alltag gehört. Während Symptomvernarrtheit direkt ins Leere führt und Schmerz sich weder in diagnostische Gleichmacherei noch in eine Therapie von der Stange packen lässt, liegt nahe, dass der symptomfokussierte Lösungsansatz nur partiell hilfreich ist.

Abenteuer Gehirn

Und das hat etwas damit zu tun, dass Dauerschmerz hausgemacht – oder präziser: hirngemacht ist. Wenn wir Schmerz beeinflussen wollen, geht es automatisch um die Verarbeitung von Schmerzsignalen im „Headquarter Gehirn“. Und da betreten wir geradewegs Neuland. Trotz High-Tech-Medizin und digitaler Diagnostik ist es nicht einmal ein Vierteljahrhundert her, dass die Wissenschaft das Rodeo der Neuronen in unserem Nervensystem erstmals sichtbar machen kann und so in leisen Ansätzen zu verstehen beginnt.

Wiederum reichen Forschungen aus, um den Fokus auf die richtige Fährte zu lenken: Es existiert kein abgrenzbares Schmerzzentrum im Gehirn, das für die Schmerzverarbeitung verantwortlich ist. Während eine Schmerzreaktion im Körper tobt, ist eine Vielzahl verschiedener Hirnareale erregt, die so gut wie jeden Aspekt unserer Erlebniswelt involviert. Vorgänge des Fühlens, Denkens, Bewegens, des Wahrnehmens und Beurteilens sind in Schmerzprozesse ausnahmslos eingeschlossen, sämtliche Prozesse des Agierens als Mensch.

Fokus Mensch und Meditation

Was wir als Erstes akzeptieren müssen ist, dass der chronische Schmerz als solcher nicht existiert. Deshalb kann dieser auch nicht im Mittelpunkt der Intervention stehen, sondern der Mensch, der ihn hat, die Konstitution seines Körpers, die Funktionsweise seines Nervensystems, sein Empfinden und seine Sensibilität. Und besonders das Potenzial, das in ihm steckt.

Und genau hier setzt Meditation an: Sie involviert das Individuum. Sie trifft auf den agierenden, fühlenden und sich selbst reflektierenden Menschen, dessen Nervensystem zu natürlicher Balance zurückfinden muss.

Im Licht des Zen: Vom „Glas“ zum „See“

Der Schmerz des Lebens

Lassen Sie mich an dieser Stelle einen sehr heiklen Schnitt wagen. Heikel deshalb, weil es nun darum geht, den Bogen zu schlagen vom komplexen Thema Schmerz hin zum noch komplexeren Gebiet der Meditation. Vom analytischen Denken zum internen Verstehen. Von intellektueller Folgerichtigkeit zu lebensbezogener Intelligenz.

Sicherlich haben Sie schon einmal von Zen-Meistern gehört, von weisen Lebenslehrern, die gemäß der fernöstlichen Tradition des Zen-Buddhismus für ihre spirituell interessierten Schüler ein Erfahrungsfeld zum meditativen Lernen kreierten. Die Erleuchtung stand im Mittelpunkt der Intention.

Von einem solchen Meister wird berichtet, dass er es eines Tages satt hatte, sich das Jammern eines seiner Schüler über die Schwere und den Schmerz seines Lebens anzuhören. Es war Zeit für eine Lektion.

Der Meister nahm den Schüler beiseite und forderte ihn auf, eine Handvoll Salz in einem Glas Wasser aufzulösen und von dem Cocktail zu trinken. „Wie schmeckt das?“, fragte er.

Der Schüler verzog das Gesicht. „Uuhh! Salzig!“, antwortete er und spuckte den Rest des Wassers aus.

Dann gingen die beiden zum See und der Meister wies seinen Schüler an, dieselbe Menge Salz in den See zu werfen und wieder vom Wasser zu trinken. „Wie schmeckt das?“, fragte er erneut.

„Frisch“, sagte der Schüler. „Frisch, wie immer…“

„Und schmeckst du das Salz?“, bohrte der Meister nach.

„Nein …“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, sagte er und deutete auf das Wasser. „Der See ist größer als das Glas.“

Der Meister nickte. „Genau. Der Schmerz des Lebens ist wie pures Salz, nicht mehr und nicht weniger. Die Stärke dieses Schmerzes bleibt immer dieselbe. Aber die Stärke der Bitternis, die wir schmecken, hängt von dem Gefäß ab, in das wir die Bitternis füllen. Wenn du Schmerzen hast, kannst du nur eines machen: Vergrößere dein Gespür für die Dinge. Hör auf, ein Glas zu sein. Werde zu einem See.“

Die Reise zum See

Und jetzt wird es ernst: Alle, die mein Manuskript bisher gelesen haben, prophezeiten mir, dass ich genau an dieser Stelle neunundneunzig Prozent meiner Leser verlieren würde. „Hier verjagst du deine Fans“, warnte erst kürzlich eine Bekannte. Warum? Weil es für den Geschmack des Schmerzerfahrenen zu unrealistisch, zu blumig, esoterisch und praxisfern werde. Das Thema Schmerz verlange nach Ernsthaftigkeit, es vertrage weder Polemik noch Augenwischerei und Scharlatanerie.

Und doch! Ich riskiere es. Ganz bewusst mute ich es Ihnen zu, noch einmal zur Schmerzparabel zurückzukehren.

Obwohl Zengeschichten mit geläufigen Denkmechanismen kaum interpretierbar sind und nur in der nonverbalen Tiefe ihrer Botschaft erfasst werden können, kommt in dem Meister-Schüler-Dialog ein sehr vernachlässigter Aspekt ins Spiel: Der Grad und die Weise, in der anhaltender Schmerz empfunden wird, hängen damit zusammen, in welchem Verhältnis sie zum Rest des „Mysteriums Körper“ stehen, zum endlos komplexen „System Mensch“.

Wie gestaltet sich die Empfindungswelt des Körpers? Ist der Körper „eng“, undurchlässig, verspannt? Ist er wie ein kleines begrenztes Gefäß, in dem Schmerz gefangen ist? In dem sich Schmerzempfinden „verdichtet“, gewissermaßen komprimiert? Oder kann er auch Weite und Raum bedeuten? Ein See sein? Ein großer Organismus, in dem sich Empfinden, einschließlich Schmerzwahrnehmung „weitet“, weil Bewusstheit von anderen Qualitäten gleichrangig besteht? Ginge es, dass aufgrund dessen das Gehirn als Chefdirigent des Orchesters Körper die Botschaft ändert, die er in die physischen Strukturen schickt?

Und umgekehrt: Wenn der Körper als feiner, differenzierter und daher als weiter empfunden wird, können dann Informationen aus seiner Peripherie auch Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung von Schmerz? Und können sie denjenigen Teil beeinflussen, der Schmerz erzeugt, nämlich der eingespurte Mechanismus im Gehirn?

Schaffen es neuartige, weil durch Bewusstheit erfasste afferente Informationen dort, in der Chefzentrale des zentralen Nervensystems, langfristig für eine andere Arbeitsweise der Neuronen zu sorgen, sodass das Eldorado der Schmerzsignale neu gemixt wird, sich Gehirnsubstanz anders vernetzt, sich differenzierter verknüpft?