Die Rose lebt weiter

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Auf der Arbeit wurde eine erneute Bewerbungsrunde ausgelöst, die erste war wohl nicht rechtmäßig gewesen. Damals hatten wir uns ja beide für den Wechsel des Arbeitsortes entschieden. Jetzt sah es anders aus. Einerseits stand nun fest, dass mein Arbeitsgebiet an der alten Stelle bleiben würde, anderseits waren Jens und ich nun ein Paar und wir überlegten, ob wir auf der neuen Arbeit weiterhin eng zusammenarbeiten wollten und ob dies dann gut gehen würde. Die Entscheidung erleichterte uns wieder unser ehemaliger Chef, der das Konzept der Strukturänderung erarbeitet hatte. Er riet mir, nicht zu wechseln und lieber den langen Arbeitsweg in Kauf zu nehmen, denn hier hätte ich Perspektive. Jens dagegen sollte wechseln, seine Stelle würde hier gestrichen. Zu Hause musste ich nur die Begründung meines Chefs wiedergeben, auch wenn es Holger nicht passte, dass ich weiter so lange fahren sollte. Jens würde nun an einem anderen Arbeitsort sein. Das war aus derzeitiger Sicht die beste Lösung. Wenn wir getrennt arbeiteten, nahm vielleicht das Getratsche ein Ende.

Im Garten begann die Saison. Beim Saubermachen der Rabatten und Beete überkam mich Wehmut, weil es das letzte Mal sein könnte, das eigene Grün zu genießen. Aber ich hatte mir vorgenommen, Holger bestens zu unterstützen, und sicher würde mein Kleiner nicht mit mir wegziehen, denn hier hatte er sein vertrautes Umfeld. Ich wollte allen am Wochenende den Haushalt und die Wäsche machen, es sollte ihnen weiterhin gut gehen. Der Große brachte ja auch noch seine Wäsche. Ob Holger diese Hilfe annahm? Hoffentlich, sonst würden mich Schuldgefühle quälen. Es war so grotesk, ich organisierte in meinem Kopf die Abläufe für die ganze Familie, so wie es immer war in meinem Leben, und bildete mir ein, dass alle meine Vorschläge akzeptieren würden. Ob das so gut gehen und ob Jens es überhaupt mitmachen würde?

Den finanziellen Überblick hatte ich mir nun auch verschafft und für Holger alles aufbereitet. Das Ergebnis beruhigte mich etwas, es sah nicht so aus, als ob ich Holger in den Ruin stürzen würde, dann hätte ich auch bestimmt nicht den Mut und die Kraft für eine Trennung gefunden.

Jens hatte mich mit der Wohnungssuche beauftragt und ich war vorangekommen. Es gab bezahlbare Häuser zur Miete, aber auch schöne kleine Wohnungen. Ich suchte einiges aus und wollte die nächsten Schritte Jens überlassen. Er sollte entscheiden, wo er einen Termin vereinbaren wollte.

Ich hatte sogar einen Abschiedsbrief für Holger vorbereitet. Ich fürchtete den Tag der Wahrheit und auch, dass er mir keine Gelegenheit geben würde, ihm zu sagen, warum ich mich trennte und dass es nicht seine Schuld sei, dass ich ihn verließ. Weil ich befürchtete, etwas zu vergessen, schrieb ich alles auf, perfekt durchdacht, das war eigentlich ziemlich schlimm, aber ich hatte keine bessere Idee. Ich schrieb:

„Lieber Holger, es tut mir leid, was ich dir antue und was du ertragen musst, dich trifft keine Schuld. Unsere gemeinsamen Jahre bereue ich nicht und hätte auch nie geglaubt, dass mir so etwas passieren kann. Ich habe mich lange gegen die Gefühle gewehrt, der Andere ist nicht besser als du. Du hast nichts falsch gemacht. Aber die Gefühle und die Liebe zu dem anderen Mann sind so stark, dass ich bereit bin, alles aufzugeben, auch auf die Gefahr hin, verachtet oder verstoßen zu werden. Mir ist bewusst, dass ich mit diesem Schritt allen großes Leid zufüge. Deshalb habe ich so lange gezögert, dir die Wahrheit zu sagen. Lieber Holger, ich wünsche mir, dass du mir irgendwann einmal verzeihen kannst und eine Frau findest, mit der du glücklicher wirst als mit mir. Damit es für dich etwas erträglicher ist, sollst du das Haus behalten. Ich möchte dich so gut es geht unterstützen bei Haushalt, Garten und Wäsche, solange du es wünscht. Lieber Holger, ich bin bereit, nochmals bei Null anzufangen und gebe alles auf, was mir ans Herz gewachsen ist. Lass uns bitte vernünftig miteinander umgehen, schon wegen der Kinder. Es tut mir leid, entschuldige bitte. Martina.“

Für diesen Brief hatte ich mehrmals Anlauf genommen, hatte umformuliert und weggestrichen. Während des Schreibens liefen mir die Tränen. Es war mir, als hätte ich ein Kapitel meines Lebens beendet, als ich den Brief fertig hatte. Ich versteckte ihn. Wann er „zum Einsatz“ gelangen würde, war noch völlig unklar, aber er war erst einmal fertig und ich somit einen Schritt weiter an das Ende meiner Ehe herangerückt.

Der Urlaub nach Mallorca rückte immer näher. Ich bereitete Holger darauf vor, dass ich einen ganztägigen Außentermin hätte und gar nicht erst ins Büro ginge. Dies kam schon mal vor, deshalb erschien es glaubwürdig. Tatsächlich bummelte ich Stunden ab. Ich war froh, dass er nicht viel fragte und nur den Ort wissen wollte. Bei der Lügerei wurde mir bald übel, ich tröstete mich damit, dass alles ja bald ein Ende hätte. Jens hatte sich inzwischen die Wohnungen im Internet angesehen und Termine mit den Vermietern vereinbart. Vormittags wollten wir uns die Wohnungen anschauen und nachmittags unsere vorerst letzten Stunden genießen. Ich war so aufgeregt, es wurde immer ernster mit uns beiden: Wenn wir uns für eine Wohnung entschieden, was würde dann geschehen? Wie lange hätten wir Zeit, zu Hause alles zu regeln? Was würde mit Benni, ob er mit mir mit wollte? Wenn nicht, wie würde ich das verkraften? Ließ mich Holger gehen oder schlug er alles zusammen? Ließ er sich helfen?

Dann saßen wir bei dem ersten Vermieter. Als er unsere Daten abfragte, erklärte ihm Jens, dass alles über seinen Namen laufen würde. Er riskierte immer mehr. Die Wohnung befand sich im Obergeschoss eines Einfamilienhauses. Von einem großen Balkon aus konnte man über den Stadtrand ins Grüne schauen. Der Gedanke, mich als Mieter in einem Privathaus unterordnen zu müssen, war mir neu und musste erst einmal reifen. Die nächste Wohnung war eine Altbauwohnung an einer stark befahrenen Straße, auch nichts für mich. Die letzte Wohnung für diesen Tag befand sich am anderen Ende der Stadt in einem zehn Jahre alten Neubaublock. Sie schien modern, aber das Umfeld war nicht schön. Es gab zwar einen Innenhof, aber keinen Balkon. Wir sagten zwar niemanden sofort ab, blieben aber skeptisch. Nach meinem Urlaub wollten wir noch eine Einliegerwohnung in einem Eigenheim auf einem Dorf anschauen.

Damit war unser Stadtbesuch beendet. Jens wollte, dass ich mein Auto auf einem Parkplatz abstelle und wir mit seinem Auto fahren. Auf dem Weg zum Parkplatz passierte dann, was dem Spruch „Lügen haben kurze Beine“ gerecht wird. Ich wurde geblitzt. Mich durchzuckte es. So, jetzt kommt ein Brief nach Hause, aus einer Stadt, in der ich zu dieser Uhrzeit auf alle Fälle nicht sein durfte. Holger oder mein Sohn leerten im Regelfall den Briefkasten. Einen Brief vom Landratsamt konnte ich nicht unbemerkt öffnen. Wie sollte ich mich aus der Affäre ziehen? Ich wurde vor acht Jahren das letzte Mal geblitzt, in einer 30-iger Zone. Holger dagegen bekam regelmäßig solche Post, er hatte sogar schon mal ein Fahrverbot erhalten.

Zu Hause erklärte ich Holger, dass ich geblitzt worden sei. Weil ich einen zusätzlichen Termin bekommen hätte, sei ich noch an einem anderen Ort gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass Holger mir nicht mehr vertraute und ihm etwas schwante. Er sagte, er glaube langsam, dass ich ihn verarsche. Ich ließ mich auf keine Diskussion ein und vergrub mich in meiner Hausarbeit.

Am nächsten Tag packte ich die Koffer für den Urlaub mit unseren Freunden und da ich im Garten und Haus zu tun hatte, verging die Zeit sehr rasch. Auf dem Weg zum Flughafen sah ich von der Straße aus das Haus mit der Wohnung, die wir zwei Tage zuvor besichtigt hatten. Mir kamen die Tränen und ich musste mich sehr zusammenreißen, damit Holger nichts merkte. Seit dem Geständnis mit dem Blitzer hatten wir wenig miteinander gesprochen, ich mied seine Nähe und er ließ mich in Ruhe. Es war so unheimlich, wie kurz vor einer Explosion. Auf dem Flughafen gab sich Holger besonders locker und lustig den anderen gegenüber und kasperte ausgelassen herum. Wahrscheinlich überspielte er so unsere Zerrissenheit, die er irgendwie spürte.

Als wir spät abends im Hotel ankamen, ging ein anstrengender Tag zu Ende. Das Hotel war sehr schlicht, die Zimmer schon fast ungemütlich und dunkel, das Essen ohne Auswahl. Holger sagte wie immer nichts zu und er aß kaum. Er beschwerte sich aber nicht, denn wir wollten es ja preiswert haben.

Am nächsten Tag fuhren wir an der Steilküste entlang und klapperten die Sehenswürdigkeiten ab. Ich aber war nicht bei der Sache, wollte nur, dass alles schnell verging. Es war warm und das viele Laufen anstrengend. Nachmittags streikte Holger und kam mit uns nicht mehr mit. Entweder tat seine Hüfte weh oder er musste aufs Klo. Es war wie immer. Und er war so stur. Wegen der Hüfte wollte er nicht zum Arzt gehen, angeblich aus Angst, deswegen arbeitslos zu werden. Sein Durchfall war schon obligat geworden, sobald kein Klo in der Nähe war, bekam er Schweißausbrüche. Seine Hausärztin meinte, es sei psychisch, womit es sich für sie erledigt hatte. – Wir beide redeten kaum miteinander, es fiel aber nicht auf, da die anderen ständig um uns rum waren. Mein Handy war mein Trost, ich wurde immer unvorsichtiger mit dem Schreiben an Jens. Drei Tage hieß es noch zu überstehen, dann war ich wieder in Deutschland und auf sicherem Boden.

Am Abend gingen wir alle gemeinsam essen, bis ich schließlich gegen Mitternacht ausgelaugt im Bett lag. Holger fing an, Fragen zu stellen und versuchte unbeherrscht, herauszufinden, was mit mir los war. Als ich weiter abweisend blieb und schwieg, wurde er wütend. Er drückte mich aufs Bett und schrie mich an. „Ich will jetzt endlich wissen, was mit dir los ist, sonst knallt’s. Wenn du mich nicht mehr willst, dann sag es endlich, aber mach es nicht auf die Tour, die du hier loslässt. Was bildest du dir denn überhaupt ein?“ Ich weinte, er wurde immer wütender und tat mir weh beim Festhalten. Dann schrie er noch lauter: „Los, raus mit der Sprache. Du hast einen anderen, stimmt’s?“ Ängstlich sagte ich: „Holger, bitte lass mich los. Du tust mir weh. Lass uns schlafen.“ Er drückte noch fester zu: „Nein, und wenn ich dich die ganze Nacht festhalten muss. Ich will es wissen.“ So ging es hin und her bis ich es nicht mehr aushielt: „Ja, Holger, du hast recht. Ich habe einen anderen Mann und ich werde dich verlassen. Es tut mir leid, du kannst nichts dafür.“

 

Für einige Sekunden fühlte ich mich erleichtert, als ob eine zentnerschwere Last von mir gefallen wäre. Dann wartete ich darauf, dass er mich totschlagen würde. In diesem Moment war mir das sogar egal. Aber er ließ von mir ab, schaute mich ungläubig an. Anstatt er mir Gewalt antat, fing er an zu schreien. „Nein, nein. Ich habe es gewusst, aber das kann doch nicht sein. Warum tust du mir das an? Das ist mein Ende.“ Dann sprudelte es aus ihm raus: „Wer ist dieses Schwein?“ Ich sagte ihm den Namen und verteidigte Jens, dass nicht er allein der Initiator gewesen sei. Da stürzte sich Holger aus dem Bett und schmiss sich auf die Dielen. Er kauerte sich zusammen, röchelte und schrie, er habe Schmerzen. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, doch er schrie mich an, dass ich ihn nicht anfassen und weggehen solle. Ich erschrak. Als es nicht aufhörte, wollte ich den Notarzt holen. Aber er verbot es mir: „Wenn du das tust, bringe ich mich um.“

Dann fing er wieder an zu wimmern wie ein kleines Kind. Meine Versuche, ihn zu beruhigen, waren vergeblich. Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Wo bekam ich in diesem Hotel so schnell einen Arzt her? Hatte er eine Herzattacke oder nur einen Nervenzusammenbruch? Ich redete ihm zu, dass ein Arzt helfen könnte. Da meinte er, es würde schon besser gehen. Dann kam die nächste Attacke. Immer, wenn ich zur Tür ging, um Hilfe zu holen, hielt er mich ab. So ging das bald zwei Stunden. Er lag auf dem kalten Fußboden, ich deckte ihn zu. Ich verfluchte das primitive Hotel. Endlich ließ er sich überzeugen, ins Bett zu gehen. Er flehte mich an, ihn nicht zu verlassen, das könne ich doch nicht mit ihm machen. Er war mittlerweile fix und fertig und ich bat ihn, erst einmal zu schlafen und versprach, dass wir am Morgen über alles in Ruhe reden würden. In mir arbeitete es die nächsten Stunden. Wie würde es jetzt weitergehen? Drei Tage standen uns noch bevor. Was sollten wir unseren Freunden sagen? Und Jens wird enttäuscht sein, dass ich nicht stark geblieben war. Diese Grübeleien und die Angst vor einem neuen Zusammenbruch ließen mich wach bleiben. Holger schlief vor Erschöpfung ein.

Auf einmal war alles anders. Die Wahrheit war endlich raus, mein Doppelleben vorbei. Ob er mich ohne Weiteres gehen ließ? Würden meine Eltern und meine Kinder mich verstoßen? Musste ich sofort ausziehen, schmiss er mich gar raus? Ließ er sich morgen alles in Ruhe erklären oder würde er stur und wütend sein? Wurde er jetzt krank oder übertrieb er, um Mitleid zu erzeugen?

Ich musste abwarten, was auf mich zukam. Mit dieser Nacht begann ein neuer Lebensabschnitt, er war ungewiss, aber endlich hatten das Versteckspiel ein Ende und der Betrug, so hoffte ich sehr.

Kapitel II

Als er aufwachte, machte er einen verwirrten Eindruck, als müsste er überlegen, was passiert war. Ich fragte ihn, wie es bis zum Abflug weitergehen sollte. Hierfür hatte er sofort eine klare Antwort. Er wollte auf keinen Fall, dass jemand etwas davon erfuhr. Aber er wollte auch nicht aufstehen, frühstücken gehen oder sich am Tagesausflug beteiligen. Das verstand ich. Alles war auf einmal anders! Doch waren wir unseren Freunden eine Erklärung schuldig, wenn wir uns absonderten. Sollte also das Versteckspiel weitergehen? Nein, niemals. Wenn ich das zuließ, hätte ich verloren. Ich bestand darauf, Anett alles zu sagen. Wir waren nun mal auf dieser Insel aneinander „gefesselt“, wir waren gemeinsam hierhergekommen und nur gemeinsam ging es wieder zurück. Widerwillig stimmte Holger zu und wir baten Anett aufs Zimmer. Sie dachte, es handele sich um Holgers Beschwerden vom Vortag. Holger erklärte ihr mit gehässigem Ton, dass ich ihn im Stich lassen würde. Ich unterbrach ihn und weihte sie bemüht sachlich in die Situation ein. Anett war geschockt und schnauzte mich an:

„Das glaube ich nicht, von allen hätte ich das gedacht, aber nicht von dir, Martina. Ich bin so enttäuscht von dir. Gerade du. Deshalb bist du so dünn geworden? Ich kann dir nur sagen, so einen wie Holger findest du nie mehr und du wirst diese Entscheidung bitter bereuen. Überlege dir das noch mal.“

Wütend verlangte sie von mir, es den anderen zu sagen und nicht feige zu sein. Sie versuchte, Holger etwas zu trösten und ging dann zum Frühstück. Zu Holger sagte ich, dass ich kurz runter ginge und im Anschluss Jens anriefe, um ihm zu sagen, was passiert sei. Da er das nicht verhindern konnte und Anett nun eingeweiht war, brach er wieder zusammen und krümmte sich im Bett. Hasserfüllt meinte er, ich solle tun, was ich für richtig halte.

Im Frühstücksraum war voller Betrieb. Aber das war mir egal. An den Blicken von Bernd, Rita und Volker konnte ich erkennen, dass Anett bereits alles erzählt hatte. Volker sagte gar nichts dazu. Bernd dagegen sprach seine Verachtung aus. Dann stand ich auf und ging nach draußen. Ich wollte es Jens sagen, obwohl er mir jetzt auch nicht helfen konnte. Was nun von meiner Familie und meinen Freunden auf mich zukam, war meine alleinige Angelegenheit. Schließlich war es mein Vorleben und ich war verantwortlich, es zu bereinigen. Jens war an diesem Tag arbeiten, meine Mitteilung erschreckte ihn. Ich versuchte mich zu verteidigen: „Jens, ich konnte es nicht mehr verbergen und ich bin froh, dass die Wahrheit endlich raus ist, egal was jetzt kommt.“

Vielleicht hatte er sogar geahnt, dass nichts mehr aufzuhalten war. Ich möge auf mich aufpassen und könne immer anrufen, wann ich wolle. Es war ein kurzes Gespräch gewesen, angsterfüllt ging ich zurück zu Holger ins Zimmer.

Er lag immer noch im Bett wie abwesend, wollte auch nicht reden. Mit Mühe brachte ich ihn dazu, einen Schluck Wasser zu trinken. Anett kam und sagte uns, dass sie ein Auto da lassen wollten, falls wir zum Arzt müssten. Holger war nicht zu bewegen aufzustehen, also legte ich mich auch wieder hin und versuchte, etwas zu schlafen. Aber wir konnten doch nicht die nächsten zwei Tage im Bett verbringen. Ich bat Holger, mit mir an die Luft zu gehen, damit sein Kreislauf sich stabilisierte. Widerwillig zog er sich an, wir gingen hinaus auf die Promenade. Er hielt es nicht lange aus, ihm sei schwindlig, er müsse sich wieder hinlegen. So ging es den ganzen Tag, hoch ins Zimmer, runter auf die Straße. Nachmittags überzeugte ich ihn, an den Strand zu gehen und uns in den Sand zu legen. Kaum saßen wir auf der Decke, hielt er die Sonne nicht aus und wir packten zusammen. Ab und zu fragte er, wie so etwas hatte passieren können. Aber er ließ nichts an sich heran. Er sagte immer wieder: „Du wirst mich doch nicht verlassen, das geht nicht, wir gehören zusammen. Tu das nicht deinen Kindern und deinen Eltern an.“

Meine Schuldgefühle und das Mitleid wurden von Stunde zu Stunde größer. Dieses Häufchen Unglück neben mir war einst ein stattlicher Mann gewesen. Und ich hatte ihn dazu gebracht, dass er zusammengebrochen war! Es war meine Pflicht, ihm zu helfen. Das war die Strafe für mein „Ausrutscher“. Ich hatte ein einziges Mal in meinem Leben meinen Gefühlen freien Lauf gestattet, jetzt musste ich dafür büßen. Davon war ich mittlerweile überzeugt. Jens rutschte in ganz weite Ferne, umhüllt mit Trauer, und war für mich nunmehr unerreichbar geworden. Als Holger mein Mitleid bemerkte, klammerte er noch mehr an mir, wie ein kleines Kind. Er suchte Trost, wollte mit mir schlafen und ich ließ es geschehen aus Angst, dass er wieder zusammenbricht. Danach fragte er verstört: „Dürfen wir denn das noch?“

Dürfen, wollen oder alles geschehen lassen, es war doch so egal mittlerweile. Ich hatte zu nichts eine Meinung mehr. Als ich merkte, dass es ihm besser ging, wenn ich ihn tröstete und „bemutterte“, ging ich auf seine Forderungen ein. Ich versprach zwar nicht, bei ihm zu bleiben, aber ich widersprach auch nicht. So setzten wir uns am anderen Tag ins Auto und suchten uns einen Ort mitten im Lande aus. Zum Frühstück hatten wir kaum etwas gegessen und lediglich einen Apfel im Gepäck. Holger fuhr sehr unsicher, wollte mich aber keinesfalls ans Steuer lassen, denn das ging gegen seine Mannesehre. Das Landesinnere war nichts Besonderes und auch die Stadt, die wir ausgesucht hatten, bot keine Attraktion. Deshalb hielten wir auf einem Hügel neben einer Orangenplantage mit Blick auf das Stadtzentrum. Der Boden war staubig und mit Unkraut überwuchert, das einzige Schöne war der Ausblick. Wir saßen im Auto und diskutierten, später standen wir draußen, weil es immer heißer wurde. Es war ein sehr vernünftiges Gespräch. Holger hörte mir zu und machte keine Vorwürfe, ich konnte mich nicht erinnern, wann wir jemals so geredet hatten. Ich erzählte ihm, was ich vorhatte und dass mein Brief bereits fertig war und beichtete, wann ich ihn mit Ausreden belogen hatte. Ich äußerte meine Vermutung darüber, was wir in unserer Ehe falsch gemacht hatten, was ich vermisst hatte, weshalb ich für etwas Neues empfänglich gewesen war. Aber auch Holgers Ansichten, wie er mich sah und sich deshalb verhielt, kamen ans Tageslicht. Er hatte geglaubt, ich sei für Zärtlichkeiten und Romantik zu kühl. Deshalb habe er mir nie zu zeigen gewagt, wie sehr er mich liebe. Wegen unseres Arbeitspensums, der knappen Freizeit, meines Drangs nach Perfektionismus hatten wir uns auseinandergelebt und uns immer mehr voneinander entfernt. Ich bewunderte Holger und war erstaunt, wie er reden konnte und all das erkannt hatte. Warum hatte er es nie ausgesprochen? Auf einmal fühlte ich mich zu ihm hingezogen wie noch nie in meinem Leben. Es loderte plötzlich die Hoffnung auf, dass es vielleicht doch nicht zu spät für unsere Ehe war. Holger legte mir dar, was passieren würde, wenn ich ihn verließ. Er redete sehr vernünftig und es leuchtete mir alles ein. Ein anderer Holger stand auf einmal vor mir. Diese Seite hatte ich bisher nicht von ihm gekannt. Wir sprachen darüber, wie es weitergehen sollte und überlegten, ob wir es nochmals versuchen könnten. Holger legte sehr viel Wert darauf, dass es außer unseren Mitreisenden niemand weiter erfuhr. Ich könnte es meinen Kindern und Eltern auf keinen Fall antun, denn sie gingen bestimmt kaputt an dieser Situation. Ich sah es mittlerweile genauso und versuchte, Jens aus meinem Gehirn zu verdrängen. Dass es Martina von Anfang an gewusst hatte, verriet ich Holger auch. Er war zunächst entsetzt und enttäuscht. Als er aber merkte, wie ich Martina verteidigte und einwarf, dass ihr nichts anderes übrig geblieben war als zu schweigen, lenkte er ein. Als es auf dem Hügel immer heißer wurde, fuhren wir zurück in die Stadt, um dort spazieren zu gehen. Essen wollte Holger immer noch nichts. Ich drängte ihn, wenigstens den Apfel zu essen. Er brach ihn in der Mitte durch und jeder aß die Hälfte. Als wir fertig waren, sagte er: „Haben wir uns jemals einen Apfel geteilt? Wir sind füreinander geschaffen, wir gehören zusammen. Bitte lass alles wieder gut werden. Wir machen alles anders ab sofort in unserer Ehe.“

Auch ich hatte wieder Hoffnung, dass mein Leben in die richtige Bahn zurückfindet. Holger offenbarte mir auch, dass er den Tod seiner Mutter nicht überwunden hatte und sehr oft auf den Friedhof ging. War er auf der Durchreise, hielt er oft an und schaute zum Grab. Ich war erstaunt und fragte ihn, warum er mir das nie erzählt hatte, sondern so tat, als sei es ihm egal? Er habe sich geschämt. – „Warum schämt er sich für seine Trauer und überspielte sie?“ Ich begriff das nicht, konnte aber jetzt nicht darüber nachdenken. Ich hatte in dieser kurzen Zeit unserer Gespräche so viel Neues über meinen Ehemann erfahren, wie er dachte, welche Gefühle er unterdrückte, dass er nicht so offen zu mir war, wie ich es immer gedacht hatte. Das alles musste ich erst einmal verdauen. Ich grübelte, was ich falsch gemacht hatte in all den Jahren. Warum er glaubte, seine Schwächen vor mir verbergen zu müssen.

Wir besuchten den kleinen Tierpark in der Stadt, er war nichts Besonderes. Aber wir unternahmen etwas, was wir all die Jahre nicht getan hatten. Wir waren nur für uns allein, ohne Freundeskreis. Holger lebte immer mehr auf und war bedacht darauf, viele Fotos zu schießen. Da er gern mit Selbstauslöser fotografierte, machte er mehrere Bilder mit uns zusammen und legte sehr viel Wert darauf, dass es aussah, als könnten wir uns nie trennen. Unsere Mitreisenden hätten wahrscheinlich die Welt nicht mehr verstanden, wenn sie diese Fotos zu Gesicht bekommen hätten nach all dem, was sie die letzten 36 Stunden miterlebt hatten. Der Ausflug endete damit, dass wir uns versprachen, alles zu versuchen, um unsere Ehe zu retten. Jens schob ich in diesem Moment ganz weit weg. Was mit ihm und mir würde, war jetzt nicht wichtig. Das war der nächste Schritt. Mit den anderen vier wollten wir am Abend über unsere Entscheidung reden.

 

Ich wollte Jens am Abend anrufen. Aber was sollte ich ihm sagen? Am Telefon konnte ich ihm doch nicht einfach an den Kopf knallen, dass Schluss war. So etwas sagt man persönlich. Also wollte ich mich mit ihm am Montag vor seiner Arbeit treffen. Mitternacht würden wir mit dem Flieger landen und wären gegen zwei im Bett. So könnte ich mich mit Jens um halb sieben genau in der Mitte zwischen unseren beiden Wohnorten treffen. Diesen Vorschlag unterbreitete ich Holger und bot auch an, dass er das Telefonat mit anhören könnte, falls er mir nicht glaube. Dann rief ich an. Als ich Jens’ Stimme hörte, ging es mir durch und durch. Ich merkte sofort, wie er sich um mich sorgte und sehnlichst auf diesen Anruf gewartet hatte. Mit keiner Silbe glaubte er, dass das Blatt sich gewendet hatte. Ich versuchte, seinen Fragen auszuweichen, erzählte ihm nur, dass ich mit Holger über alles gesprochen hätte und ihn, Jens, am Montag kurz treffen wollte. Er verstand dies alles nicht uns sagte: „Martina, was ist los? Was willst du mir denn sagen?“ Meine Worte klangen wie ein Hohn: „Jens, ich werde meinen Mann nicht verlassen. Lass uns am Montag darüber reden, wie alles weiter gehen wird.“ Laut erwiderte er: „Nein, Martina, das glaube ich nicht. Nach all dem, was wir erlebt haben und unsere Pläne …? Das kann doch nicht sein. Was haben die mit dir denn gemacht auf Mallorca?“ Wieder versuchte ich mich zu verteidigen: „Jens, bitte hör auf zu fragen. Ich lege jetzt auf. Tschüss bis Montag.“ Mein Herz raste und alles fühlte sich auf einmal so leer an.

Für meine Vernunft und für Holgers Wohlbefinden hatte ich nun den wichtigsten Schritt getan, aber mein Herz schien zu verbluten. Es tat mir so unsagbar weh, Jens mit so einer Nachricht zurückzulassen. Aber ich hatte es tun müssen. Nun begann die letzte Nacht, in 24 Stunden würden wir im Flieger sitzen, wir hatten keinen Notarzt gebraucht, Holger war halbwegs wieder fit.

Nach dem Frühstück reisten wir ab in Richtung Süden zum Flughafen. Wir kamen durch ein Fischerdorf. Holger genoss den Meeresblick und posierte wieder in trautem Familienglück für die Fotos mit mir. Martina schrieb uns gegen Mittag eine SMS und wünschte uns viel Glück. Die anderen vier aßen in einer Gaststätte zu Mittag, wir kamen nicht mit, wir hatten keinen Hunger und wollten für uns alleine sein. Dann kam von Jens eine SMS. Holger bewachte mein Telefon wie ein Schießhund. Sein Blick versteinerte sofort und die sich anbahnende Romantik war wie weggefegt. Ohne den Inhalt zu begreifen, löschte ich Jens’ Zeilen, um keinen Streit zu provozieren. Später ärgerte ich mich so sehr, dass ich es nicht mal gelesen hatte. Holger freute sich, er sagte: „Wir haben von Mallorca so gut wie nichts gesehen. Ich möchte mit dir ganz alleine hier nochmals herfliegen, wenn wir aus dieser Krise raus sind und unsere Ehe wieder funktioniert.“

Ja, in diesem Moment glaubte ich an ein Happyend.

Doch je näher wir dem Flughafen kamen, stieg in mir die Angst hoch vor der Zukunft zu Hause. Wie würde es weitergehen? Konnte ich Jens so einfach vergessen? Der Flug verlief planmäßig, genau um Mitternacht standen wir im Parkhaus vor unseren Autos. Alle gratulierten Holger zum 50. Geburtstag. Es war unheimlich, denn er freute sich nicht, sondern nahm verbittert die Wünsche entgegen mit der Bemerkung, dass es besser gewesen wäre, er hätte seinen 50. nicht mehr erlebt. Auch ich gratulierte ihm steif und unpersönlich, er war mir auf einmal vollkommen fremd. Gegen drei lagen wir endlich im Bett, um fünf musste ich aufstehen, um zu Jens zu fahren.

Dieser Termin war für mich der schlimmste Gang. Das Liebste und Wertvollste, was ich in meinem Leben erfahren hatte, musste ich in ein paar Stunden verstoßen. So sollte mein Schicksal sein, das war ich Holger schuldig für die vielen Jahre, die er für mich und seine Kinder geschuftet hatte. Vielleicht würde er ja tatsächlich zu mir so ähnlich werden wie Jens? Vielleicht hatte uns Mallorca gezeigt, wie es anders, liebevoller und gefühlvoller sein konnte? Holger hatte ich doch auch aus Liebe geheiratet, ich musste mich nur anstrengen, dass alles wieder besser wird. Vor drei Tagen hatte ich Holger verstoßen, jetzt musste Jens dran glauben. Was bin ich denn nur für ein Mensch?

Die Autofahrt fiel mir so schwer. Je näher ich dem Verabredungsort kam, desto mieser ging es mir. Aber ich war auch froh, Jens zu sehen, die Sehnsucht war so groß. Jens sah schlecht aus, sein Gesicht war fahl und eingefallen. Ich versuchte, seinem Begrüßungskuss auszuweichen. Es war noch kalt draußen, wir setzten uns in mein Auto. Ängstlich flehte ich ihn an, dass er es bei sich zu Hause nicht offenbaren sollte und wenigstens seine Ehe nicht versaut würde. Er fing an zu weinen und sagte: „Martina, willst du es immer noch nicht begreifen? Ich liebe dich! Ich brauche dich! Wir wollten uns nie mehr loslassen! Was soll ich denn zu Hause noch retten? Ich will so nicht weiterleben. Soll ich mir von einer Frau, die ich nicht liebe, nur noch die Wäsche waschen und das Essen kochen lassen? Das wäre doch unfair. Lieber wohne ich alleine und mache ihr den Weg frei für ein neues Leben! Wir haben uns jetzt eine Woche nicht gesehen und du hast dich um 180 Grad gedreht, gibt es denn so etwas überhaupt? Was haben die denn mit dir gemacht?“

Da erzählte ich ihm, was auf Mallorca geschehen war und dass ich eingesehen hätte, dass ich es nicht übers Herz bringen würde, Holger zu verlassen.

Auf dem Rückweg kaufte ich Brötchen und Geburtstagsblumen, drei gelbe Chrysanthemen. Holger lag noch im Bett, wehleidig und beleidigt, weil ich weg gewesen war, er wollte nicht frühstücken. Er fragte barsch: „Hast du es beendet? Ist jetzt endlich Schluss mit dem Kerl?“

Als ich ihm erzählte, dass wir am Donnerstag besprechen wollten, wie wir künftig miteinander umgingen, sackte er zusammen. Nach langem Betteln stand er zum Frühstücken auf, legte sich aber danach sofort wieder hin mit der Begründung, dass es ihm schlecht gehe. Nachmittags wollten die Eltern zum Gratulieren kommen. Ich wusste nicht, wie er sich verhalten würde, ob er den Besuch empfing, ob ich etwas zum Essen vorbereiten sollte oder ob alles ausfiel. Zum Mittagessen kroch er endlich aus dem Bett und tat, als ob die Welt völlig in Ordnung sei, war liebevoll ohne Vorwürfe. Er war wie umgewandelt, ich zweifelte schon an mir selbst, ob ich nur einen bösen Traum gehabt hatte. Dann verlangte er von mir, dass wir den Brief, den ich für ihn vorbereitet hatte, gemeinsam auf dem Grill verbrennen. Er wollte ihn nicht lesen. Mit diesem Ritual sollte das Geschehene der Vergangenheit ausgelöscht werden, er würde mir verzeihen und es entstehe damit der Neubeginn unserer Ehe. Er war wie besessen, den Grill für diesen Zweck anzuzünden, ich traute mir keine Widerrede. Als die Verwandtschaft da war, schwärmte er vom Urlaub, als sei es unser schönstes Erlebnis gewesen. Ich verhielt mich ruhig und glaubte schon fast selbst daran, was er zum Besten gab. Als alle wieder weg waren, zeigte er ein völlig anderes Gesicht, wurde wieder wehleidig und ließ mich spüren, was ich ihm gesundheitlich für Schaden zugefügt hatte in den letzten Tagen.

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